Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten


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des Vaters, es komme eine neue Mutter, als Freudenbotschaft beschrieb und die Vermittlung Schupplis ausführlich darstellte, wusste 1916 noch nicht, wie sein Vater seine zweite Frau kennengelernt hatte. Die Vermittlung Schupplis wurde erst im Nachhinein, wohl von Caroline, erzählt. So wird auch im Nekrolog des Vaters nur erwähnt, dass Johannes Schnyder in Caroline eine treue Lebensgefährtin und gute Mutter für die Kinder gefunden habe.142 Auch in Lillys Lebensbild des Vaters, das kurz nach dessen Tod entstand, kam die zweite Frau des Vaters nicht über die Position der verständigen Mutter hinaus. Zusätzlich betonte Lilly, der Vater habe das Bild von Sophie Schnyder-Peyer nach dem Einzug Carolines bei den «Grossen» über die Betten gehängt und sie dazu angehalten, ein warmes Andenken an ihre verstorbene Mutter aufrechtzuerhalten.143 Die älteren Kinder verband etwas mit dem Vater, das er nicht mit seiner neuen Frau teilen konnte oder wollte. Diese Symbiose drückt sich auch im von den Kindern immer wieder zitierten Gang an der Hand des Vaters aufs Grab der verstorbenen Frau aus: Bevor Johannes Schnyder zur Hochzeit nach Olten fuhr, sei er mit seinen Kindern auf das Grab der Mutter gegangen und habe mit ihnen dort gesungen. Seit da, so schreiben Ernst, Lilly und Sophie, habe man sich jedes Jahr gemeinsam beim Grab der Verstorbenen versammelt. Der Vater schien selbst sehr intime Bereiche innerhalb des Hauses weniger mit seiner Frau gepflegt zu haben, als man dies erwarten könnte: So schlief der oft unter Kopfweh Leidende nach Lillys Aussage in den letzten Jahren in Zofingen bei seinen älteren Kindern im unteren Stock, da es auf der Etage des Elternschlafzimmers, wo sich auch die Kleinen befanden, unruhig war.144 Ähnlich berichtete Sophie, dass der Vater das Zimmer mit seinen Söhnen teilte und oft abends noch bei den nebenan schlafenden grossen Mädchen, zu denen sie als Älteste auch zählte, gute Nacht sagte, sie tröstete oder ihnen Wasser brachte.145 Zudem schrieb Sophie ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter ihrem Namen zu, welcher den Vater an seine verstorbene Frau erinnerte.146 Eine Enkelin Johannes Schnyders meinte: «Was ich meinem Grossvater fast nicht verzeihen kann, ist, dass er an seiner Abschiedspredigt in Zofingen verkündete: ‹Hier ruht das Weib meines Herzens›, während Caroline mit ihren Kindern in der ersten Reihe, unter der Kanzel sass.»147 Das Fehlen von Beschreibungen eines partnerschaftlichen Verhältnisses von Caroline und Johannes, das zur notwendigen Lebensbewältigung in grossen Pfarrhäusern gehörte, verweist darauf, wie schwierige Situationen durch das Nicht-Beschreiben ausgespart und verwischt wurden.148

      Caroline Schnyder trat nicht nur eine anspruchsvolle Aufgabe an, sondern heiratete auch in eine emotional schwierige Situation hinein. Sei es, dass der Pfarrer sich der neuen Frau gegenüber distanziert verhielt, sei es, dass die Kinder sich vor allem an den Vater schlossen, oder beides; für die junge Frau, die in ihren ersten Ehejahren fast ununterbrochen schwanger war, musste das neue Leben im Pfarrhaus in Zofingen hart gewesen sein.

      Damit Caroline die Aufgabe der Haushaltführung und der Kinderbetreuung bewältigen konnte, zog sie die Hilfe einer Haushälterin und – nachdem sie in kurzer Folge zum zweiten Mal schwanger wurde – die Hilfe ihrer Schwester Julie bei. Damit konnte sie einen Teil ihrer eigenen Familie in den fremden Haushalt mitnehmen und sich emotional etwas Sicherheit verschaffen. Der Wegzug vom Herkunftsort, wo ihr Name und ihre Verbindungen ihnen eine gewisse Position verschafften, war gerade für Frauen, die aus einer höheren gesellschaftlichen Schicht kamen, oft schwer zu verkraften.149

      Julie und Meieli, die beiden ledigen Frauen im Haushalt, waren «ganz zur Familie gehörig» und «zwei nicht zu verachtende erzieherische Faktoren im Familienleben».150 Die Haushälterin Meieli fing das fehlende haushälterische Wissen Carolines auf. Die treue Bedienstete arbeitete seit ihrem 15. Lebensjahr für die Familie Wyttenbach. Ihr Umzug ins Pfarrhaus in Zofingen schien nach der Auflösung der Geschwisterwohnung in Bern selbstverständlich. Ohne die erfahrene Haushälterin wäre die Arbeit für Caroline wohl kaum zu bewältigen gewesen. Während Sophie Schnyder-Peyer die Dienstmädchen in ihren Aufgaben betreute und sie gar noch zu erziehen suchte, wurden die Angestellten nun der Haushälterin Meieli zur Seite gestellt: «Meieli hielt die jungen Mädchen, die ihr zur Hilfe beigegeben waren, in strammer Zucht.»151

      Julie, die Schwester, die nach der Auflösung des Geschwisterhaushaltes «etwas unglücklich» bei einer Cousine wohnte, wurde zur Haustante, die im oberen Stübli im grossen Pfarrhaus wohnte und Zeit für die Kinder hatte:152 «Sie wurde so recht der Chummerghülf für das kleine Volk. Mit allen Bobo und Wehwehs kam man zu ihr; sie hatte in ihrem Zimmer die reinste Puppenklinik u. ihrer Kunst wurde von der kleinen gläubigen Gemeinde die unglaublichsten Dinge zugetraut. Tante Julie konnte alles wieder heilen und ganz machen, das war ein grosser Trost.»153

      Für Julie bedeutete dies, sich in einem neuen Haushalt einzuleben. Die Aufgabe, die sie übernahm, kam der eines Kindermädchens gleich: Sie machte Spaziergänge mit den Kindern, betreute sie beim Spiel und war daneben für das Stricken von Strümpfen und Socken zuständig.154 Inwiefern Julies Abhängigkeit als quasi Angestellte im Pfarrhaushalt ausgenützt wurde, kann nicht beurteilt werden. Julie sorgte nicht nur für die Kinder ihrer Schwester, sie bezahlte auch für ihr Stübchen regelmässig Logiskosten: «Eine ältere Schwester unserer Mutter stellte als Familientante ihre Kräfte und ihre pekuniäre Hilfe zur Verfügung; denn bei dem relativ kleinen Pfarrgehalt und einer so vielköpfigen Familie hiess es sparen.»155

      Aus verschiedenen Quellen wird klar, dass das Geld Julies ein wichtiger Faktor in der Haushaltrechnung der Pfarrfamilie war. Weshalb Julie über Geld verfügte, wird nirgends erwähnt. Eventuell war sie, da sie als etwas behindert galt und keinen Beruf erlernt hatte, von den Eltern mit einem grösseren Erbe ausgestattet worden.

      Mit dem Einzug der neuen Mutter hatte sich für die Geschwisterschar der Kreis der direkt zur Familie Gehörenden gewaltig geweitet. Julie und Meieli lebten zusätzlich im grossen Haushalt. Die Schwester Rosa, die in Augsburg mit einem Pfarrer verheiratet war, jedoch kinderlos blieb, kam bei allen Schwierigkeiten, bei Geburten und während der Ferienzeit zu Caroline. Gleichzeitig blieben die Kontakte zur Familie von Sophie Schnyder-Peyer bestehen und bildeten einen wichtigen Bestandteil des Verwandtenkreises, vor allem im Beziehungsnetzwerk der Kinder aus erster Ehe.

      Die besondere Begabung und Aufgabe Carolines war die Erziehung der Kinder. Sie pflegte die Kleinen, sie förderte die Grösseren, und sie war, gemeinsam mit ihrem Mann, zuständig für die Schulbildung und für die Karriereplanung der Kinder. Der Einfluss der Mutter war – dank ihrer Berufsbildung und ihrer Erfahrungen in der französischen Schweiz und in Deutschland – schon zu Lebzeiten ihres Mannes wirkungsmächtig: Ihre Stieftochter Lilly besuchte noch unter Schuppli die Neue Mädchenschule und Hanny ebenda das Kindergärtnerinnenjahr. Caroline war auch Beraterin ihrer Stiefsöhne in Lerntechniken: So gab sie ihrem Ältesten im ersten Studienjahr in Neuchâtel regelmässig Tipps, wie er sich das Französische am schnellsten aneignen könne, und korrigierte die französischen Briefe ihrer im Welschland weilenden Söhne und Töchter. Nach dem Tod Johannes Schnyders blieb Caroline Schnyder bei Fragen der Berufsbildung und der Karriereplanung erste Ansprechpartnerin für die Kinder.

      

23 Familie Pfarrer Schnyder-Wyttenbach, Zofingen um 1891. Stehend: Hanna, Lilly, Rosa Walter-Wyttenbach, Julie Wyttenbach, Hedwig und Hans. Sitzend: eine Magd mit Gertrud auf dem Schoss, Caroline Schnyder-Wyttenbach, Johannes Schnyder, Sophie. Vorne: Mart

      23 Familie Pfarrer Schnyder-Wyttenbach, Zofingen um 1891. Stehend: Hanna, Lilly, Rosa Walter-Wyttenbach, Julie Wyttenbach, Hedwig und Hans. Sitzend: eine Magd mit Gertrud auf dem Schoss, Caroline Schnyder-Wyttenbach, Johannes Schnyder, Sophie. Vorne: Martha, Karl, Rosa.

      Während die Aufgaben Carolines als Mutter und Erzieherin in allen Quellen beschrieben werden, ist nur ganz wenig über ihre Tätigkeiten als Pfarrfrau, die ihrer Stellung nach vielfältig sein mussten, bekannt. Sicher rechnete Johannes Schnyder mit der Hilfe seiner Frau Caroline in der Gestaltung des Kirchengesangs. So übte sie die Lieder für die Morgen- und Abendandacht erfolgreich mit ihren Kindern ein und begleitete während der Andacht die Familie.156 Diese Aufgabe hatte innerhalb der Gemeinde durchaus ihre Wichtigkeit, bildete doch die Pfarrfamilie eine Art festen Bestandteil des Kirchengesangs während der Predigt.157 Ob sie Sonntagsschule unterrichtete, Orgeldienste übernahm oder