Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten


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      25 «In cruce spes.» Grab von Frau Pfarrer Schnyder-Peyer und ihrem Sohn Paul in Zofingen.

      Wie bereits oben erwähnt, blieb das tote Kind bis zum Tod der Mutter im Haus. Die Leichen wurden in einen gemeinsamen Sarg gelegt. In seinen Memoiren schrieb Ernst über die Beerdigung der Mutter: «Ich erinnere mich noch gut, wie ich an der Hand meines tief gebeugten Vaters zum Friedhof hinauswanderte. Und oftmals in den folgenden Jahren nahm uns der Vater mit an das Grab unserer Mutter und wir sangen dort das Lied: ‹Der Pilger aus der Ferne, zieht seiner Heimat zu.› »182

      Der Gang zum Grab und das Singen des immer gleichen Liedes wurden zu einem wichtigen Ritual für die ganze Familie. Nicht nur gaben sie dem Einzelnen Trost, sondern sie schufen auch ein Gefühl der Verbundenheit mit den Geschwistern und mit der Verstorbenen. So schrieb Hedy mit 15 Jahren aus Môtiers, wo sie in Pension war, an ihren älteren Bruder Ernst, der in Neuenburg sein Theologiestudium begonnen hatte: «Am 17. Juni ist der Todestag von Mama, weisst Du’s noch, ich schicke wenn ich kann einen Kranz oder Blumen heim für aufs Grab. Das ist das erste Mal, dass ich an dem Tage nicht zu hause bin und nicht auf das Grab gehen kann. Das macht mich traurig, ein ganzes Jahr das Grab nicht zu sehen. Wie oft bin ich letztes Jahr wenn ich traurig war oder wenn Lilly mir fehlte auf das Grab gegangen und habe mich ausgeweint und wenn ich zurück kam fühlte ich mich wieder gestärkt. Hier wollte ich manchmal, ich hätte ein Grab um mich zu trösten. Wie gern wollte ich unsere liebe l. Mama lebte noch; aber es ist vielleicht besser so und wir haben wieder eine so liebe Mama die uns so treulich liebt und für uns sorgt, dass es unrecht wäre, sich zu beklagen, es kommen mir nur manchmal solche Gedanken, die sich dann verfolgend ausbreiten, besonders Abends im Bett.»183

      Hedwig war beim Tod ihrer Mutter fünfjährig. Für sie waren die älteren Geschwister und das vertraute Umfeld, in welchem sie sich zumindest noch am Grabe mit der Mutter austauschen konnte, wichtiger Identifikationspunkt und Überlebensstrategie in der immer grösser werdenden Schar der Stiefgeschwister. Mit der Platzierung im Welschland war sie weit entfernt vom Grab der Mutter, für welches sie nur noch «einen Kranz oder Blumen» senden konnte. Die Sehnsucht nach den fehlenden Geschwistern konnte sie nur mit Briefen stillen.

      Wie stark der Tod der ersten Frau Johannes Schnyders sich auch auf die Kinder aus zweiter Ehe auswirkte, kann nur erahnt werden. Es ist sicher, dass Caroline Schnyder-Wyttenbach eine sehr gute und nahe Beziehung zu ihren Stiefkindern pflegte. Gleichzeitig scheint die Beziehung des Vaters zur neuen Frau im Schatten der ersten Liebe gestanden zu haben. Dies wurde bereits in der Darstellung der Rolle Carolines als Mutter gezeigt. Sophie, die erste Tochter aus zweiter Ehe, gewichtete die Tatsache schwer, dass sie den Namen der ersten Frau trug: «Ich bin am 19. Dez. 1882 in Zofingen als das erste Kind aus zweiter Ehe meines Vaters Johannes Schnyder mit Caroline Wyttenbach, Lehrerin von Bern geboren. 5 kleine Kinder aus erster Ehe nötigten ihn fast, sich bald wieder zu verheiraten und so glaube ich, dass meine Mutter zu Anfang wohl öfters empfand, dass mein Vater noch viel an seine erste Frau dachte, deren Namen ich erhielt. Diesem Umstand schreibe ich es in der Hauptsache zu, dass ich von klein auf nie recht das Gefühl hatte, als ob meine Mutter mich liebte und ich habe mit meinem heissen liebehungrigen Herzen viel darunter gelitten.»184

      Sowohl die zweite Gattin als auch deren erste Tochter litten unter einem Liebesentzug, der mit dem Tod der ersten Frau zusammenhing. Während Caroline sich wohl gewünscht hätte, ihr Mann würde sich ihr mehr zuwenden, und das kleine Mädchen, das nun mit dem Namen der Verstorbenen eine Art Wiedergeburt darstellte, vielleicht beneidete, litt Sophie unter dieser Missgunst ihrer leiblichen Mutter, während sie das grosse Vertrauen ihres Vaters genoss.

      Starb eine Frau nicht bei der Geburt und das Kind überlebte die ersten heiklen Wochen, so war die Chance immer noch gross, es an einer Krankheit zu verlieren. Das zweite Kind Carolines, das wie sein verstorbenes Brüderlein auf den Namen Paul getauft wurde, starb mit nur zwei Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung. Das Kind wurde auf dem Friedhof in Zofingen beigesetzt, und wieder fand die Familie Trost im Gesang am Grab: «Furchtbar schwer trug unsere Mutter und mit ihr das ganze Haus am Krankenlager und Tod des zweiten Bübleins, Paul, das 1884 geboren, schon 1886, im Herbst wieder heimgerufen wurde. Mutter hat jahrelang dem besonders herzigen und liebenswürdigen Knaben nachgetrauert und ihn nie vergessen ob dem wachsenden Kindersegen. Die Eltern haben uns oft um des Kleinen Grab versammelt und wir sangen im Chor des befreiten Seelchens Lieblingslied: ‹Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh?›, das der Kleine, ohne den Sinn der Worte zu verstehen, in gesunden Tagen mitgesungen hatte.»185

      Die Seele des Kleinen wurde als «befreit» betrachtet, da sie schon im Himmel war und nicht mehr durch das irdische Jammertal gehen musste. Die Mutter litt aber sehr unter diesem Verlust und konnte wenig Trost in dieser Gewissheit finden. Der Umzug der Pfarrfamilie nach Bischofszell wurde für Caroline vor allem der Distanz zum Grab ihres verstorbenen Jungen wegen als besonders schwierig bezeichnet. Erst die Geburt des kleinen Walter in Bischofszell habe sie über das verwaiste kleine Grab in Zofingen etwas getröstet.186

      In den Memoiren von Ernst wie auch in den Erinnerungen an den Vater von Lilly und von Sophie wird der Tod des kleinen zweijährigen Bruders auch als schwerer Schlag für den Vater beschrieben. Der Tod des kleinen Bruders war auch für die überlebenden Geschwister ein einschneidendes Ereignis. Sophie, die gemeinsam mit dem Verstorbenen an Lungenentzündung erkrankte, jedoch davon wieder gesund wurde, beschrieb das plötzliche Verschwinden des Spielgefährten als traumatisches Erlebnis: «Ich bekam bald ein Brüderchen, an dem meine Mutter furchtbar hing. Wir wurden beide zusammen krank an Lungenentzündung und er starb, als er etwa 3 und ich 4 Jahre alt war und ich suchte nachher meinen kleinen Spielkameraden im ganzen Haus und meine Mutter wollte sich nicht trösten lassen.»187

      Interessant ist die Tatsache, dass die Namengebungen der Kinder Bindungen und Erwartungen mit sich brachten. Diese Tatsache trat beim Weitergeben des Namens eines verstorbenen Menschen besonders stark hervor. So empfand Sophie ihren Namen als Hindernis, von ihrer eigenen Mutter geliebt zu werden. Mit ihrem Namen war sie Trägerin der vergangenen Liebe des Vaters geworden, die für die neue Frau unzugänglich war. Der kleine Junge Paul, der den Namen des verstorbenen Säuglings der ersten Frau erhielt, war die grosse Hoffnung Carolines. Der neue Paul hätte den Gatten über den verstorbenen Paul der ersten Frau wegtrösten können.188 Sein Tod scheint für Caroline zu einer nicht wieder gutzumachenden Tragödie geworden zu sein: Sie wollte sich nicht trösten lassen. Diese Haltung war innerhalb des pietistischen Gedankenguts wenig gläubig, da sie damit nicht den Willen Gottes akzeptierte, sondern ihren Schmerz um den Verlust des Kindes in den Vordergrund stellte. Der untröstliche Schmerz um den Verlust des Kindes mag auch Spiegel der sinkenden Kindersterblichkeitsrate des ausgehenden 19. Jahrhunderts sein. Besonders deutlich zeigt sich dies am Tod des ersten Kindes von Luise und Ernst, dem Ältesten. Es starb 1906, nur wenige Wochen alt, an einer Lungenentzündung. Das kleine Mädchen war eine Frühgeburt, die Überlebenschancen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch gering, vor allem in den kalten Wintermonaten: «Sie war zu früh gekommen, musste sehr sorgfältig warm gehalten werden. An einem Sonntag, wo der elektrische Strom, ohne dass wir es wussten, abgestellt wurde, erkältete sich das Kind, wurde krank und starb in der Nacht vom 25./26. Dezember. Luise bekam hohe Fieber, der Arzt musste täglich kommen. Das war unsere erste, gemeinsame Weihnacht.»189

      Das Kind wurde auf dem Friedhof beigesetzt, nur der Bruder der Gattin Luise und dessen Ehefrau nahmen an der Beerdigung teil: «Willy hatte dasselbe erlebt mit seinem ersten Kind.»190 Das junge Paar stärkte sich mit schon erfahrenen Eltern, die wussten, in welcher Verfassung sich Luise und Ernst befanden. «Die Fortschritte der Kindermedizin, die Aufklärung über die Funktion von Ernährung und Hygiene und nicht zuletzt die sanitarischen Untersuchungen der Schulkinder trugen wesentlich zur sinkenden Kindersterblichkeit des späten 19. Jahrhunderts bei. Im protestantisch-industrialisierten Milieu galten kranke oder sterbende Kinder zunehmend als Hinweis auf ein Versagen der Eltern.»191 Dementsprechend wurde es in Ernsts Beschreibung wichtiger, zu erklären, weshalb sich das Kind erkältet hatte, als Gottes Wille zu betonen. Die Erklärung allerdings mutet eigenartig an: Der elektrische Strom hatte ausgesetzt. Das Versagen des vollkommen neuen technischen Hilfsmittels, das offenbar bereits zur Erwärmung des Frühgeborenen