Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten


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Schuldgefühl führte, kann hier nicht beurteilt werden.192 Auch Hans und Hedwig Schnyder-Häberli auf der Post in Bischofszell hatten den frühen Tod eines kleinen Sohnes zu beklagen. Die jüngste Tochter, Beth Werner-Schnyder, erinnerte sich noch im hohen Alter daran, dass ihre Eltern den Verlust des Sohnes nie verwunden hätten. «Kein Geburtstag und kein Todestag wurden je vergessen.»193

      Während der Verlust der Frau oder eines Kindes schmerzhaft war, riss der Tod des Pfarrers eine Lücke, die nicht durch einen angeheirateten Ersatz geschlossen werden konnte, sondern eher durch ältere Geschwister und Verwandte abgefedert werden musste. Der frühe Tod eines Landpfarrers löste allgemein das ganze Familienleben auf. Das Pfarrhaus musste verlassen werden, und die Zukunft war, da kaum Absicherungen für Alte und Hinterlassene existierten, höchst problematisch.194

      Das Pfarrhaus war vor allem in ländlichen Gegenden die Stadt im Dorf, wo ein exemplarischer Ausschnitt städtischer, bürgerlicher Lebenswelt sichtbar wurde.195 Bildung, Sprache und gepflegte Umgangsformen zeichneten das Pfarrhaus aus und unterschieden es von den anderen Häusern. «Bilder und Bücher, Kunst und Dichtung, Musik und Gespräch füllen das aparte Haus aus, sie sind die Accessoires der zugleich religiösen wie bürgerlichen, der in zweifacher Weise exemplarischen Familie.»196

      Liedtexte waren, wie auch Bibelsprüche und berühmte Stellen aus literarischen Werken, dauernde Begleiter der Geschwister. In Briefen, in Tagebüchern und in Gedichten, in Lebenserinnerungen und in Nachrufen wurden sie zur Illustration von Situationen, als Trostspender oder als stärkende Hilfeleistungen zitiert. Zum Repertoire gehörten in erster Linie Bibelzitate und die Lieder des Gesangbuches. Dies erstaunt nicht weiter, wenn Lilly erklärt, jedes Kind habe gemeinsam mit Caroline einen Bibelvers pro Woche auswendig gelernt, um dem Vater eine Freude zu machen.197 Das Kirchengesangbuch war das erste Liederbuch der Kinder. Neue Auflagen von Gesangbüchern wurden in Briefen kritisch diskutiert, gestrichene Lieder schmerzlich vermisst. Dazu kamen umfassende Kenntnisse der grossen klassischen und romantischen Komponisten, Dichter und Schriftsteller. Die mit der Rezeption dieser kulturellen Werte verbundenen und vom Zeitgeist geprägten Idealvorstellungen verweisen darüber hinaus auch auf den persönlichen und individuellen Wunsch nach Eintracht, Einklang und Harmonie.198 Die Musik und die Literatur waren den Geschwistern heilig; wenn der Vater, später der jüngste Sohn, den Geschwistern aus Büchern vorlas, wenn die Mutter erzählte, wenn gemeinsam musiziert wurde. Dabei hörten Schwestern, Mutter oder Gattin mit einer Handarbeit in den Händen zu. Eine Schülerin von Walter Schnyder beschrieb das Glück dieser bildenden Harmonie: «Ich han au törfe zus Dr. Schnyders hei. Lang hani vo do a jede Dunschtig törfe zuenene amene Abig. Dänn hätt er vorgläse und sini Frau hätt glismet oder gflickt. Ich weiss nüme, wie all die Büecher gheisse händ, woni so ha törfe känne lehre, es isch für mich alls wunderbar gsy. Und denäbe hätt er mer au d’Wält ufta zur Musig, zu de Schubertlieder, zur Italienische Sinfonie vom Mendelssohn, won er mit eme Nachbarspurscht zäme vierhändig gspillt hätt i einer Begeischterig.»199

      Die tief beeindruckte Schülerin, die selbst aus ärmeren Verhältnissen stammte, empfand dieses Familienidyll als totale Harmonie. Der gebildete und tätige Mann war auch nach Feierabend für das Geistige zuständig, indem er seiner Familie vorlas. Derweil legte seine Zuhörerin, die Gattin, ihre Hände nicht müssig in den Schoss, sondern beschäftigte sich mit Handarbeiten. Ein bestimmtes Repertoire an Musik und Literatur bildeten die Attribute des gebildeten Bürgers, hier in besonders vorbildlicher Weise durch den Lehrer und Pfarrerssohn verkörpert.

      Musik und Literatur wurden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als bildende und erbauende Kräfte verstanden. So schrieb Hanna an ihren Bruder Ernst im Sommer 1944: «Kürzlich war der Generalsekretär des CVJM, ein Herr Schmid, hier, um uns zu erzählen, was er gesehen u. erlebt beim Besuch von Gefangenenlagern in Deutschland und uns Lichtbilder zu zeigen. Er zeigte uns auch Arbeiten Kriegsgefangener. Wie gut, dass man sich dieser Ärmsten annimmt u. ihnen Lektüre, Musikinstrumente u. dgl. verschafft.»200

       GESANG UND MUSIK ALS AUSDRUCK DES HERZENS

      «Hauptsächlich sangen wir gern zusammen und alle langweiligen Arbeiten verkürzten wir uns womöglich auf diese Weise. Es war überhaupt ein sangesfrohes Pfarrhaus, wo die Kinder fast singen konnten, ehe sie reden lernten. Jeden Morgen war es das erste, dass wir uns ums Klavier versammelten und ein Gesangbuchlied sangen. So ist z. B. ‹Die goldne Sonne› von klein auf eins meiner liebsten Lieder gewesen, sie verbreitete schon im Kinderherzen ein strahlendes Licht.»201

      Das Singen war innerhalb des evangelischen Pfarrhauses wohl der wichtigste musikalische Bestandteil. Durch die in der Familie regelmässig abgehaltenen Morgen- und Abendandachten verfügten die Geschwister Schnyder über ein grosses Repertoire an Liedern und Liedtexten. Das gesungene Wort, welches formelhaft das Leben regulierte und Sinn stiftete, spielte in der bürgerlichen Kultur im Allgemeinen und in pietistischen Kreisen im Besonderen eine zentrale Rolle.

      In der bürgerlichen Familie nahm Musik bis ins 20. Jahrhundert eine wichtige Stellung ein. Der gemeinsame Gesang oder das Musizieren am Klavier bedeutete nicht nur Harmonie, sondern liess zugleich Bildung und Vermögen sichtbar werden. Man hatte Geld, Musikstunden zu nehmen, man konnte sich ein Klavier leisten, man kannte mehrstimmige Werke und konnte diese interpretieren. Was vorher in den Salons der Adligen stattfand, nahm Einzug in den Stuben des Mittelstandes.202 So war es Johannes Schnyder ein Anliegen, sich das Klavierspiel anzueignen: «Papa hatte selbst grosse Freude an der Musik u. noch nicht so lange ist es her, da hat er es durch fleissiges Üben zu seiner Freude dahin gebracht, seine Lieder ganz ordentlich ohne Absätze, wie früher zu spielen, denn da hatte es oft minutenlange Pausen von einem Ton zum andern gegeben, bis er die Noten gelesen hatte.»203

      Auch veranstaltete die Familie kleine Hauskonzerte, «bei denen alle etwas leisten mussten. Papa sass dann sehr vergnügt auf dem Sopha.»204 Diese bürgerliche Familienidylle entsprach aber nicht dem musikalischen Alltag im Pfarrhaus, der vielmehr durch das Singen und Begleiten der Kirchenlieder während der Hausandachten geprägt wurde.

      Um die Bedeutung der Musik und des reichen Liedgutes in der Kultur des evangelischen Pfarrhauses besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Bestrebungen der Reformatoren. So war für Luther, dessen Leben von Pfarrer Schnyder seinen Kindern immer wieder geschildert wurde und der im religiösen Verständnis des Hausherrn eine wichtige Rolle spielte, der Kirchengesang Zeichen der hörbaren Einheit der im Glauben verbundenen Gemeinde.205 Die spezielle Förderung des Gesangs und der Musik in der Tradition der Reformatoren hatte auf die gesamte deutsche Musikgeschichte grossen Einfluss. Nicht nur die Werke Johann Sebastian Bachs, den man den fünften Evangelisten nannte, auch katholische Komponisten wie Beethoven und Bruckner verweisen darauf, dass die Musik hier über das Weltliche hinauswies. Sie sollte dazu verhelfen, Rätsel zu lösen oder Aufgaben zu bewältigen, die vom Menschen allein nicht zu begreifen sind.206 Komponisten wie Bach, Beethoven, Mendelssohn oder Schubert gehörten im musikalischen bürgerlichen Haus zum Kanon.

      Das Wort der Bibel und die Auslegung der Bibel standen im Mittelpunkt der reformierten Kultur. Eine interessante Beobachtung der Auswirkungen dieser Tradition im Gegensatz zur katholischen Tradition finden wir in der schwedischen Theologie: «Während der katholische Gottesdienst vorwiegend ‹visualisch› sei, das heisst das Auge des Besuchers anspreche, sei der evangelische Gottesdienst vorwiegend auditiv, das heisst, er wende sich vor allem an das Ohr der Gemeinde.»207 In der katholischen Messe entfalteten sich bis zum zweiten Vatikanischen Konzil 1964 vor allem die Künste, die sich an das Auge wenden: Malerei, Bildende Kunst, Architektur und das Schauspiel. Im Mittelpunkt des evangelischen Gottesdienstes steht die Predigt, das verkündigte Wort Gottes.208 Dazu kommt, dass mit der Aufgabe der Gemeinde, während des Gottesdienstes aktiv mitzusingen und sich so am «gesungenen Evangelium» zu beteiligen, eine allgemeine Musikerziehung stattfand.209 Es ist also nicht vor allem das geschriebene, sondern das gesprochene, das gesungene Wort, das Rezitieren und Vorlesen, alle Künste