Erst nachdem Caroline das Lehrerinnenpatent erworben hatte, wurde sie gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester in ein Pensionat in Aubonne geschickt. Danach war sie, wie auch ihre Schwester, als Erzieherin in Familien in Deutschland tätig. Es geht aus den Quellen nicht hervor, weshalb die beiden Töchter nicht als Primarschullehrerinnen arbeiteten, sondern als Privatlehrerinnen in Familien. Beide kehrten in die Schweiz zurück, als ihre Mutter im Sterben lag. Nun begannen sie an der Übungsschule bei Schuppli zu unterrichten. Caroline wohnte nach dem Tod der Mutter während vier Jahren mit ihren zwei Brüdern und ihren drei Schwestern als erwerbstätige Lehrerin in der Familienwohnung in Bern. Das Zusammenleben der erwachsenen Geschwister gestaltete sich nicht einfach, wie sich Schwester Rosa erinnerte: «Wir hatten jetzt nur noch ein Geschwisterheim; der Zusammenhalt und Rückhalt fehlte und die Brüder waren in einem Alter, wo sie sich von der älteren Schwester Marie, die nun an der Spitze des Haushaltes stand, nichts mehr sagen liessen und es stand bei ihnen nicht alles wie es sein sollte. Nach einigen Jahren des Zusammenlebens der Geschwister mussten wir uns trennen; unsere Wege führten auseinander.»127
Die Tatsache, dass die sechs Geschwister zu diesem Zeitpunkt alle noch nicht verheiratet waren und dass sie alle gemeinsam unter der Leitung der ältesten Schwester lebten, wird nirgends als eigenartig beschrieben.128 Die Beziehungen zu den Schwestern Rosa und Julie blieben im Leben Carolines bis zuletzt wichtigste Stützen. In die von Rosa beschriebene schwierige Zeit des Geschwisterhaushaltes fiel Direktor Schupplis Heiratsvermittlung für Johannes Schnyder. Ob die Lehrerin den Vorsteher über ihre Wohnverhältnisse ins Vertrauen gezogen und ihn um Rat gefragt hatte oder ob Schuppli Caroline aus eigener Initiative den Vorschlag machte, den um zehn Jahre älteren Pfarrer zu heiraten und dessen fünf Kindern eine neue Mutter zu werden, wird nirgends überliefert. Schuppli ging aber als eine wichtige Figur in Carolines Leben ein: «Sie hatte eine solch tiefe Ehrfurcht vor Direktor Schuppli, dass wir Kinder das Bild des Schulmannes, das in unserer Stube hing, stets mit Respekt betrachteten. Mutter sagte, sie verdanke ihm unendlich viel und sie sei mit den schwersten Fragen ihres Lebens zu ihm gegangen und hätte immer die richtige Weisung empfangen.»129
Das Auseinanderfallen des Geschwisterhaushaltes wird in der Darstellung Rosas zum ausschlaggebenden Punkt, sich zu verheiraten – alle mussten einen eigenen Weg gehen. Die Anfrage Johannes Schnyders kam in dieser Darstellung für Caroline zum richtigen Zeitpunkt. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, Caroline und Rosa gaben ihren Beruf für die Ehe auf, weil sie kein Zuhause mehr hatten, das ihnen die Rolle der «Tochter» oder «Schwester» erlaubte.130 Eine Heirat war in jedem Falle zu begrüssen, sah doch der bürgerliche Normenkodex die wahre Bestimmung der Frau in ihrer Rolle als Gattin und Mutter. Die Möglichkeit, einen Pfarrer zu heiraten, war für berufstätige Lehrerinnen attraktiv, da diese Aufgabe nicht nur prestigeträchtig war, sondern auch einen grossen Teil an öffentlicher Arbeit beinhaltete.131 So heirateten beide jüngeren Schwestern Wyttenbach einen Pfarrer, während die älteste, Marie, in das Diakonissenhaus in Bern eintrat. Julie zog nach einer Zeit bei Verwandten in den Haushalt ihrer Schwester Caroline. Die Heiratsvermittlung Caroline Wyttenbachs war Anlass für verschiedene Familienerzählungen. Die oben zitierte Darstellung Rosas fehlte in den mündlichen Überlieferungen gänzlich.
DIE NEUE FRAU PFARRER ALS BEGABTE PÄDAGOGIN
«An einem August-Sonntag des Jahres 1881 sagte uns der Vater, am Abend werde er uns eine Geschichte erzählen. Wir fragten: ‹Ist sie noch schöner als die Geschichte ,Rosa von Tannenburg’?› ‹Ja!›. Die Geschichte bestand in der Mitteilung, dass wir bald eine neue Mutter bekämen [...]. Grosser Jubel!»132
In den Erinnerungen der Geschwister Schnyder wird die Wiederverheiratung des Vaters immer wieder als Glücksfall beschrieben. Die Kinder waren froh, dass sie «eine neue Mutter» erhielten und damit das so genannte Interregnum, wie sie es später nannten, vorbei war.133 Die Hochzeit von Johannes und Caroline Schnyder-Wyttenbach wurde in Olten gefeiert, das Paar machte daraufhin eine Hochzeitsreise, wohl, um sich ohne Kinder etwas näher kennenlernen zu können. In Zofingen schien die junge Pfarrfrau mit ihren fünf Kindern Aufsehen erregt zu haben, so beschrieb Lilly, wie man die Köpfe nach ihnen umdrehte, wenn sie mit «der neuen Mama» durch das Städtchen gingen, was dem kleinen Mädchen gefiel.134 Während die Quellen vielfach bekunden, dass Caroline bald Zugang zu den Herzen der fünf Kinder fand,135 sind die wenigen Beschreibungen der Beziehung der Eltern etwas kühl. Betont wird, dass der Pfarrer Caroline sehr dankbar war, da sie nicht nur seinen Haushalt wieder zu einem Ganzen zusammenfügte und für die Kinder an die Stelle der verstorbenen Mutter trat, sondern auch seine Familie weiter wachsen liess.136
Für Caroline Wyttenbach musste der Schritt in die Ehe eine grosse Umstellung bedeutet haben: «Diesen wichtigen Schritt in eine ganz neue Lebenssphäre tat sie im Vertrauen auf Gottes Beistand und Hülfe im Jahr 1881 im Oktober. Sie gewann bald die Herzen der zwei Knaben und der drei Mägdlein, die ihr anbefohlen waren und gab sich redlich Mühe, sich in dem grossen Haushalt, der viele Anforderungen an ihre nur geringen Hausfrauenkenntnisse stellte, zurechtzufinden. Darin unterstützte sie eine aus dem elterlichen Haushalt in Bern übernommene goldtreue Magd.»137
«Gottes Beistand und Hülfe» waren von grosser Wichtigkeit bei ihrer Aufgabe, musste sie doch die erst vor einem Jahr verstorbene Frau Johannes Schnyders ersetzen, die mit ihrer Aufgabe im Pfarrhaus vertraut gewesen war. Zudem hatte die Organisation des Haushaltes im Leben Carolines bisher keine Wichtigkeit gehabt. Trotzdem wurde in mündlichen Familienerzählungen immer betont, Caroline sei glücklich gewesen, einen ‹Grossbetrieb› mit fünf Kindern übernehmen und weiter als Pädagogin wirken zu können. Ihre Kinder (gemeint sind die Schulkinder) hätten ihr sonst gefehlt.»138 Die Aufgabe, die Caroline als Mutter und Erzieherin bekleidete, ist diejenige, die in den Quellen immer wieder beschrieben wurde. Möglich ist, dass sie sich selbst vor allem in dieser Aufgabe verstand, als sie die fünf Kinder des Pfarrers Schnyder übernahm. Das weiter oben zitierte Bild des Seminardirektors Melchior Schuppli, das in der Wohnstube hing und den Kindern Respekt einflösste, erweckt den Eindruck, Caroline habe in seinem Sinn und unter seinem Schutz im Pfarrhaus weitergewirkt. Schuppli, der grosse Vertraute, schaute der jungen Pfarrfrau täglich aus dem Bilderrahmen zu.
21 Caroline Schnyder-Wyttenbach, um 1882.
Die Position Carolines an der Seite Johannes Schnyders war keine einfache. Während von Sophie Schnyder-Peyer bekannt ist, wie sie ihren Mann in seiner Arbeit unterstützte, wird dieser grosse Aufgabenbereich bei Caroline seltsam ausgespart. Eine der wenigen Quellen, die den Pfarrer und seine zweite Frau als Paar sichtbar machen, findet sich in Sophies Erinnerungen an den Vater: «Im Sommer sassen Papa und Mama oft im Garten unter dem grossen Kastanienbaum und wenn wir nah kamen, trieb er uns mit seiner Cigarre, deren Rauch er uns ins Gesicht blies, in die Flucht, die unter viel Gelächter geschah.»139
Dieses Bild, welches ganz dem Pfarrhausidyll der Romantik entspricht, wo sich Pfarrer und Pfarrfrau ebenbürtige Partner sind, die im Gespräch regen Austausch haben,140 fehlt in fast allen Quellen der Kinder. Ernst verfasste zum Geburtstag Carolines 1916 das «Lebensbild eines lieben Entschlafenen». Als ältester Sohn und Vertrauter des Vaters betonte er, die Beziehung des Vaters zu seiner ersten Frau und deren Ehejahre in Fehraltorf seien die wohl glücklichsten Tage seines Lebens gewesen. Dagegen nimmt sich die Darstellung, wie es zur zweiten Ehe kam, eigenartig spärlich aus: «Wie der Herr Pfarrer zu seiner Frau kam, wissen wir nicht mehr so genau, item, es war eine liebe, verständige Mutter, die im Oktober im Pfarrhaus Zofingen Einzug hielt und die 5 Waislein warm ins Herz schloss.»141
22 Die Kinder Hans und Lilly (stehend) und Hedwig, Hanna, Söphy, Ernst mit dem Brüderchen