Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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Lemme übergegeben. Mit diesem Schritt war ein neuer Umzug verbunden: an die Dreiengelgasse, die neben der Schrotdorfer Strasse verlief. Dort genoss er wieder mehr Freiheiten, und auch in der neuen Schule gefiel es ihm besser. Man hatte den Plan aufgegeben, ihn zum Gelehrten zu bilden. «Ich sollte da allenfalls soviel lernen, als nöthig, um Krämer oder Handwerker zu werden.»152

      Die Friedrichsschule an der Brandstrasse,153 die aus einer Lateinschule der Pfälzer-Kolonie hervorgegangen war, gehörte den reformierten Gemeinden Magdeburgs: der Deutsch-reformierten, der Wallonischen und der Pfälzer Gemeinde, die auch politisch eine eigene Administration besassen. Ihre Bürger waren Nachkommen jener protestantischen Flüchtlinge, die Kurfürst Friedrich Wilhelm gegen Ende des 17. Jahrhunderts aktiv in sein Herrschaftsgebiet holte. Nach den französischen Hugenotten, die 1686 in Magdeburg einwandert waren und die Französisch-reformierte Kirche gründeten, folgten 1689 Glaubensflüchtlinge aus Wallonien, die sogenannten Wallonisch-Reformierten. Sie waren vom französischen König aus ihrer Zwischenstation Mannheim vertrieben worden. Im gleichen Jahr erreichten auch Flüchtlinge aus der Pfalz die Stadt, welche den Stamm der Deutsch-reformierten Gemeinde bildeten.154 Im Jahr 1703 zählte die hugenottische Kolonie in Magdeburg 1375 Personen; sie war nach der Berliner Kolonie die grösste in Brandenburg-Preußen.155

      Die Friedrichsschule hatte vier Klassen, zwei obere für den Gymnasial-, zwei untere für den normalen Unterricht, und wurde von vier ordentlichen Lehrern geführt, einem Rektor, einem Konrektor, einem Subkonrektor und dem Kantor.156 Rektor Hüffer passte die Schule 1780 an die veränderten Bedürfnisse der Glaubensgenossen an. Sie diente fortan für «künftige Gelehrte, Kaufleute, Künstler, Handwerker und nützliche Bürger» und erhielt den Charakter einer Gesamtschule.157

      Heinrich Schocke, der ja lutherischen Glaubens war, wurde der untersten Klasse zugeteilt. Sein Lehrer war Friedrich Saladin Capsius, ein älterer Herr in geblümtem Schlafrock und gepuderter Perücke, ein erfahrener Schulmann, seit 1753 auch Kantor der Deutsch-reformierten Gemeinde.158 Er pflegte den traditionellen Unterrichtsstil und hatte einfache, zweckmässige Strafmittel, die für alle sichtbar auf dem Tisch lagen: drei Stöcke unterschiedlicher Länge und Dicke. Daneben lag ein Lasso, das er von seinem Platz aus zielsicher über den Kopf eines fehlbaren Schülers warf und ihn in gerader Linie über alle Bankreihen hinweg zu sich zog, um ihn seiner Strafe zuzuführen.159 Capsius muss sich zeitweise mehr als Dompteur denn als Lehrer vorgekommen sein, wenn in seinem Schulzimmer 50 bis 60 Knaben sassen. Da die Friedrichsschule gegen Ende des 18. Jahrhunderts nur 80 bis 100 Schüler hatte,160 müssen er und sein Mitlehrer Mors, der zugleich Organist an der deutsch-reformierten Kirche war,161 manchmal zwei Klassen gleichzeitig unterrichtet haben. Bei den Schülern sei Capsius beliebt gewesen, behauptete Zschokke, da er ein Gespür für sie hatte, und sie hätten ihm freudig gehorcht. Er wollte die Knaben bändigen, aber nicht demütigen oder brechen. Offenbar gelang es ihm besser als dem intellektuellen Rötger, ihnen klar zu machen, was er wollte und was nicht. Er machte nicht lang Federlesen und brauchte kein Reglement, um nachzuschlagen, welche Strafe für einen Verstoss gegen ein bestimmtes Schulgesetz vorgesehen war.

      Heinrich verstand sich gut mit Capsius – den zweiten Lehrer erwähnte er nicht –, das heisst, er merkte rasch, worauf es bei ihm ankam. Es erwies sich von Vorteil, dass er an dieser Schule noch einmal frisch einsetzen konnte, niemand seine Vergangenheit, seine Lügen und Mogeleien kannte und der Schulstoff noch einmal von vorne begann. Niemand lachte ihn wegen seiner Manieren aus, keiner fühlte sich besser als er. Die Friedrichsschule hatte eine gemischte Zusammensetzung; es gab unter ihnen Söhne einfacher Handwerker, Strumpfwirker und Tuchmacher, deren Umgang Heinrich ja vertraut war. Als Ex-Gymnasiast umgab ihn sicherlich ein gewisser Nimbus, und in manchen Fächern mochte er einen Vorsprung besessen und sich gewählter ausgedrückt haben.

      Latein wurde in der Quarta offenbar nicht gelehrt, jedoch in der Tertia, aber auch dort nur fakultativ. Französisch, Deutsch und Religion waren die Hauptfächer, während das Fach Mathematik marginal blieb und Geschichte, Geografie und Naturwissenschaften ein einziges Fach bildeten. Dafür wurden kaufmännische Kenntnisse vermittelt.162 Ein Schüler fiel besonders auf, weil er sich in wohlgeformten lateinischen Sätzen auszudrücken vermochte. Auf diese Weise hatte er die Gunst von Capsius erworben und erhielt die Erlaubnis, wenn er in Latein darum bat, während des Unterrichts hinauszugehen, wenn «Seiltänzer, Soldaten, die durch die Spießruthen liefen, Bären und Affen» in der Stadt waren.163

      Dieses Privileg reizte Heinrich mehr als alle Meritentafeln und öffentlichen Belobigungen der Basedowschen Pädagogik. Sein Ehrgeiz wurde geweckt, es dem Kameraden gleich zu tun, und obschon er vom Latein dispensiert war, liess er sich von dem Vorzugsschüler in die Geheimnisse dieser Sprache einweihen und büffelte beharrlich Grammatik und Vokabeln, bis er sich sattelfest genug fühlte, um dem Lehrer damit zu imponieren.

      «Vater Capsius, ob meiner plötzlichen Gelahrtheit erstaunt, prüfte mich anfangs zweifelnd; lobte mich dann; verkündete, aus mir werde etwas werden; und proklamirte mich feierlich, als seinen zweiten Lateiner mit allen und jeden einem solchen gebührenden Privilegien.»164

      So war nun auch die Schmach behoben, der ewige Sitzenbleiber und zum Lernen zu dumm zu sein. Es erstaunt nicht, dass Capsius von allen Lehrern, die Heinrich unterrichteten, trotz seiner gelinde gesagt primitiven Erziehungsmethode von ihm am meisten gelobt wurde.

      Ausser diesen Anekdoten erfahren wir nichts über Heinrichs Verweilen an der Friedrichsschule, nur dass er fleissig lernte. Auch hierin besass er ein Motiv, das mit der Schule wenig zu tun hatte. In Lemmes Haus arbeitete ein alter Invalider namens Krapp oder Krappe, der den Knaben – Heinrich Schocke, Gottlieb Lemme und Antoine Henri Faucher (Stiefsohn von Heinrichs jüngster Schwester) – die Abenteuer von Robinson Crusoe, von Albert Julius (aus Johann Gottfried Schnabels Roman «Die Felsenburg»)165 und von Robert Pierot166 so erzählte, als habe er selber sie erlebt.167 Als Krapp der Stoff ausging, war Heinrichs Durst nach Abenteuer-, Reise- und Seefahrergeschichten geweckt. Er fasste den Entschluss, selber Reisender zu werden, und um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, wenn es ihn in fremde Länder verschlug, sich möglichst viel Wissen und Kenntnisse über die Welt, die Sprachen und Sitten der Völker anzueignen.168 Er tat genau das, woran Rötger seine Zöglinge hindern wollte: Er frequentierte Leihbibliotheken und las Reisebücher und Romane, die ihn immer stärker in ihren Bann zogen. Es war eskapistische Literatur, und zeitlebens erholte sich Zschokke beim Schreiben und Lesen von Abenteuergeschichten; als gestandener Mann las er mit Vorliebe die Romane von Walter Scott und James Fenimore Cooper, während ihn die «hohe Literatur» der Klassik und Romantik kalt liess und Goethe und Jean Paul ihn zum Gähnen brachten.169

      Er war mit seiner Vorliebe für diese Art von Lektüre durchaus kein Einzelfall; die Trivialliteratur hatte den Büchermarkt erobert; Abenteuer- und Reisebücher lösten die theologischen und moralischen Schriften an Beliebtheit ab, gerade bei jungen Menschen, die in kein starres System von Familie und Kirche mehr eingebunden waren und sich selbst überlassen blieben. Rüdiger Safranski schreibt dazu:

      «‹Sich selbst überlassen› bedeutet für einen Bürgersohn des ausgehenden 18. Jahrhunderts in der Regel: den Büchern überlassen. In dem lesehungrigen und schreibwütigen Zeitalter beginnen die herkömmlichen Erziehungsmächte Elternhaus und Schule an Autorität einzubüßen. Die junge Generation geht auf Entdeckungsfahrt in die sich grenzenlos öffnende Welt der Literatur. Die Familien [...] können der Anziehungskraft dieser neuen Welt nichts entgegensetzen; ebensowenig wie die Schulen, in denen ein Bildungskanon gepflegt wird, den die junge Generation als hoffnungslos verstaubt empfindet.»170

      Mit zwölf legte Heinrich ein Tagebuch an, «welches nach wenigen Jahren, wie ich hoffte, an unglaublichen Begebenheiten überreich werden sollte».171 Es war nur eine Frage der Zeit, bis er selber beginnen würde, Geschichten zu schreiben. Eigentlich war die Weiche schon gestellt: Statt selber zu reisen wie Fritz, statt noch einmal zur Diamantensuche an den Oberlauf der Elbe aufzubrechen, fanden die spannendsten Reisen in seinem Kopf statt. Das Tagebuch verfehlte den Zweck, Abenteuer aufzuzeichnen – dazu passierte Heinrich in Magdeburg zu wenig Aufregendes –, führte aber «zu genauer Selbstbeobachtung», einer Aufnahme des Innenlebens.172 Hier wird neben