Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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Träumen, teuflischen Besitzungen, Wunderkuren, Prophezeyungen» und «theologische, juristische, medicinische und philosophische Abhandlungen über dergleichen Materien», die er exzerpierte und vollständig oder in Auszügen abdruckte und mit kritischen Kommentaren versah, um der Menschheit «Wahrheit in Begriffen, Licht im Verstande, Tugend im Herzen, Ruhe und Zuversicht in der Seele und ein vernünftigeres, Gott gefälligeres Christenthum» zu geben.206 Zschokke argwöhnte, dass Reichard vor dem Aberglauben, den er bekämpfte, selber nicht gefeit gewesen sei. «Man stäubet nicht leicht etwas aus, ohne dabei selbst etwas staubig zu werden.»207 In Zschokkes Erstlingsroman «Geister und Geisterseher oder Leben und frühes Ende eines Nekromantisten», dessen Hauptperson stark autobiografische Züge trägt, kommt Reichard ebenfalls vor.208

      Die Zeit der Konfirmation nahte. Seine religiöse Unterweisung erhielt Heinrich von Georg Andreas Weise (1737–1792), den er schon beim Kirchgang mit dem Vater kennen gelernt hatte, dem zweitem Pfarrer an der St. Katharinenkirche, einem lieben, frommen, zum Pietismus neigenden Mann.209 Jetzt war Heinrich empfänglicher für die «rednerische Inbrunst im Vortrage» und die «Glut seiner Andacht im Gebet».210 Im Leben Jesu, von der Welt verkannt und verstossen, erkannte Heinrich sein eigenes Schicksal; in den Sündern, die Weise zur Umkehr aufforderte, sich selbst.

      «Selten verließ ich das Pfarrhaus ohne wundgeweinte Augen; ohne Schmerzen der Reue über meine Vergehen. Jede kindliche Eulenspiegelei und Übereilung trug jetzt die Gestalt einer unverzeihbaren Sünde. In meinem Stübchen jammert’ ich in wiederholten Gebeten auf den Knieen um Barmherzigkeit und Gnade, und legte unter heißen Thränen die Gelübde der Besserung ab. Christus ward fortan mein Gedanke, mein Vorbild, meine Liebe, mein Leben.»211

      Die Konfirmation, von der er ein Wunder erwartete, einen Fingerzeig Gottes, enttäuschte ihn masslos; das Zeremoniell, das respektlose Benehmen der Konfirmanden, der Ablauf hatten nichts mit dem religiösen Feuer zu tun, das in ihm brannte und durch mystisch-religiöse Schriften genährt wurde.212 Er hatte den Heiland zu seinem alleinigen Herzensfreund gewählt, aber das Leben behinderte die so sehnsüchtig erwartete Innigkeit im einfachen Glauben. Beim Abendmahl erwartete er während der Kommunion eine unmittelbare Berührung durch Gott, die ausblieb. Stattdessen lenkten die Schule, die Bücher und das Studium Heinrichs Schritte in eine andere Richtung. Sein Bildungshunger gewann immer mehr an Gewicht.

      In Zschokkes Nachlass befinden sich zwei Bände in einem Schuber mit der Goldschrift: «Joh. Heinr. Dan. Zschokke’s Schularbeiten aus den Jahren 1784–1787. in Magdeburg. 1. 2. Theil.»213 Sie sind nicht im Unterricht, sondern in seiner Freizeit entstanden und zeigen, wofür der 13- bis 16-Jährige sich interessierte: historische, theologische, naturwissenschaftliche, philosophische Bücher, Biografien und Reisebeschreibungen.

      Der erste Band wurde im November 1784 abgeschlossen, entstand in Heinrichs erstem Jahr am Altstädter Gymnasium, man sucht aber vergeblich nach einem inneren Zusammenhang. Vielleicht las Zschokke einfach, was in Reichards reichhaltiger Bibliothek herumlag. Wie kommt es denn aber, dass die Handschrift in diesen Aufzeichnungen nicht von Zschokke stammt, obwohl an zwei Stellen auf ihn als Verfasser hingewiesen wird, so schon auf dem Titelblatt: «Von meinen verschiedenen Auszügen. Erster Theil. Joh. Heinr. Dan. Schocke Magdeburg d 11. Nov. 1784.»? Man wäre geneigt, eine falsche Zuschreibung anzunehmen, hätte Zschokke nicht persönlich 1846 einem Besucher die beiden Bände als sein Werk präsentiert.214

      Der zweite Band, laut Datum im November 1787 fertig gestellt, ist in der hinteren Hälfte in der Mehrheit in Zschokkes eckiger Handschrift beschrieben und hat ausser den Seereisen von James Cook vorwiegend geschichtliche und literaturgeschichtliche Themen zum Inhalt. Hier wenigstens lässt sich ein Schwerpunkt feststellen: Charakteristika von Schriftstellern wie Molière, Shakespeare, John Dryden und Ludwig Christoph Heinrich Hölty, dem Mitbegründer des Göttinger Hainbunds.

      Heinrich las während seiner Zeit am Altstädter Gymnasium nach eigenen Angaben «ohne Wahl und Ordnung, was Zufall, oder Neugier, mir in die Hand führte; Dichter, Astronomen, Chroniken, Philosophen, Reisebeschreibungen, Kirchenhistorien u. s. w.»215 Er habe damals den Entschluss gefasst, Gelehrter oder Polyhistor zu werden, und sich Reichard zum Vorbild genommen.216 Die Unterhaltungsromane aus der Leihbücherei wurden also durch wissenschaftliche Werke abgelöst oder mindestens ergänzt, aber da diese Lektüre unsystematisch blieb, war auch das Wissen nur oberflächlich. In den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» gab er selbstkritisch zu:

      «Diese ungeregelte Vielthätigkeit des Geistes, vereint mit wahlloser Liebe alles dessen, was ihm wissenswürdig schien, ging aus jener Zeit in die spätern Jahre über; und es ist schwer zu entscheiden, ob er dadurch mehr verloren, als gewonnen habe. Wenn er einerseits der Gefahr oberflächlicher Vielwisserei nicht entrann, gewann anderseits eine Mannigfaltigkeit und Unbefangenheit der Ansicht und des Urtheils, deren sich einseitigere Ausbildung selten freut.»217

      Wäre Zschokke Wissenschafter geworden, so hätte er keine grossen Stricke zerrissen; seine Phantasie, die Lebhaftigkeit seines Geistes, das Bestreben, Theorien zu veranschaulichen und anderen zu erklären, machten ihn zum Schriftsteller und Pädagogen und nicht zum Gelehrten. Dies zeigte sich auch auf einem zweiten Feld. Elias Caspar Reichard setzte ihn für Kärrnerdienste an seinem Buch «Wider den Aberglauben» ein. Er habe, schrieb Zschokke später, Übersetzungen und Auszüge aus alten Schmäuchern angefertigt. Manches sei wörtlich in Reichards Kompendium eingeflossen.218

      Ein einziger Beitrag lässt sich mit ziemlicher Sicherheit Zschokke zuordnen, zumal er mit «Z.» gekennzeichnet ist. Es ist die Erzählung «Meps»,219 die sich auf einen vorangegangenen Aufsatz «Etwas von Gespenstern und von der Furcht vor Gespenstern» bezieht und den Vermerk trägt: «Ein Pendant zur vorherstehenden Abhandlung». Offenkundig war es kein Bericht über einen wirklichen Vorfall, sondern eine eigens für die «Beiträge» erfundene Erzählung und fiel als solche aus dem Rahmen. Vom Aufbau, Inhalt und Stil, auch von den Dialogen und den Redewendungen her, ist es ein typisches Produkt Zschokkes; etwas grell, noch nicht sehr raffiniert, die Schreibe eines 15- oder 16-Jährigen, die vorab durch Witz überzeugt, durch das schauerliche Element und eine Spannung, die auf den Höhepunkt zutreibt, bevor sie, genau wie der Spuk, den sie beschreibt, in sich zusammenfällt. «Meps» ist die erste bekannte Prosaschrift Zschokkes. Reichard übernahm sie augenscheinlich ohne Änderung in sein Buch. Er pflegte ohnehin nicht viel abzuändern, doch hier spürte er wohl in der kleinen Arbeit seines Schülers das Frische, die Lust am Spielerischen und den aufklärerischen Effekt.

      «Meps» war bestimmt nicht seine erste Dichtung. Erstaunlicherweise lässt Zschokke uns in seiner Autobiografie aber kaum an seinen schriftstellerischen Anfängen teilhaben, die schon früh ein burleskes Talent erkennen lassen. Mit keinem Wort erwähnte er, dass er sich unter Magdeburger Kameraden und Lehrern bereits einen Ruf als Belletrist und Gedichteschreiber erworben und sogar ein Theaterstück verfasst hatte.

      Näheres zu Zschokkes Frühwerken ist bei Behrendsen zu erfahren. Er schrieb in seinen «Notizen», Heinrich habe mit 15 Jahren der Direktrice einer in Magdeburg gastierenden Theatergruppe ein kleines Schauspiel überreicht, das sich mit der Ortsgeschichte, der Eroberung Magdeburgs durch Tilly, befasste. Die Direktorin, eine Madame Wäser, habe es ihm nach einigen Tagen zurückgegeben mit der Bemerkung, man könne davon nicht Gebrauch machen, da man gerade ein ähnliches Stück einstudiere. Behrendsen, der Zschokke zeitlebens siezte, habe ihn daraufhin belehrt: «Betrachten Sie dies als eine höfliche Verwerfung. Sie sind ja noch nicht stark genug etwas zu schreiben, was denkende Männer befriedigen könnte. Lassen Sie es bleiben, Sie versäumen dadurch Ihre Schularbeiten, was Ihnen schaden wird!» Worauf Heinrich patzig erwidert habe: «Shakespeares erstes Stück ist auch verworfen, doch ist er nachher ein großer Schauspieldichter geworden.»220

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       Zwei Bände mit Aufzeichnungen Zschokkes von seiner privaten Lektüre als Gymnasiast von 1784 und 1787. Vor seiner Abreise aus Frankfurt (Oder) übergab er sie seinem Studienfreund Johann Gabriel Schäffer, aus dessen Hinterlassenschaft sie 1843, in einen Schuber versorgt, zu Zschokke nach Aarau gelangten. Es ist das erste Zeugnis seiner Handschrift und seiner geistigen Regsamkeit.