Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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darin zu hart gegen ihre verstorbene Schwiegermutter ausgesprochen».191 Heinrich trug mit seiner Haltung sicherlich zur angespannten Stimmung im Haus bei. Wie wenig kindliche Wertschätzung und Verständnis er der immerhin fast 22 Jahre älteren Schwester entgegenbrachte, zeigt eine Anekdote, die seine Söhne unter dem Titel «Blumenhaldner Naivitäten» veröffentlichten:

      «Zur Zeit, als Papa noch bey seiner Schwester Lemme in Magdeburg an die Kost gieng, kam zu derselben eine arme Frau, welche sie bittend und mit Thränen angieng, ihr doch den Zins eines gewißen Kapitals zu erlaßen. Da aber Tante Lemme wie natürlich nicht darein willigen konnte, wurde Papa durch die Thränen und inständigen Bitten der armen Frau einentheils gerührt, und anderntheils durch die Hartnäkigkeit der Schwester empört, und voller Ärger sagte er zu ihr: ‹warum willst du diese Schuld der armen Frau nicht erlaßen, betest du nicht alle Tage, vergieb uns unsre Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern?›»192

      Wenige Tage nach seinem Gespräch mit Stieghan sei er von Lemmes weggekommen, «einem betagten Lehrer der Altstädter Schule» in Pension gegeben worden und dann ins Altstadtgymnasium übergetreten. Er war zwölf Jahre alt. Falls diese Zeitangabe Zschokkes stimmt,193 fand der Wechsel in die neue Schule im Winter 1783/84 statt; er hätte demnach anderthalb Jahre bei seiner Schwester gewohnt und die Friedrichsschule besucht. Nach den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» handelte es sich bei dem «betagten Lehrer» um Johann Georg Christoph Neide (1756–1836), seit 1778 Lehrer und Subkonrektor am Altstadtgymnasium, 1784 Prorektor und 1792 Rektor. Aber selbst einem Knaben konnte Neide mit seinen 27 Jahren nicht als betagt erscheinen. Carl Günther glaubte diesen Widerspruch lösen zu können, indem er nach einem älteren Lehrer suchte und auf August Wilhelm Ferber (1741–1784) stiess, der seit 1772 am Altstadtgymnasium unterrichtete. Das einzige Indiz aber ist Ferbers Alter und Todesjahr, denn Zschokke schrieb, er sei nach «bald erfolgtem Tode» seines Pensionsgebers zum emeritierten Rektor der Schule, Elias Caspar Reichard (1714–1791), gekommen.194

      Eine weitere Version erzählte Zschokke seinen Söhnen, die sie im «Blumenhaldner» veröffentlichten. Danach kam Heinrich zu einem Herrn Schulze, der zwar nicht unterrichtete, aber durch seine Pedanterie und andere Gewohnheiten gleichwohl wie ein Lehrer wirkte. Als Witwer lebte er mit seinen beiden Kindern Lotte und Fritz und einer Haushälterin in grösster Sparsamkeit. Schulze habe Heinrich wegen seines Schulfleisses bei sich aufgenommen, da er sich einen Ansporn für seinen faulen Sohn Fritz erhoffte. «Er ergriff darum auch gerne jeden günstigen Anlaß, diesem Vorwürfe wegen seines Leichtsinnes und geringen Fleißes zu machen, um ihm dann den kleinen und viel jüngeren Zschokke zum Vorbild aufzustellen.»195

      Zschokke berichtete seinen Söhnen von seinem Aufenthalt bei Schulze als Auftakt zu einer Episode, in der sich die kleinbürgerliche Idylle, die sich in dem einzigen Wohn- und Esszimmer abspielte, jäh in eine häusliche Katastrophe verwandelte. Alle waren um den alten Ofen versammelt, wo die Haushälterin ihren Brei kochte. Nach seiner Gewohnheit sass Schulze in der Dunkelheit im Lehnstuhl und schmauchte eine lange, tönerne Pfeife. Heinrich rückte näher an den Ofen, um beim Schein der verglimmenden Kohlen Schillers «Fiesco von Genua» zu lesen. Weil der unbeschäftigte Fritz ihn plagte und zwickte, stiess Heinrich aus Versehen mit dem Fuss gegen das Ofenbein; das wacklige Gebilde kippte, der Topf mit dem Brei ging in Stücke und Vater Schulze zerbrach beim Aufspringen seine Pfeife. Man bezichtigte sich gegenseitig, bis die Schuld an der Haushälterin hängen blieb, «wiewohl sie mit Thränen ihre Unschuld, und die Vortrefflichkeit des verschütteten Brei’s betheuerte».

      Im «Blumenhaldner» wird diese Anekdote als amüsante Geschichte behandelt, was sie im Nachhinein gewiss war. Wenn sie aber stimmte, dann erlebte Heinrich bei Schulze noch einmal, dass man ihn bei seinen Studien und beim Lesen störte und ihm das erforderliche Licht missgönnte. Aus diesem Grund dürfte sein Aufenthalt dort nur von kurzer Dauer gewesen sein. Ob er von da noch zu Prorektor Neide kam, wie er in den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» behauptete und wie es im «Blumenhaldner» steht,196 oder bereits von Rektor Reichard aufgenommen wurde, muss unentschieden bleiben. Weil Zschokke von ihm als einem emeritierten Rektor schrieb, fand sein Einzug in Reichards Haus, falls wenigstens diese Aussage richtig ist, frühestens im Oktober 1784 statt.

      Es war nicht ungewöhnlich, dass Schuldirektoren und sogar Universitätsprofessoren Schüler oder Studenten in Pension nahmen, um ihr Gehalt aufzubessern. Reichard hätte es eigentlich nicht nötig gehabt. 1765 gab er ein Einkommen von 477 Talern an und verdiente damit mehr als die fünf Konventualen des Pädagogiums des Klosters Unser Lieben Frauen zusammen – aber was wissen wir schon über seine Auslagen? 1769 erhielt er wegen seiner Schwerhörigkeit einen Gehilfen mit dem Titel eines Subrektors und einem Gehalt von 200 Talern, 1774 wurde sein Pensum auf neun Stunden reduziert. Er gab fortan den Primanern Universalgeschichte, unterrichtete Latein nach Vergils «Aeneis» und den Briefen des jüngeren Plinius, korrigierte die lateinischen Übungen und führte im Übrigen das Leben eines Privatgelehrten. Am 1. Oktober 1784 wurde er unter Überlassung seiner Emolumente (Gebühren) von 311 Talern nebst freier Wohnung pensioniert; er starb am 18. September 1791.197

      Wiederum erfahren wir von Zschokkes Aufenthalt im Altstädter Gymnasium nur einige Anekdoten und dass er «in eine der obern Klaßen» eintrat198 und bis zur Prima aufstieg. Wir erhalten keine Informationen über die Lehrer und den Unterricht, und diesmal helfen uns auch Akten nicht weiter. Das Schularchiv scheint nicht mehr zu bestehen, und wir sind vorab auf ältere Darstellungen der Schulgeschichte angewiesen.

      Wie schon zu Melanchthons Zeiten standen das Trivium und der altsprachliche Unterricht auch hier an vorderster Stelle. 1759 wurden als fakultative Fächer Französisch und Mathematik in den Lehrplan aufgenommen.199 Der Schule fehlte ein Reformator wie Hüffer (an der Friedrichsschule) oder Rötger und Schummel (am Pädagogium des Klosters Unser Lieben Frauen). Wäre ein solcher aufgetreten, dann hätte er «einen harten Strauß zu bestehen» gehabt gegen das «Ungeheuer, Autorität des Alterthums», und sich, wie Joachim Christoph Friedrich Schulz spottete, mit dem Einwand der Reformgegner herumschlagen müssen:

      «‹Wir sind doch auch auf dieser Schule gewesen, und keine Dummköpfe geblieben!› Diese Antwort würde sich jedem Verbesserer in Riesengröße entgegenstellen, und um so gewaltiger widersetzen, da er nicht sagen darf: ‹Es könnte doch wohl seyn, Wohlweise Herren, daß Sie ein wenig klüger geworden wären, wenn Sie auf einer bessern Schule studiert hätten.›»200

      Reichard kümmerte sich in den letzten Jahren kaum mehr um das Schicksal seiner Schule, und da auch die Stadt Magdeburg mit ihrem Aufsichtsorgan, dem Scholarchat, die Reorganisation verschlief oder behinderte, musste Johann Georg Christoph Neide, Reichards Nachfolger, 1798 einen harten Schnitt vornehmen und das Gymnasium in eine höhere Bürgerschule umwandeln.201

      Dank Capsius hatte Heinrich seine Scheu vor dem Latein überwunden und konnte, wie es scheint, im Unterricht fortan gut mithalten. Er lernte mit Eifer, zeichnete sich bei den Prüfungen aus und wurde zu einem Musterschüler, wenn nicht gar zum Liebling seiner Lehrer. Die Kenntnisse, die ihm am Altstädter Gymnasium nicht oder unzureichend vermittelt wurden, vor allem in den Naturwissenschaften, in Geschichte und Geografie, musste er sich autodidaktisch erarbeiten. Dazu standen ihm die Bibliothek Reichards und Aufzeichnungen des 1782 gestorbenen Lehrers Johann Andreas Lütger202 zur Verfügung. Elias Caspar Reichard gewährte ihm Zutritt «in sein gelehrtes Sanctuarium». Der Anblick habe ihn überwältigt: «Dies war ein weites, halbdunkles, mit wohlgefüllten Büchergestellen umzogenes Zimmer. Hier saß inmitten desselben der harthörige Greis, vom Morgen bis zum Abend am langen, mit Folianten und Oktavbänden belasteten Tische, und ersetzte, durch Beschäftigung mit Gedanken verstorbener Männer, den Verlust des Verkehrs mit Lebenden.»203

      Reichard arbeitete am zweiten Band seiner «Vermischten Beiträge zur Beförderung einer nähern Einsicht in das gesamte Geisterreich», die «zur Verminderung und Tilgung des Unglaubens und Aberglaubens» beitragen sollten. Der erste Band war 1781 erschienen,204 der zweite, der die Bekämpfung des Unglaubens nicht mehr im Titel trug, kam 1788 heraus,205 und Heinrich durfte sich rühmen, daran mitgewirkt zu haben.