ihn beengenden Verhältnissen, genug von mäkelnden Verwandten, missgünstigen Schülern, der kränkenden Zurückweisung durch Menschen, auf deren Urteil er Wert legte. Er hatte Geldsorgen, Schulden angehäuft, sich durch Betrügereien und Lügen in Verruf gebracht. All dem wollte er entrinnen. Er ging also zu Ziegener, dem Vormund, der sich seine beredten Ausführungen, weshalb er zur Universität zu gehen beabsichtigte, mit unbewegtem Gesicht anhörte und entgegnete: «Universität? Ja, ja! dafür schlägt die Glocke wohl nach zwei Jahren noch zu früh für Dich!»261 Darauf habe er sich entschlossen wegzulaufen, ohne den Segen seiner Familie und ohne das Geld, das ihm aus der Erbschaft noch zustand. Er war sich bewusst, dass seine Flucht den schlechten Ruf, den er in Magdeburg hatte, festigen würde.
FLUCHT NACH SCHWERIN
Am 22. Januar 1788 reiste Zschokke von Magdeburg ab, um sein Glück anderswo zu suchen.1 Er täuschte die Mitmenschen über seine Pläne, da er wohl zu Recht annahm, man hätte sie missbilligt und ihn nicht ziehen lassen. Als er am Tag zuvor von Christiana Faucher Abschied nahm, behauptete er, zu einer Hochzeit eingeladen zu sein. Und dann, fuhr seine Lieblingsschwester fort, als sie im Oktober 1826 ihrem Neffen Theodor Zschokke davon erzählte, sei er in die weite Welt gezogen und man habe nichts mehr von ihm gehört, bis er zur Universität gegangen sei.2
Vielleicht verabschiedete Zschokke sich noch von anderen Verwandten, womöglich meldete er sich von der Schule ab; auf jeden Fall besorgte er sich einen Reisepass, um nicht von der Torwache abgewiesen oder einer Patrouille aufgegriffen zu werden. Man befand sich in Preussen, in einem gut organisierten und überwachten Staat, wo immer Jagd auf jemanden gemacht wurde: auf Landstreicher, Bettler, steckbrieflich gesuchte Verbrecher und vor allem auf Deserteure.
In den «Avertissements» der Magdeburgischen Zeitung wurden im Januar und Februar 1788 als verloren, entlaufen oder vermisst gemeldet: zwei Hunde, ein Pferd, ein Spazierstock, eine Uhr, ein Arbeitsbeutel und ein Achselband. Ein Jüngling gehörte nicht dazu. Das bedeutet nicht, dass man sich seinetwegen keine Sorgen machte. Aber, so dachte man wohl, wenn es ihm schlecht ergehe, werde er von selber heimkommen.
Wenn Zschokke beifügte, seine Abreise habe an einem «neblichten, kalten, doch schneelosen Wintermorgen» stattgefunden, so evozierte er eine Stimmung, die er in «Eine Selbstschau» noch verdichtete: «Die Geburtsstadt, mit ihrem schwerfälligen Wall- und Mauergürtel und darüber ragenden vielen Thürmen und Giebeln, verschwamm, Grau in Grau, hinter seinem Rücken. Unbekannte Landschaften, unbekannte Dörfer, Baumgruppen und Wandersleute, alle vom Reif versilbert, tauchten eins ums andre freundlich vor ihm auf im falben Duft.»3 Es war der erste Akt der Befreiung, die Lösung der Fesseln der Kindheit, die er von langer Hand vorbereitet hatte.
Er mietete ein Pferd und ritt durch das Krökentor aus Magdeburg hinaus, im Gepäck einige wenige Kleidungsstücke, sicherlich auch Bücher und Manuskripte und etwas Bargeld: ein kleines Darlehen von einer seiner Schwestern – vermutlich Christiana Faucher – und erspartes Taschengeld.4 Er fühlte sich «licht und frei, wie der Singvogel, dem Käfig entflattert», es war ihm zum Singen und Jauchzen zumute, «er hätte das weite Weltall mit den Augen eintrinken, jeden Bauer umarmen mögen».5 So jedenfalls deutete er in den Lebenserinnerungen die Erleichterung, als Magdeburg im Nebel verschwand. Hinter sich gelassen hatte er ein Leben, das andere für ihn bestimmten und das ihn zu ersticken drohte, zahllose Sticheleien und Kabbeleien, aber auch finanzielle Nöte und Hunger.
In seinem ersten Bericht nach Hause, den er, nach fast anderthalbjährigem Umherziehen, im Juni 1789 nicht an seine Angehörigen, sondern an Freund Behrendsen richtete, rechtfertigte er seine damalige Flucht: «Ich verlies Magdeburg sowol aus Mangel an guten Fortkommen und Bedürfnissen, als auch aus einer Art hypochondrischer Laune, welche mich noch izt zuweilen anwandelt. [...] Unbesonnenheit war mein Schritt nicht, mein wolüberlegter Plan der armen, sinkenden Tugend und des innern Stolzes, des Bewußtseins: sieh Unglüklicher, so mußt du immer elender werden, Herz und Geist verderben sehn, da du doch glüklicher sein könntest!»6
Sich nach Halle an die Universität zu begeben, war für den 16-Jährigen nicht ratsam. Es gab zwar keine Altersbeschränkung und ein Schulzeugnis war auch nicht erforderlich; es hätte aber einer schriftlichen Erlaubnis seines gesetzlichen Beistands bedurft, und die hatte er ihm ja versagt. Also wandte er sich nach Norden, nach Schwerin. Die Hauptstadt des Herzogtums Mecklenburg-Schwerin lag knapp 25 deutsche Meilen (rund 180 km) von Magdeburg entfernt und unterstand nicht der Jurisdiktion Preussens, so dass Zschokke vor Häschern, die von Verwandten oder Gläubigern allenfalls gegen ihn in Bewegung gesetzt wurden, einigermassen sicher war, sobald er die Staatsgrenze überschritten hatte. Am zweiten Tag, als er bei Schnackenburg7 die Elbe passieren wollte, die hier von Ost nach West verlief, eine knappe Reitstunde vor der Grenze des Kurfürstentums Brandenburg, bildete er sich ein, aus vier oder fünf heiseren Kehlen seinen Namen rufen zu hören, und meinte endlich auch, «die garstigen Kerls» zu erblicken.8 Aber es waren nur seine überreizten Nerven.
Noch am selben Abend, endlich im Ausland, als er in Grabow in einem Gasthof einkehren wollte, ereignete sich ein sonderbarer Vorfall. Die Wirtin empfing ihn bei hereinbrechender Nacht mit Umarmungen und Küssen, als ob er ihr lange vermisster Sohn sei, und als sie sich bei Licht ihres Irrtums gewahr wurde, überhäufte sie ihn weiterhin mit mütterlicher Zuwendung und Leckereien, ohne dafür am Schluss eine Rechnung zu stellen. Zschokke, seelisch ausgehungert, da ihn seit dem Tod des Vaters, «niemand mit Zärtlichkeit ans Herz gezogen hatte», erfüllte diese Begebenheit mit einem süssem Schauer. Er habe, schrieb er, in dieser Begegnung den Glauben an die Menschheit wieder gefunden.9
Anderntags traf er in Schwerin ein und ging unverzüglich zu Wachsmann, einem ehemaligen Mitschüler, der Schauspieler geworden war. Wachsmann hatte ihm eine Perspektive eröffnet, der Misere, dem Stumpfsinn seines bisherigen Lebens zu entrinnen, indem er ihm brieflich das schöne Leben eines Schauspielers geschildert hatte. Wachsmann hielt sich von 1788 bis 1791 in Schwerin auf und wurde in zweiten Rollen am Theater eingesetzt, während seine junge Frau als erste Liebhaberin in Opernstücken tätig war.10 Zschokke traf die beiden gerade beim Frühstück.
Wachsmann habe ihn zunächst herzlich empfangen, erzählte Zschokke, aber auf sein Anliegen, Schauspieler zu werden, bestürzt reagiert. Er habe ihn seines unbesonnenen Knabenstreichs wegen gescholten und aufgefordert, nach Magdeburg zurückzukehren, weil er sich seinetwegen keine Scherereien einhandeln wolle. «Du, ein Hofschauspieler!», habe er gehöhnt: «Was für eine Figur soll man denn aus dem kleinen Mann auf dem Theater schnitzeln? Einen Zettelträger, Lampenputzer, Statisten? Du bist für das Alles zu jung!» Zschokke verhielt sich wie in der Fledermausgeschichte: Er reagierte mit verletztem Stolz. Er habe Wachsmann einige sarkastische Bemerkungen zurückgegeben, sich verbeugt und sei weggegangen, ohne ihn jemals wiederzusehen.11
Es gab einen triftigen Grund für Wachsmann, nervös zu werden und auf Zschokkes Wunsch nicht einzugehen: Die Existenz des Schweriner Theaters und die Anstellung des Ehepaars Wachsmann waren zu jener Zeit gefährdet. Nach dem Tod des kinderlosen Friedrich I. (1717–1785), genannt der Fromme, der das Theaterspielen untersagt hatte, war sein lebenslustiger Neffe Friedrich Franz I. (1756–1837) als Herzog von Mecklenburg-Schwerin nachgerückt. Gleich nach dem Wechsel wandten sich die Direktoren verschiedener Theatergesellschaften an den Magistrat von Schwerin mit der Bitte, sich in der Stadt installieren zu dürfen. Die Bevölkerung war theaterbegeistert, doch die Behörde verzögerte den Entscheid, bis Friedrich Franz bekundete, dass er gegen das Theaterspiel nichts einzuwenden habe. Im November 1787 erhielt Gottfried Friedrich Lorenz, der sich schon einige Zeit in der Stadt aufhielt, die Konzession zur Eröffnung seiner Bühne.12 Lorenz spielte den Winter durch fünfmal wöchentlich und füllte jedesmal den Rathaussaal. Das sprach sich herum, und von allen Seiten trafen Schauspieler ein, die Lorenz anwarb oder von sich aus kamen, weil sie mit ihrer bisherigen Anstellung unzufrieden waren. Man befand sich mitten in der Saison; der Zustrom zu Lorenz und der Abgang von anderen Truppen führten zu Reibereien. Der Direktrice Marianne Köppi, die in Ratzeburg gastierte, liefen bis auf eine Ausnahme alle