Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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Schwerin, um sich Lorenz anzuschliessen.

      Als Zschokke in Schwerin eintraf, rumorte es am Theater gewaltig: Die Inhaber der Abonnemente fühlten sich durch Lorenz geprellt, weil er sie für die Aufführung des «Hamlet» extra bezahlen liess, und auch einige Schauspieler lehnten sich gegen ihn auf, so dass er die Direktion Anfang Februar 1788 niederlegen musste. Im fliegenden Wechsel übernahmen zwei angesehene Schweriner Beamte, Kammerherr Graf von Bassewitz und Justizrat Wachenhausen, die Leitung über die mittlerweile zwölf Schauspielerinnen, vierzehn Schauspieler und acht weiteren Angestellten. Rollen für Jünglinge gab es wenige oder keine; Zschokke hätte weder als Kind noch als jugendlicher Liebhaber eine Chance gehabt. Zu letzterem war er eingestandenermassen zu klein.

      Es war übrigens keine Seltenheit, dass Jünglinge aus bürgerlicher Familie von zu Hause davonliefen, um sich einer Schauspielertruppe anzuschliessen, angezogen von Glanz, Glamour und leichter Lebensweise. In Magdeburg hatten der Schriftsteller Joachim Christoph Friedrich Schulz, der Pädagoge Johann Gottlieb Schummel und der Bäckergeselle Carl Ludwig Costenoble (1769–1837) mit einer Theaterlaufbahn geliebäugelt. Costenoble, der in Magdeburg die Domschule und zur gleichen Zeit wie Zschokke die Friedrichsschule besuchte, war aber der einzige, der den Beruf tatsächlich ergriff.13 Die anderen (aber auch Costenoble) hatten Abenteuerlust, Unrast und die Aussicht auf ein angenehmes Leben mit viel Prestige in die Arme wandernder Theatertrupps getrieben.

      Zschokke hatte seine ganze Hoffnung auf Wachsmann und seine Karriere als Schauspieler oder Schauspieldichter gesetzt; er kannte in Schwerin sonst keinen Menschen. Was sollte er jetzt tun? Ein glücklicher Zufall kam ihm zu Hilfe. Ein Kanzlist namens Fahrenheim hatte seinen Auftritt bei Wachsmann miterlebt und sich darüber amüsiert; er sprach ihn auf der Strasse an, bot ihm bei sich eine Unterkunft an und führte ihn bei Hofbuchdrucker Bärensprung ein.14

      Schwerin war ganz anders als Magdeburg: weniger puritanisch und martialisch, mit einem Hang zu Vergnügungen und Luxus und altmodisch verzopft. Eingebettet zwischen zwölf Seen öffnete sich die Stadt dem Umland, verzichtete auf Haupt- und Nebenwälle, Bastionen und eine schwer befestigte Zitadelle, besass dafür ein verlottertes Schloss, damals unbewohnt, so dass sich das Volk im Park vergnügen konnte. Die Stadt zählte, Schelf- und Vorstadt einbezogen, rund 7000 Einwohner.15 Industriell betriebenes Handwerk gab es kaum; der Handel war bescheiden und wurde vor allem durch Juden besorgt. Es gab 91 Schuhmacher, 19 Perückenmacher und Friseure, 8 Goldschmiede, aber nur 2 Tuchmacher.16 Eine der Haupteinnahmequellen war die Landwirtschaft.

      Die Beamten, Hofleute und der Adel gaben den Ton an. Man schätzte sie auf 1500 Personen. Reisende stellten eine «scharfe Absonderung der Stände bis ins Kleinste, ja Komische und Widersinnige» fest. «Besonders der Adel schloß sich gänzlich von der bürgerlichen Gesellschaft, den Kaufleuten und Gelehrten, ab.»17 Es wimmelte von Juristen: Um die Jahrhundertwende zählte Schwerin 37 Advokaten und 19 Notare.18

      Wilhelm Bärensprung (1737–1801) besass eine Buchdruckerei an der Bergstrasse 164, mitten in der Schelfstadt, einer bevölkerungsmässig aufstrebenden, aber ruhigen Gegend Schwerins, in der Nachbarschaft von Fischern und hohen Beamten. Er führte einen traditionellen Provinzverlag mit juristischen, kameralistischen, ökonomischen, theologischen und Gelegenheitsschriften, die meist nur regionale Beachtung fanden und weder hohe Auflagen erzielten, noch viel Gewinn abwarfen. Den attraktiven Markt mit Unterhaltungsliteratur und klingenden Namen überliess man den Preussen oder Sachsen, und in den Wissenschaften hatte die Universitätsstadt Rostock die Nase vorn.

      Mit der üblichen mecklenburgischen Verzögerung hatte auch hier die Aufklärung Einzug gehalten; sie war in der typischen Ausprägung der Volks- und Bauernaufklärung in voller Blüte, als Zschokke nach Schwerin kam. Die Landwirtschaft war geprägt von einer Gutsherrschaft mit leibeigenen Bauern. Die Alphabetisierungsrate war erschreckend tief,19 die Prügelstrafe weit verbreitet und fest im Justizsystem verankert, in den Varianten Knotenpeitsche (für Arbeiter, Knechte und Gesellen) und Rute (für harmlose Vergehen und Kinder).20 Frauen wurden nicht durch Auspeitschen bestraft, sondern mit einem Halseisen an den Schandpfahl gebunden.21 Die Strafrechtsund Agrarreformer hatten noch einen weiten Weg vor sich. Das Thema Reform lag in der Luft, aber man war in dieser Ecke Deutschlands am Vorabend der Französischen Revolution meilenweit davon entfernt, die Frage des Naturrechts und der allgemeinen Menschenrechte philosophisch anzugehen. Bärensprung liess einige vorsichtig aufklärerische Werke in seinem Verlag erscheinen, die sogleich auf heftige Kritik stiessen. Es ist zu vermuten, dass Zschokke, der durch seine Beschäftigung für Bärensprung in die Auseinandersetzung einbezogen wurde, hier eine erste Anregung für sein späteres Engagement in Bauernfragen empfing. Nachdrücklicher auf ihn wirkte wohl ein Druckauftrag, den Bärensprung zwischen Herbst 1787 und Sommer 1788 ausführte.

      Der Publizist und Pädagoge Rudolph Zacharias Becker (1752–1822) und sein Verleger Georg Joachim liessen nach vierjähriger Vorbereitung und intensiver Werbung 1788 ihr «Noth- und Hülfs-Büchlein oder lehrreiche Freuden- und Trauer-Geschichte des Dorfs Mildheim. Für Junge und Alte beschrieben» (Gotha und Leipzig) in Grossauflage erscheinen.22 Um die Herausgabe zu beschleunigen und die Transportkosten zu verringern – das Werk sollte trotz eines Umfangs von 476 Seiten und 49 Holzschnitten nur vier Groschen kosten –, arbeitete man mit vier über Deutschland verstreuten Druckereien zusammen, darunter Bärensprung in Schwerin, der 5000 der 30 000 Exemplare der Erstauflage übernahm.23 Beckers «Noth- und Hülfsbüchlein» wurde zu einem Standardwerk der Volksaufklärung, wobei man unter dem Volk hier die Bauern verstand. Becker wollte sie in ihrem Alltag unterstützen, zu einer effizienteren Produktionsweise und einem sittlich-frommen Leben erziehen.

      Wilhelm Bärensprung war gesundheitlich angeschlagen, als er den für seine Verhältnisse grossen Druckauftrag erhielt, und erst recht, als er Ende Januar 1788 Zschokke in seine Dienste nahm. Er brauchte einen Hauslehrer für seine Söhne und in der Druckerei eine Hilfskraft. Für beides war Zschokke geeignet, und er nahm die Stelle bereitwillig an, wenn sie ihm auch nur ein bescheidenes Gehalt mit Familienanschluss im Haus seines Arbeitgebers einbrachte. Jetzt war er finanziell unabhängig, und er benachrichtigte seinen Vormund, er werde sich die nächsten beiden Jahre aus eigener Kraft durchschlagen und danach an die Hochschule gehen. Bis dahin solle er ihm die Zinsen seines väterlichen Erbes zurücklegen.24

      Andreas Schocke erhielt von Vormund und Verwandten den Auftrag, den entlaufenen Bruder einzufangen. Da weder bittende noch drohende Briefe fruchteten, erschien er persönlich in Schwerin, und es gelang ihm, Heinrich «mit den süssesten Lokkungen» zu überreden, ihn nach Magdeburg zu begleiten. Unvorsichtigerweise verriet er ihm unterwegs seine Absichten, und so entwich Heinrich in Lenzen, einem Städtchen am Nordufer der Elbe unweit von Schnackenburg, und kehrte nach Schwerin zurück.25 «Man überließ endlich den ‹halsstarrigen Taugenichts› seinem Verhängniß.»26

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       Die Hofbuchdruckerei von Wilhelm Bärensprung, wo Zschokke 1788 als Hauslehrer und Mitarbeiter im Verlag tätig war und wohnte, befand sich an der Bergstrasse 164 (später 38) in der Neustadt. Das hier gezeigte Nachbarhaus Bergstrasse 40, das bei dieser Aufnahme (2007) abbruchreif war, ein dreistöckiges Fachwerkhaus mit Walmdach und einer grossen Toreinfahrt, dürfte Bärensprungs Druckerei geglichen haben, wenn diese auch etwas schmaler und niedriger war.

      Zschokkes Zöglinge, die er «in den Anfängen der lateinischen Sprache, Geschichte, Geographie u. s. w. unterrichtete»,27 waren Christian Johann Wilhelm (1772–1803) und Georg Diedrich Christian Franz Bärensprung (1775–1796). Wilhelm junior sollte demnächst bei seinem Vater eine Buchdruckerlehre absolvieren, sich dann auf Wanderschaft begeben, um in anderen Druckereien zu arbeiten. Bevor er den väterlichen Betrieb übernehmen konnte, sollte er sich noch etwas bilden, wofür ihm sein Vater aber die öffentlichen Schulen nicht zumutete. Sein Bruder Georg brauchte noch Basiswissen, das ihm ebenfalls Zschokke beibrachte.

      Zschokke erwähnte nur diese zwei Knaben, Wilhelm und Georg, obwohl noch vier Schwestern und ein kleiner Bruder da waren.28