diese Erzählung erst im Folgejahr erschien, muss sie hier erwähnt und etwas ausführlicher dargestellt werden, da sie in Schwerin (in Teilen wahrscheinlich bereits in Magdeburg) entstand und autobiografische Züge trägt. Gegen den Schluss wird in einer Fussnote auf Zschokkes «Narren-Kronik» verwiesen.70 Damit sind alle Zweifel ausgeräumt, dass dieser Kurzroman von 92 Seiten, den Adrian Braunbehrens vor zwanzig Jahren entdeckte und Heinrich Zschokke zuschrieb, tatsächlich von ihm stammt.71
Der erste Teil dieses Textes folgt zunächst Zschokkes eigenem Werdegang. Wilhelm Walter, in einer mittelgrossen deutschen Stadt geboren, verliert früh seinen Vater. Ihn faszinieren Märchen und Erzählungen in der Art von 1001 Nacht, wo dienstbare Geister vorkommen, und er wünscht sich eine Wunderlampe wie die von Aladin. Er liest, was ihm gerade in die Hände kommt, und als er in H* (Halle) sein Studium aufnimmt – hier trennen sich die Wege von Zschokke und Wilhelm –, vertieft er sich intensiv in magische Literatur. Als er die Nachricht erhält, dass seine Mutter im Sterben liegt, will er sogleich nach Hause fahren, wird aber unterwegs von einem buckligen Männchen in einem grauen Rock aufgehalten, das Interesse für seine magischen Studien bekundet. Es schnallt den als Buckel getarnten Rucksack ab, holt Geld heraus und gibt es Wilhelm. Zu Hause findet er die Mutter bereits tot. Überraschend wird er vom Magistrat seiner Vaterstadt als Sekretär angestellt und erhält regelmässig Besuche vom geheimnisvollen Fremden, der ihn in den Geheimnissen der Magie unterweist.
Da sein nächtliches Studium seine Gesundheit unterminiert, erkrankt Wilhelm schwer. Freunde und Bekannte versuchen, ihn von seiner verhängnisvollen Sucht zur Magie zu befreien und in die Wirklichkeit zurück zu holen. Tatsächlich scheint es ihnen zu gelingen, bis Wilhelm wieder dem Fremden begegnet, der ihn zu einer Zeremonie des Geheimordens der Dreifaltigkeit mitnimmt. Um aufgenommen zu werden und einen höheren Grad zu erreichen, muss er ein Schweigegelübde ablegen und Prüfungen bestehen. Man schickt ihn mit einer Botschaft zur Schwesterorganisation nach W*. Ein Mädchen macht sich an ihn heran, um ihm sein Geheimnis zu entlocken. Er widersteht zwar ihren Schmeicheleien, aber nicht ihren Reizen, und schläft mit ihr.
Anderntags erwacht er im Gefängnis, wo er einer strengen Befragung unterzogen wird. Einen Monat lang wird er unter den härtesten Bedingungen festgehalten und immer wieder verhört, gibt sein Wissen aber nicht preis. Seine Inquisitoren, so stellt sich heraus, sind Brüder des Ordens und haben seine Standfestigkeit und Verschwiegenheit zu prüfen. Zu diesem Zweck wurde ihm auch eine Dirne zugeführt. Wilhelm hat mit Bravour bestanden; er soll für den Orden jetzt schwierigere Aufgaben übernehmen, erhält reichlich Geld und wird in die beste Gesellschaft eingeführt. Aber seine Gesundheit ist durch die Kerkerhaft völlig zerrüttet, und er stirbt im Alter von 31 Jahren. Ein Ungenannter findet seine Aufzeichnungen und beschreibt das Schicksal des bedauernswerten Schwärmers, zur Warnung für Leute, die wie er Adepten der Magie werden möchten.
Der schmale Roman «Geister und Geisterseher oder Leben und frühes Ende eines Nekromantisten», der 1788 in Schwerin entstand, ist Zschokkes erstes selbständiges Werk. Es enthält autobiografische Anteile.
Die Erzählung steht im Umfeld von Zschokkes Tätigkeit für Elias Caspar Reichard mit dem Aber- und Wunderglauben seiner Zeit und fügt Elemente des damals noch jungen Genres des Geheimbundromans ein,72 eines Vehikels, dem sich ebenso viel aufladen liess wie dem Kriminalroman im nächsten Jahrhundert. Zschokke schrieb weitere Romane dieser Art; der vorliegende ist der unpolitischste und lehnt sich an die Andichtungen oder tatsächlichen Machenschaften des Grafen Cagliostro, der soeben von der päpstlichen Inquisition verhaftet worden war, der Rosenkreuzer, der Jesuiten und der Illuminaten an.
Zschokke gehörte mit den fast gleichaltrigen Ludwig Tieck (1773–1853) und E. T. A. Hoffmann (1776–1822) zu jenen Dichtern, die trotz Widerstand der Verwandten und der Schule und ungeachtet knapper finanzieller Mittel eifrig phantastische Literatur lasen und bald dazu neigten, selber solche Romane zu verfassen.73 In England besass diese Art von Literatur als «gothic novels» bereits eine Tradition.74 Marianne Thalmann spricht von einer literarischen Revolution, da diese jungen Menschen sich nicht mehr an literarischen Klassikern, sondern an Trivialliteratur orientierten.75 Der dort vorgefundene Stoff und die Motive liessen sich beliebig variieren und anreichern, um Spannungseffekte zu erzeugen. Der beliebteste deutsche Geheimbundroman, «von der jungen Generation bis zur Tollheit gelesen»,76 wurde «Der Genius», ein Vierteiler von Zschokkes Magdeburger Mitschüler Carl Grosse, der aber erst nach Zschokkes «Geister und Geisterseher» erschien, diesen Roman also nicht mehr beeinflussen konnte.77
Zschokke gab dem Verleger Hoffmann aus seiner «Narren-Kronik» vorderhand nichts zu lesen; stattdessen legte er das Manuskript eines Trauerspiels bei, mit der Erklärung, dass es an guten Trauer- und Lustspielen mangle, und Schauspieler ihm versprochen hätten, sein Stück in Schwerin aufzuführen. Nun stimmte es zwar, dass Hoffmann hin und wieder Dramen verlegte; die Aussicht auf eine Aufführung in Mecklenburg war aber sicher kein schlagendes Argument für ihn. Es scheint, dass Zschokke auch nicht unbedingt mit einer Zusage rechnete, aber von der Qualität seines im Sommer 1788 fertig gestellten Dramas überzeugt war und dem Brief mehr Gewicht verleihen wollte – auch im wörtlichen Sinn. Er scheue die Rezensenten nicht, von denen sich einige schon dazu geäussert hätten, schrieb er Hoffmann, deshalb sei er bereit, seinen Namen darunter zu setzen.
«Graf Monaldeschi» heisst das Drama, mit dem Nebentitel «oder Männerbund und Weiberwuth».78 Den Stoff hatte er einem Lexikon des Basler Professors Jakob Christoph Iselin (1681–1737) entnommen.79 Es ging darin um Königin Christina von Schweden (1626–1689), die gemäss Iselin wegen ihres italienischen Günstlings Monaldeschi auf ihren Thron und den protestantischen Glauben verzichtet hatte und 1656 mit ihm nach Frankreich reiste, wo sie aus kompromittierenden Briefen von seinem Verhältnis zu einer anderen Frau und seiner Verachtung für die Königin erfuhr. Darauf liess sie ihn auf Schloss Fontainebleau töten, was zu einer diplomatischen Verstimmung mit Frankreich führte. – Noch Jahrhunderte später wurden den Besuchern von Schloss Fontainebleau die Galerie gezeigt, wo diese Exekution stattfand, und das durchlöcherte Kettenhemd, das Monaldeschi dabei angeblich getragen hatte.80 Unter Weglassung der politischen Zusammenhänge, die auch bei Iselin nur angetönt sind,81 schrieb Zschokke ein bürgerliches Trauerspiel um Intrigen, Betrug und Verrat und konzentrierte sich auf Graf Monaldeschi, den er als Opfer von Machenschaften des Adels hinstellte. Monaldeschi verliebt sich in ein bürgerliches Mädchens, die Malerstochter Theresa, und will mit ihr eine Ehe eingehen, wird aber von der geballten Eifersucht der Königin und zweier Schurken, der Gräfin Kassandra de Karignan und des Marquis de Sida, zur Strecke gebracht. Kassandra vergiftet Theresa mit einem Glas Limonade, worauf deren Vater die Gräfin erdolcht. Zuvor aber hat die wahnsinnig gewordene Kassandra ihren Mord und die Fälschung der verräterischen Briefe Monaldeschis gestanden. Zu spät erfährt die Königin von ihrem Irrtum.
Die Literaturkritiker nahmen das Drama ungnädig auf. Man bemängelte, dass Zschokke Motive von Shakespeare, Schiller, Lessing und Meissner verwende, aber offenbar die Geschichte des Grafen Essex nicht kenne, dem unter der englischen Königin Elisabeth I. ein ähnliches Schicksal widerfahren war.82 Vor allem aber wurde beanstandet, es herrsche «ein unerträgliches Chaos von Verwirrung, und Lerm und Unordnung und eine äußerst verschrobne Kraftsprache darinn. Banditen treten auf; es wird entsetzlich gemordet, gerast; Geister erscheinen und die Sterbenden wälzen sich in ihrem Blute, welches gar fürchterlich auf dem Theater anzusehen seyn muß».83
Tatsächlich lauern bereits in der ersten Szene Meuchelmörder Monaldeschi auf, und es vergeht kein Akt, in dem nicht jemand seinen Dolch zückt, mit seiner Pistole auf einen anderen zielt, je nach Geisteszustand auf Freund oder Feind. Dabei überbieten sich die Frauen in ihrer rasenden Eifersucht und der abgefeimte Marquis de Sida an Schlechtigkeit. Grässliche Flüche werden ausgestossen, Himmel und Hölle angerufen und der Jüngste Tag heraufbeschworen. Durch blutrünstige Handlungen, schreiende und brüllende Personen, mit weit jenseits der Grenzen zum Wahnsinn angelegten Gefühlsausbrüchen wird das Publikum aufgeschreckt und in dauernder Anspannung gehalten.
Zschokkes «Monaldeschi» war eine Anklage gegen den korrumpierten