Behrendsen sein Verhältnis zu Burgheim: «Ich war [...] fast täglich in seinem Hause – wir arbeiteten gemeinsam – ich konnt es ihm nicht versagen, ging mit und erhielt ausser 4 Rth.98 wöchentl[icher] Gage, freies Logis und Mittagsessen an seinem Tisch. Ich ging, nicht sowol als Schauspieler, denn hiezu war ich die Person nicht, sondern vielmehr als Dichter und Korrespondent seines Theaters mit, befand mich überaus glüklich dabei und er ist noch stets mein Freund.»99
Es wird nicht ganz klar, wer Direktor dieser Theatertruppe war. Zschokke behauptete, es sei Burgheim gewesen; offiziell firmierte sie aber, mindestens seit Februar 1789, als Hubersche Gesellschaft.100 Wandernde Gesellschaften waren bis um 1800 noch der Normalfall im Theaterwesen. Die meisten grossen Schauspieler wie Ekhof, Ackermann oder Schröder hatten ihr Debüt so erlebt und waren jahrelang mit einer Truppe herumgezogen.101 Später hatten sie selber solche Gesellschaften gegründet und geleitet, die, im Fall von Ekhof in Gotha, Schröder in Hamburg und Bellomo in Weimar, den Stamm einer stehenden Bühne bildeten. Solche fest installierten Theater mit eigenem Ensemble entstanden 1766 als Leipziger Schauspielhaus, 1774 als Gothaer Hoftheater, 1776 als Wiener und 1779 als Mannheimer Nationaltheater. Daneben zogen noch zahlreiche Theatergesellschaften mit ihren Prinzipalen in Deutschland herum; sie wurden aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts teilweise von den festen Bühnen übernommen, so die Carl Döbbelinsche 1795 vom Magdeburger Theater.
Nur Fürsten und wohlhabendere Städte mit kulturbeflissenen Mäzenen konnten sich ein stehendes Theater leisten. Es war normalerweise ein (kostspieliges) Zuschussunternehmen und griff die Privatschatulle des Fürsten oder die Steuereinnahmen der Stadt empfindlich an. Wandertheater waren preiswerter im Unterhalt. Man musste ihnen nur einen Saal zur Verfügung stellen und konnte erst noch an den Einnahmen partizipieren: durch Gewerbesteuern oder Vorstellungen, deren Erlös der Armenkasse zugute kam. Zudem belebte der Theaterbetrieb einheimisches Handwerk und Gewerbe, die Gastwirte, die Schneider, Schreiner und Maler für Kostüme oder den Kulissenbau. Das waren Vorteile, mit denen sich jede wandernde Truppe einem Magistrat beliebt zu machen suchte.102
Die Gesellschaften blieben, solange Interesse an ihren Vorstellungen bestand oder bis ihr Repertoire von vier bis sechs Stücken pro Woche durchgespielt war. Es konnte vorkommen, dass die Bürger mit den Aufführungen so unzufrieden waren, dass sie buhten, pfiffen, die Bühne stürmten und ihr Geld zurückverlangten. Dann hiess es für die Truppe, sich bei Nacht und Nebel davon zu stehlen und ihr Glück anderswo zu versuchen. Die Theatergesellschaft von Burgheim machte diese Erfahrung wohl mehr als einmal. Sobald sich die Zuschauerreihen lichteten und die Tageseinnahmen schmolzen oder im Sommer, wenn es die Menschen ins Freie zog statt in einen schlecht gelüfteten Saal, wanderte die Truppe weiter, falls nicht ohnehin eine begrenzte Spieldauer vereinbart war. Zum Abschluss der Saison wurde gern noch eine Redoute gegeben, ein choreografierter Maskenball, bei dem sich biedere Bürger unter das lustige Schauspielervolk mischten.
Schon das Eintreffen einer fremden Theatertruppe mit ihren bunten Wagen war in kleineren Städten wie Prenzlau (weniger als 7000 Einwohner) ein Ereignis: kostümierte Menschen, die durch die Strassen ritten oder gingen und mit kurzen szenischen Darstellungen die Aufmerksamkeit auf sich zogen, Theaterzettel verteilten oder an die Hausmauern klebten und auch sonst für Wirbel und Trubel sorgten. Ihr Einzug muss oft Ähnlichkeit gehabt haben mit dem des Rattenfängers von Hameln: Eine grosse Kinderschar begleitete die Wagen, belagerte die Quartiere der Schauspieler, wartete gespannt vor dem Theater, wo die letzten Vorbereitungen getroffen wurden, und begleitete sie auch wieder zur Stadt hinaus, falls die Truppe es nicht vorzog, sich in aller Frühe und unerkannt zu verziehen.
Dann rückte der Abend der ersten Aufführung heran: Die Leute strömten in den kerzenbeleuchteten Saal, der zum Bersten voll war. Für die Junker, Räte, höheren Beamten und anderen Honoratioren waren in der ersten Reihe Stühle aufgestellt, dahinter nahmen Bürger und Handwerksmeister mit Gattinnen Platz, den Rest füllte das Militär auf.103 Jugendliche hatten oft nur unter Anwendung einer List eine Chance hineinzugelangen: So schmuggelte sich Carl Ludwig Costenoble einmal als Bassist ins Theaterorchester.104
Das war die Kulisse für Zschokke, als er mit Burgheim und rund einem Dutzend Schauspielern im November 1788 von Schwerin abreiste und in drei Wagen – einen für die Frauen, den zweiten für die Männer und den dritten fürs Gepäck – in Richtung Prenzlau fuhr. Schon diese Reise war für den jungen Theaterdichter ein Abenteuer.105 Sein Umgang hatte bisher fast ausschliesslich aus Männern bestanden, und bis auf seine Schwester Christiana und seine Kindheitsgespielin Friederike Ziegener hatte er zum weiblichen Geschlecht keine Zuneigung empfunden, keine Frau in einer indezenten Situation gesehen. Nun aber lebte er auf engstem Raum mit Frauen zusammen, die, was ihr Benehmen oder ihre Alltagsgarderobe betraf, kaum Rücksicht auf einen prüden jungen Mann nahmen, sondern im Unterkleid am Brunnen ihre Röcke wuschen und sich vielleicht gar einen Sport daraus machten, den gehemmten Jüngling zu reizen oder in Verlegenheit zu bringen.
Hübsche junge Schauspielerinnen waren für jeden Theaterdirektor ein wichtiges Kapital, das er gezielt einsetzte. Ihr Auftreten füllte die Zuschauerreihen und überdeckte technische oder schauspielerische Mängel. Richtig ins Rampenlicht gebracht halfen sie dem Direktor, für seine Wünsche bei den Notabeln einer Stadt Gehör zu finden. Dafür mussten «die liebenswürdigen Theaternymfen», wie Zschokke sie einmal nannte,106 es sich gefallen lassen, von den Herren angehimmelt und zur Favoritin erkoren zu werden. Die Kehrseite beschrieb der Theaterkenner und -kritiker Johann Jakob Christian von Reck 1787 in seinem Buch über die Lage der Wandertheater: «Vom Theaterfrauenzimmer will ich gar nichts erwähnen, wer kennt sie nicht? – Wie selten findet man eine Ausnahme? [...] Liederlicher Lebenswandel, Ausgelaßenheit ist das gewöhnlichste.»107
Klagen über die frivole Lebensweise von Schauspielern finden sich in jener Zeit allenthalben. Reck führte das Übel darauf zurück, dass sich hier unter schlechten Arbeitsbedingungen «Barbiergesellen, Perükenmacher, Musketirs, von der Universität geloffene verführte Studenten und dergleichen Volk mehr» versammelten, die sich, der Verachtung der Öffentlichkeit preisgegeben, dadurch schadlos und über Wasser hielten, indem sie schmeichlerisch, betrügerisch und niederträchtig seien.108 Reck riet, solche Gesellschaften staatlich zu kontrollieren, den Schauspielern ihren Lebensunterhalt zu garantieren und sie so in das bürgerliche Wertesystem einzugliedern.
Ob gerade dieses Ungezähmte, Ungebärdige und leicht Verruchte Zschokke an seiner Truppe lockte, ist zweifelhaft; er konnte es sich nicht aussuchen. Einer nach dem Vorbild Recks regulierten Gesellschaft hätte er sich vielleicht lieber angeschlossen, aber die hätte ihn gar nicht in Dienst genommen. Das halbe Jahr in der fahrenden Gesellschaft war für Zschokkes Persönlichkeitsentwicklung aber von enormer Bedeutung. Er wurde selbstbewusster, verlor wenigstens zum Teil sein linkisches, schüchternes Benehmen und lernte sich im Umgang mit unterschiedlichen Menschen behaupten. Seine idealistische Vorstellung von Schauspielern als Trägern von Idealen verflüchtigte sich rasch,109 dafür eignete er sich Schlagfertigkeit, Wortwitz und eine ironisch gebrochene, rhetorisch überhöhte Redeweise an. Seine Vitalität, die bisher durch Bevormundung und Regeln gehemmt wurde, konnte sich hier freier entfalten. Er reifte vom Jüngling zum Mann, jedoch kaum in sexueller Beziehung; daran hinderte ihn seine Prüderie und Unbeholfenheit im Umgang mit Frauen. Was ihm aus dem Leben der Schauspieler relevant schien, schilderte er in «Eine Selbstschau»,110 in mehreren Zeitschriftenaufsätzen und in einem satirischen Roman über das Leben einer wandernden Theatertruppe.
Zschokkes Aufgabe bestand in Sekretariatsarbeiten und im Verfassen von Prologen und Epilogen. Er habe ausserdem, schrieb er, «ein Paar Saus- und Grausstücke» verfasst und andere Dramen bearbeitet oder gekürzt.111 Von solchen «Saus- und Grausstücken» ist, bis auf «Graf Monaldeschi», das aber schon früher entstanden war, nichts bekannt. «Graf Monaldeschi» ist auch das einzige Stück, von dem wir wissen, dass es aufgeführt wurde. Auch von Pro- und Epilogen ist keine Spur mehr vorhanden.
Die Prologe – der berühmteste der deutschen Literaturgeschichte ist zweifellos jener, den Goethe seinem «Faust» voranstellt – wurden beim ersten Auftritt der Gesellschaft in einer Stadt oder zu Anfang einer Aufführung vorgelesen oder deklamiert, um das Publikum anzuheizen, es auf das einzustimmen, was es zu erwarten hatte, und um anwesender Prominenz oder Gönnern zu