aus dem Latein nicht mithalten, aber er bekam durch ihn einen neuen Zugang zur lateinischen Sprache und Literatur, ein Gefühl für ihre Schönheit und Würde. Die Bekanntschaft mit Boguslawski bildete einen Gegenpol zur lärmigen, oberflächlichen Welt des Theaters. Sie liess ihn erkennen, dass man sich mit Enthusiasmus einer Sache widmen konnte, ohne gleich an den Nutzen zu denken, und dazu noch in einem Fach, das er bisher mit Schule und Zwang verband. Er realisierte, dass es dabei auf die innere Einstellung ankam, der Gegenstand dagegen unerheblich war. Vielleicht fasste Zschokke damals den Vorsatz, mehr aus seinem Leben zu machen, statt mit Gelegenheitsdichtungen auf den grossen Erfolg zu warten und dabei zu riskieren, als brotloser Künstler unterzugehen.
Neben Horaz und Vergil arbeitete Boguslawski an einer Übersetzung der «Ilias», deren ersten Gesang er 1787 «travestiert» herausgegeben hatte.124 Das bedeutete, dass er sich weniger um eine wörtliche Übersetzung bemühte, sondern darum, den Kerngehalt in die eigene Sprache zu bringen. Begeistert nahm Zschokke diesen Gedanken auf. Eine Übersetzung sollte nicht eine originalgetreue Übertragung, sondern eine Eindeutschung sein, die den Text dem heutigen Leser verständlich mache. Man müsse sich zwar bei einem klassischen Text die Toga anziehen und das veredelte Altertum wieder auferstehen lassen, aber eines, das glaubhaft sei, indem man die Verfeinerungen der Kultur und die Eigenarten des deutschen Publikums mitberücksichtige. So ungefähr äusserte sich Zschokke im Januar 1795 in Berlin vor einer gelehrten Gesellschaft in einem Vortrag über poetische Verdeutschungen aus dem Latein.125
Besonders lobenswert fand Zschokke die Übersetzungen des Martial durch Karl Wilhelm Ramler (1725–1798), und er griff die Kontroverse auf, ob die Übertragung aus anderen Sprachen und Zeiten, wie in der Schule oder von Philologen praktiziert, Wort für Wort und Satz für Satz erfolgen oder sich der eigenen Sprache anpassen müsse. Zschokke entschied sich für den zweiten Weg, auch als er 1805 die Komödien von Molière und 1837 die Erzählungen des Genfers Rodolphe Töpffer übertrug, was dieser einmal «eine Travestie ohne Treue» nannte. Eine Travestie schien Zschokke aber der einzig gangbare Weg, den Empfindungen und der Mentalität der Deutschen gerecht zu werden und Literatur lebendig werden zu lassen. Der Übersetzer wurde so zum Nachdichter, deshalb war das Einfühlungsvermögen und die stilsichere Beherrschung des Deutschen wichtiger als eine gute Kenntnis des Französischen oder Lateinischen.
Statt sich mit Boguslawski auf einen Übersetzerwettstreit einzulassen, hatte Zschokke die Idee, selber ein Epos in Hexametern zu verfassen. Er nahm sein früheres Motiv von der Eroberung Magdeburgs wieder auf und erweiterte es zum Plan einer grossen Dichtung über den Dreissigjährigen Krieg. Soweit es sich aus den Fragmenten und wenigen Angaben beurteilen lässt, sollte es ein Panorama von Krieg und Zerstörung, Heldentum und Verrat, Leid und Leidenschaften werden. Eine grosse Liebe kam auch darin vor: zwischen dem evangelischen Administrator Magdeburgs Christian Wilhelm (dem offiziellen Landesfürsten) und der Katholikin Sidonia. Zschokke nannte sein episches Gedicht «Der heilige Krieg», und es besteht kein Zweifel, dass er damit nicht nur den Krieg des schwedischen Königs gegen den Habsburger Kaiser meinte, sondern den Krieg der Protestanten für die Religionsfreiheit und gegen das usurpatorische Papsttum. Den ersten Gesang mit 450 Hexametern, der während der Belagerung Magdeburgs spielt, veröffentlichte er 1794 im zweiten Teil seiner Sammlung «Schwärmerey und Traum in Fragmenten, Romanen und Dialogen von Johann von Magdeburg». In einer kurzen Vorrede notierte er, er habe das Projekt im 18. Lebensjahr (also in Prenzlau) angefangen, dabei aber die Schwierigkeiten der Ausführung unterschätzt.126 Der Anfang ist stark an die «Ilias» angelehnt und das ganze Werk weniger eine ernstzunehmende Dichtung als der Versuch, ein für ihn neues Stilmittel zu erproben.
SCHRIFTSTELLERTEUFEL
Beim «ersten Frühlingshauch» des Jahrs 1789 packten Burgheim und Zschokke ihre Sachen und zogen mit ihrer Künstlerschar nach Landsberg an der Warthe, um dort ihre Bühne zu eröffnen. Im Frühsommer löste sich die Truppe auf: Christian Friedrich Runge ging mit einem Teil der Truppe weg,127 Burgheim entliess nach und nach die übrigen Schauspieler und blieb in der Stadt, um seine geschwächte Gesundheit zu pflegen.128
Ansicht von Landsberg (dem heute polnischen Gorzów Wielkopolski) von Süden, mit der Warthe im Vordergrund, wo sich auch ein Bootshafen befand. Dieser Anblick dürfte sich Zschokke geboten haben, als er im Frühling 1789 mit der Theatertruppe Wilhelm Burgheims über die Brücke in die Stadt einzog. Hier verbrachte er ein Jahr, dichtete und bereitete sich auf die Universität vor.
Die Krönung von Zschokkes theatralischer Sendung war es, als in Landsberg sein «Monaldeschi» aufgeführt wurde. Dieser Erfolg war Grund genug, gegenüber seinen Verwandten sein anderthalbjähriges Schweigen zu brechen. Er sei in der Stadt allseits bekannt und geliebt, schrieb er an Andreas Gottfried Behrendsen. «Was kann ich mir mehr also noch wünschen?»129 Trotz dieses Triumphs rührte er einige Jahre lang kein Theaterstück mehr an, sondern verarbeitete seine Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Theater in Aufsätzen und im satirischen Roman «Der Schriftstellerteufel», der Anfang 1791 in Berlin erschien.130 Es ist ein aberwitziges Buch, sicher etwas vom Humorvollsten, was Zschokke je verfasste, eine Art Studentenulk, der noch heute vergnüglich zu lesen ist.
Zschokke hatte ein Gebiet gefunden, das er in Cranzscher Manier satirisch bearbeiten konnte. Er bereicherte die «Gallerie der Teufel» um ein weiteres, nicht unsympathisches Mitglied, den Satan Merimatha, «König, Apoll und Gesezgeber aller elenden Autoren und Autorinnen, Wochenblätter und Pamfletenschmierer etc. etc.»131 Merimatha ist Herr über die Hölle für Schriftsteller, die mit der Makulatur der deutschen Belletristik geheizt wird, und von da steigt er zur Erde hinauf, da ihm das Heizmaterial ausgeht und die Höllenfeuer zu erlöschen drohen.
Merimatha will den schlechten Büchern zu ihrem Recht verhelfen und die Lage seiner Schutzbefohlenen, der deutschen Poeten, verbessern. Zu diesem Zweck reist er selber als Poet durch Deutschland, angetan mit den Requisiten, die ihn als verkanntes Kraftgenie ausweisen: verwahrloste Kleidung, ungepflegte Haare, tintenbekleckste Finger, eine Lorgnette, die er alle Augenblicke an die Nase hält, und eine verworrene Sprache. «Das ist der feinste sinnlichste Autorkniff, um das Volk zu täuschen, es glauben zu machen, du habest durch nächtliches Studieren deinen schönsten Sinn verloren», rät ihm Machiavelli, den er um Rat gebeten hat.132
In Purlenburg, das man sich als irgendeine deutsche Provinzstadt denken kann, wird Merimatha von der «bekannten Kümmelschen Schauspielergesellschaft» für eine mickrige Gage als Theaterdichter engagiert: «Über anderthalb Thaler wöchentlich kann ich Ihnen nicht geben; mein erster Liebhaber bekömmt nur drei!», sagt Kümmel.133 Als Einstieg verfasst Merimatha einen Prolog, der von der Direktrice rezitiert werden soll:
«Der Vorhang ging auf; mir schlug das Herz gewaltig; ich zitterte ungeduldig, meinen schönen Prolog aus dem Munde der Madame Kümmel zu vernehmen. Sie kam – knixte – stotterte – schwankte und sank beinahe in Ohnmacht. Mir vergingen alle fünf Sinne; ich sah nicht; ich hörte nicht. Mühsam radebrechte sie dies Meisterstük eines Prologs zu Ende, und empfahl sich. Hierauf folgte der Graf von Essex, in welchem der kleine Herr Kümmel in seinem weißen Sonntagskleide, mit einer papiernen Feder auf dem Hut, den großen Essex martialisch herdeklamirte. –
Das Stück schlief sich glüklich aus.»134
Um den Misserfolg auszubügeln, entwirft Merimatha den Plan «zu einem fürchterlichen Originaltrauerspiele: die Eroberung und Zerstörung von Purlenburg, in fünf Akten». Der Inhalt erinnert nicht zufällig an «Monaldeschi», da sich Zschokke hier und an anderen Stellen im Roman selber persifliert:
«Ich will nicht erwähnen, daß mein Stük gräslicher flucht, als ein Schillerscher Libertin; unsinniger rast, als Klingers Guelfo; daß im vierten Akt schon Weib und Kind, wie Rüben, auf dem Theater herumgemäht liegen, und alles erstochen, erschossen, ersäuft, erhängt, erschlagen, vergiftet ist, was in den vorigen Aufzügen Odem saugt; nicht erwähnen, daß der fünfte aus lauter Geisterszenen, schauerlich und grauerlich, zusammengesponnen ist, – denn man hat seine Noth von den übrigen vagabundirenden Truppen, welche nur nach derlei Grausspielen