Konsistorialrat, und Landsberg fiel deshalb in seinen Einflussbereich; er war also nicht zufällig hier zu Besuch, und Zschokke nutzte die Gelegenheit, mit ihm über seine Pläne und finanziellen Sorgen zu sprechen. Darüber schrieb er an Behrendsen am 12. Juni 1789: «... ich bin durch eine der ansehnlichsten Familien allhier dem berühmten Steinbart, Prof. der Univers[ität] vorgestellt worden, bei welchem ich nicht allein freie Kollegia, sondern auch freie Wohnung erhalten werde.» Damit war es entschieden, dass er nicht wie die meisten Magdeburger nach Halle, sondern wie andere Neumärker an die Viadrina gehen würde. Ob der Wunsch, Steinbarts «System» zu studieren, bereits eine Rolle spielte, wissen wir nicht. Während es jenseits des Rheins wetterleuchtete und schliesslich ein Gewittersturm losbrach, richtete sich Zschokke im hintersten Winkel Deutschlands behaglich ein. Ein Dichterstübchen besass er zwar nicht, wohl aber eine Gelehrtenstube, wo er von seiner Wirtin, einer Frau Bunzel, mütterlich umsorgt wurde.
«Im Sommer 1789 befand ich mich zu Landsberg an der Warta, in der Neumark. Ich war an einem schönen Morgen ausgegangen ins Freie, jenseits des Flusses, wo einzelne Landhäuser an dessen Ufer zerstreut umher gelagert sind. Niemand begleitete mich, als mein Horaz. Aber wie mocht’ ich ihn lesen? Himmel und Erde waren zu schön. Ich schwelgte mit allen Sinnen in den Wundern der Natur, schwärmte über Hügel und Thal, und fühlte nichts, als das süße Glück zu leben.
Ich behielt den römischen Dichter in der Tasche, sang und jauchzte; meine Empfindungen waren lyrisch; sie bedurften des fremden Anglühns nicht. [...]
Erst spät kehrt’ ich zurück. Es war schon Mittag, als ich zu Madame B** ins Zimmer trat. Sie erwartete mich schon längst zum Essen.
Wir speiseten allein in ihrem Zimmer. Fröhliche Gespräche versüßten das Mittagsmahl.
Bald nach Tische gieng Madame B** hinaus. Ich warf mich, nachdem ich einige Gänge gemacht hatte, in einen Lehnsessel, der nahe am Fenster stand, vor welchem die weissen Mousselinvorhänge niedergelassen waren, so wie vor dem andern Fenster des Zimmers, um den einfallenden Sonnenstrahlen zu wehren.»151
So begann Zschokkes Bericht darüber, wie er plötzlich gewahr wurde, dass er seinem imaginären Doppelgänger gegenüber sass. Diese Episode zeigt, wie stark er mit sich selber beschäftigt war. Er hatte sich in kürzester Zeit körperlich derart verändert, dass er sich selber nicht wieder erkannte: «In Pensionen und Schulzimmern zwischen Büchern erzogen, war mein körperliches Wachsthum lang zurückgehalten worden. Ich war bis in mein achtzehntes Jahr klein und unansehnlich geblieben; dann aber entfalteten sich meine physischen Kräfte schnell. Ich wuchs, und sah bald über diejenigen meiner Altersgenossen hinweg, die mich vorher an Größe übertroffen hatten.»152
Auch in seiner Persönlichkeit war seit seinem Abschied aus Magdeburg eine grosse Veränderung eingetreten. Er befand sich in einem Übergang zwischen Jugend und Erwachsenem, wusste nicht, wer er war, was aus ihm werden und wie er sich einschätzen sollte. Er fühlte sich als Schüler, Dichter und Gelehrter zugleich und las, was ihm in die Hände fiel. Dadurch wurde seine Phantasie weiter beflügelt, und er hatte nach ausgedehnten Lektüren und durchwachten Nächten wie früher in Magdeburg vermutlich mehr als einmal Mühe, Einbildung und Wirklichkeit, Wachtraum und Realität voneinander abzugrenzen.
Im Oktober 1789 schrieb Zschokke an Christoph Martin Wieland und bot ihm den ersten Gesang seiner Versdichtung «Orian» für den «teutschen Merkur» zum Abdruck an. In seinem Brief skizzierte er kurz seinen poetischen Lebenslauf, der auch inhaltlich erdichtet war: Er sei Sohn eines Tuchmachers von gutem Herzen, der ihm «zwei gesunde Hände, ein reines Herz und eine dichterische Ader» hinterlassen habe, und wann immer er einen geistreichen Knittelvers verfasste, sei er von seiner andächtigen Familie, «von den Reimen herzlich erbaut, mit einem wolgemeinten Seegen» aufgenommen worden. «Mein Verstand reifte mit den Jahren. Ich las die Dichter der Alten und Neuen; pflegte meinen Geist mit den Meisterstükken der Muse iedes Zeitalters; spürte zuweilen im Taumel der Entzükkung einen unbekannten Trieb ähnliche Flüge zu wagen, ohne daß ich diesem Trieb einen Namen geben konnte. Ich begnügte mich damit unterweilen ein Epigram zu schmieden; eine Romanze war mein kühnstes Wagestük.»153
Vor allem Wielands «Oberon» habe ihn tief beeindruckt, die Abenteuer des Ritters Hüon im Morgenland. Hier, in einer Märchenwelt, halb 1001 Nacht, halb Ritterzeit des Frühmittelalters, siedelte Zschokke auch sein Versepos «Orian» an. Das Versmass der Stanzen (Ottave rime) lieh er sich ebenfalls bei Wieland aus, der seinerseits italienische Vorbilder benutzte. In Zschokkes Fabel verwandelt der mächtige orientalische Fürst und Zauberer Orian seine beiden Töchter in eine Sirene und einen gespenstischen Schatten, weil sie seinem Befehl nicht gehorchten. Nur zwei sie liebende Ritter können sie erlösen. «Soweit der Plan.» Zschokke wartete vergeblich darauf, dass ihm der bewunderte Dichter eine «gütige Antwort, damit ich meiner schwankenden Ungewisheit wegen des Schiksals meines Kindes desto früher entbunden werde», schicke. Und er wartete auch darauf, dass der Anfang des «Orian» im «teutschen Merkur» erscheine, so dass er weiter hätte dichten und Wieland «privatim ein mehreres über meine Person entdekken» können.154
Von diesem «Orian» ist noch ein kleines Fragment vorhanden, das Zschokke in seinen Roman «Geister und Geisterseher» an der Stelle einfügte, wo Wilhelm Walter von einer Dirne verführt wird.155 Auch in der freizügigen Erotik waren Wielands Versgedichte, von «Musarion» über «Agathon» bis «Oberon», Zschokkes Vorbild. Er vermerkte dazu: «Aus einem noch ungedrukten, romantischen Gedichte: die Helmaiden, erstes Buch.»156
Wielands Schweigen hielt ihn nicht davon ab, in dieser Art weiter zu dichten. 1793 gab er ein Buch heraus, «Die Bibliothek nach der Mode», dessen Untertitel, «Erstes Bändchen», eine Fortsetzung versprach.157 Es ist nirgends mehr aufzutreiben, vielleicht, weil es nicht nur den Rezensenten der «Allgemeinen Literatur-Zeitung» empörte. Schon der erste der beiden Beiträge, die Erzählung «Die falschen Münzer» stiess ihn ab, nicht nur, weil die Hauptperson «eine unglückliche Kopie von Schillers Karl Moor, ein edler Mann und zugleich Anführer einer Bande edler Räuber und falscher Münzer ist», nein, schon der Anfang, wo ein junges Fräulein mit einem nackten Burschen zusammengebracht werde, sei frech und schlüpfrig.158 Der Rezensent der «Allgemeinen deutschen Bibliothek» – Freiherr von Knigge159 – schloss sich an: «Die Schreibart ist incorrect, und Scenen der Wollust malt der Verf[asser] in diesem Romänchen und in dem Gedicht, wovon wir sogleich reden werden, mit solchen Farben aus, daß man wohl sieht, wie wenig ihm Beförderung der Sittlichkeit am Herzen liegt.»160 Auch Knigge meinte, Schillers Räuber sei geplündert worden.
Hat man bei Schiller aber schon den Eindruck, es sei nur Zufall, dass der eine Bruder zum Ausgestossenen und Räuber wird und der andere als braver Sohn und Biedermann gilt, so ging Zschokke noch einen Schritt weiter, indem er beide Charaktere in einer Person vereinte. Es tritt also das Motiv der doppelten Persönlichkeit hinzu, ein Dr. Jekyll und Mr. Hyde mit der Janusmaske des Verbrechers und des braven Bürgers. Auch der Titel «Die falschen Münzer» enthält die zweifache Bedeutung des falschen Falschmünzers. Aus dieser Grundidee entwickelte Zschokke später sein Erfolgsstück «Abällino, der grosse Bandit». Dass sich die beiden Seiten der Person am Schluss sauber voneinander trennen und das Gute obsiegt, ist eine Schwäche von Zschokkes Ansatz.
Der zweite Beitrag hiess «Atlantis oder die Entdeckung von Madera, ein episch romantisches Gedicht in gereimten Stanzen». Er beruht auf einer Sage, die den Besuchern Madeiras heute noch erzählt wird: Ein englischer Edelmann floh im Jahr 1346 mit seiner nicht standesgemässen Geliebten übers Meer, wurde vom Sturm abgetrieben und strandete auf einer Insel, wo das Mädchen an Heimweh und er bald darauf an Trauer starb. So wurden die beiden unwissentlich und aus Zuneigung füreinander Entdecker der Insel Madeira, von der die Kunde ging, dass sie das sagenhafte Atlantis sei.161
Abgedruckt wurden in der «Bibliothek nach der Mode» die ersten beiden Gesänge von diesem Versepos, und darin eine Liebeszene zwischen Arabelle und Lyonnel, die stärker in Details ging, als das Schamgefühl des durchschnittlichen Lesers es gestattete.162 Zwar erfuhr man nicht viel mehr über Sex als in einschlägigen Stellen bei Wieland. Dort hatten sich die Literaturrichter allerdings darauf geeinigt, es als Kunst zu betrachten, was man einem anonymen Dichter nicht verzeihen