dringen und die hinzuphilosophierten metaphysischen Lehrbestimmungen des Systems von der Lehre Christi unterscheiden, übrigens jedem es überlassen, in solchen spekulativen Dingen zu denken, wie er es zur Ehre Gottes und Christi nach seiner Philosophie am gemäßesten findet».34 In diesem Sinn hielt er auch seine Vorlesungen. Was er als Irrtum betrachtete, wollte er nicht als Wahrheit ausgeben, auch wenn es von einer Kirche mit dem Siegel des göttlichen Ursprungs versehen wurde. Damit stellte er sich quer zur orthodoxen Strömung in der Theologie, die nach dem Tod von Friedrich II., der jeden nach seiner Façon selig werden lassen wollte, die Politik beherrschte.
Im Wintersemester 1790/91 und im darauf folgenden Sommersemester belegte Zschokke täglich um zehn Uhr Steinbarts zweiteilige Vorlesung «Einführung in die christliche Theologie für Lutheraner». Auch hier liegt, in zwei Quartbänden, Zschokkes Mitschrift vor. Es war Steinbarts theologische Grund- und Hauptvorlesung, die er alle zwei Jahre wiederholte. Darin vermittelte er einen Überblick über die Geschichte der christlich-jüdischen Theologie. Die griechische Philosophie behandelte er ausführlicher als die hebräische Bibel, wie das Alte Testament damals oft genannt wurde. Theologie in einem weiteren Sinn war für Steinbart die Beschäftigung mit den Grundfragen der Existenz. Antworten darauf gab das Leben Jesu’. Nach einem Streifzug zur Entstehung des Christentums und quer durch die Kirchengeschichte bis zur Gegenwart beendete Steinbart den ersten, historischen Teil mit einer Charakteristik der für den aufgeklärten Theologen wichtigsten Denker der unmittelbaren Vergangenheit, darunter auch die französischen Freigeister Voltaire, Diderot, Helvetius und Rousseau.
Steinbart wusste, was seine Studenten von seinen Vorlesungen erwarteten. Obwohl er angeblich keine eigene Lehrmeinung vertrat und sich auch in der Philosophie nicht in Streitigkeiten der verschiedenen Schulen einmischen wollte, besass er doch eine deutliche Vorstellung von der Wahrheit: seine Glückseligkeitslehre. Also baute er sie auch hier ein. Bereits im ersten Abschnitt, vom Zweck der Religionen überhaupt, erklärte er die Religion zur höheren Glückseligkeitslehre. Zschokke folgte ihm darin und machte sich Steinbarts Ansicht für seine Weltanschauung zu eigen, hatte aber einen Vorbehalt, den er als Anmerkung in seine Vorlesungsnotizen eintrug: Falls die Existenz Gottes und ein Leben nach dem Tod die notwendigen Voraussetzungen waren, um die Menschen der höchsten Glückseligkeit zu versichern, wie können wir dann zuversichtlich sein, dieses erstrebte Ziel wirklich zu erreichen, solange wir von Gott und vom Jenseits keine positive Gewissheit haben?35
Im zweiten, dogmatischen Teil behandelte Steinbart die Lehre von der heiligen Schrift als Erkenntnisquelle der christlichen Theologie, ging aber nicht auf die verschiedenen Bücher im einzelnen ein, sondern referierte auch hier über grundsätzliche Fragen und den Umgang mit der Bibel. Da er sich darin auch mit der Lehre von Gott, den Beweisen seiner Existenz und seinen Eigenschaften befasste, sprach man von Dogmatik, und so ist dieser zweiteilige Vorlesungszyklus auf dem Buchrücken von Zschokkes Notizen mit «Steinbarts Dogmatik I» und «Steinbarts Dogmatik II» beschriftet.
Dass diese Vorlesung über die Fakultätsgrenzen hinaus Beachtung fand, belegt ein Brief von Zschokkes Studienfreund Theodor Heinrich Burchardt, dem Landsberger Justizrat, der sich noch 1845 erinnerte, Steinbarts Dogmatik mitverfolgt zu haben, zwar nicht als Hörer – dazu fehlte ihm die Zeit –, sondern nach der Mitschrift eines Kommilitonen.36 Viel von seiner religiösen Denkweise, die damals von Steinbart mitgeprägt wurde, schrieb er, habe er auch in Zschokkes «Selbstschau» wieder gefunden. Man kann behaupten, dass Steinbart einer ganzen Generation von Studenten an der Viadrina seinen Stempel aufdrückte.
Das ehemalige Kollegienhaus der Viadrina, wo sich auch die Universitätsbibliothek befand. Hier ging Zschokke ein und aus. Heute ist hier das Frankfurter Stadtarchiv.
Dass der Mensch das, was er tun solle, auch wolle, da es seinem innersten Wesen entspreche, war Steinbarts Botschaft an die Studierenden. Alle Tugend müsse williger innerer Trieb sein. Im Satz «Du sollst gern wollen!» liege die Idee unseres Strebens, schrieb er Zschokke in seinem einzigen noch vorhandenen Brief.37 Steinbart, der sich eher am Leben orientierte als an absoluten Begriffen, bemerkte zu Kants moralischem Gesetz ironisch: «Der Magen hat auch seinen kategorischen Imperativ: Befriedige mich!»38
Was die Studenten an Steinbart überzeugte, war nicht nur sein Vortrag, sondern die Übereinstimmung von Lehre und Person. Er wird als «liebenswürdige, gesellige Natur» geschildert, schon vom Äusseren als einnehmender Mann. «Auf seiner Stirne sitzt der Verstand und auf seinen Lippen sanfte Beredsamkeit», meinte eine Durchreisende,39 und in Justinus Pfefferkorns Beurteilung der Professoren wird er als «ein wahrer Redner, der seine Zuhörer ganz zu lenken, zu belehren, zu rühren, zu erheitern weiß, ohne daß man Kunst dabey gewahr zu werden glaubt», gerühmt.40 Zschokke verehrte ihn und klebte Steinbarts Schattenriss auf das Titelblatt vom ersten Band der «Dogmatik», selbst wenn er philosophisch eher zu Kant neigte, mit dem Steinbart nicht viel anfangen konnte.41
Die Ausbildung der lutherischen Theologen an anderen Universitäten mochte raffinierter, umfassender, forschungsintensiver sein;42 der Umstand, dass an der Viadrina die theologische mit der philosophischen Fakultät verknüpft war, war aber auch ein Vorteil: So konnte man Ansichten vertreten, die von der Doktrin eines Luther oder Melanchthon und der darauf aufbauenden Orthodoxie oder auch von Woellners Edikten meilenweit entfernt lagen. Steinbart lehrte, in der Nachfolge seines Lehrers und Vorgängers Johann Gottlieb Toellner (1724–1774) auf dem doppelten Lehrstuhl für Philosophie und Theologie an der Viadrina, auch die «natürliche Religion». In der Natur, so war Steinbart überzeugt, spreche Gott ebenso zu den Menschen wie in der Heiligen Schrift. Damit vertrat er die Idee der doppelten Offenbarung, die auch Menschen den Zugang zu Gott ermögliche, die «den herrschenden Vorstellungen und Regeln, welche die Christen in der Bibel zu finden glauben», nicht folgen könnten oder wollten. Die natürliche Theologie beantwortete auch die durch Römerbrief 1, 18 ausgelöste Streitfrage, ob Menschen, die mit der christlichen Lehre nicht in Berührung kämen, dennoch Gott erkennen und seiner Gnade teilhaftig werden könnten.43 Im Wintersemester 1790/91 las Steinbart explizit über theologia naturalis; bezeichnenderweise wurde diese Vorlesung in der philosophischen Fakultät angekündigt, war also ebenfalls für alle Studenten zugänglich.
Von dieser Vorlesung ist uns kein Exzerpt Zschokkes überliefert, aber die dahinter steckende Idee, dass Gott in der Natur, ja in der ganzen Weltordnung sichtbar sei, wurde ein Eckpfeiler seiner eigenen religiösen Weltanschauung. 1819 erschien erstmals Zschokkes Buch «Gott in der Natur. Ein Andachtsbuch in Betrachtungen der Werke des Schöpfers», eine Ausgliederung aus den achtbändigen «Stunden der Andacht zur Beförderung wahren Christenthums und häuslicher Gottesverehrung». Darin stellte er die Betrachtung der Natur als spirituelles Erlebnis dar und verband Barthold Heinrich Brockes’ gefühlvolle religiöse Gedichte, die ihm seit Kindheit vertraut waren, mit Steinbarts Religionsphilosophie und eigenem Naturerleben. Im Sommer 1794 kündigte er als Privatdozent an der Viadrina selber eine Vorlesung zur natürlichen Theologie an.
Es gibt kein Indiz dafür, dass Zschokke neben den Vorlesungen und Übungen Steinbarts noch andere theologische Veranstaltungen besuchte. Hätte Zschokke sein Theologiestudium gründlich betrieben und sich auf die Ausbildung zum Pfarrer konzentriert, hätte er wohl alle zu diesem Zweck angebotenen Veranstaltungen und Hilfestellungen benutzt. Aber das wollte er gerade nicht. Bei Steinbart fand er bereits den für ihn einzig gangbaren Weg, eine auf philosophischen Grundlagen beruhende Theologie, und da Steinbart das ganze Curriculum der theologischen Lehre und Ausbildung abdeckte, fühlte er sich ausreichend versorgt. Oder anders gesagt: Die Einsichten, die er bei Steinbart gewann, weckten keine Neugier nach theologischen Sophistereien anderer Professoren. Es ist immerhin denkbar, dass er sich an Professor Hermanns Anleitungen und Übungen zum praktischen Kanzelvortrag beteiligte, vielleicht nicht so sehr aus theologischen Gründen, sondern weil ihn die Frage der wirkungsvollen Rede interessierte.
Im kurzen Lebensabriss Zschokkes schrieb Carl Renatus Hausen: «In der Theologie und Philosophie war der Ober-Schul-Rath und Professor Steinbart sein Lehrer, in der leztern auch der Doctor und Professor Berends. Beide verehrt derselbe[,] wie er mir in mehrern Briefen schreibt. Er hatte vielen Trieb und Talent zur