Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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August Wilhelm Berends (1759–1826) war Arzt des Kreises Lebus und der Stadt Frankfurt (Oder) und seit 1788 Professor der Medizin. Er hielt im Wintersemester jeweils eine philosophische Vorlesung, gewöhnlich zur Logik, wobei er auch die empirische Psychologie miteinbezog und seinen Ausführungen die «Philosophischen Aphorismen» Ernst Platners (1744–1818) zugrunde legte, seines Berufskollegen in Leipzig. Im Wintersemester 1790/91 hielt er eine Vorlesung über Metaphysik, ebenfalls nach Platner, die er im Jahr darauf modifiziert als «Transzendentelle Philosophie (ehemals Metaphysik)» ankündigte. In der Anzeige dazu erklärte er, er werde die «Kritik der reinen Vernunft voranschicken, um die Zuhörer zur Beurteilung geschickt zu machen, ob diese wohl über jene transcendentellen Gegenstände etwas ausmitteln oder lehren könne? Er wird zugleich die alten Systeme der sogenannten Metaphysik vor der Kantischen Reformation der Philosophie erklären, und deshalb Platner’s philosophische Aphorismen zum Grunde legen».45 Das ist insofern von Bedeutung, da Minister Woellner darüber wachte, dass an seinen Universitäten kein Theologe über Kant las, dem der König 1794 per Kabinettsbeschluss ein Publikationsverbot erteilte.46

      Was Zschokke an Gedankenschärfe bei Steinbart vermisste, fand er bei Berends in hohem Grad. Justinus Pfefferkorn war über ihn des Lobes voll: «Er ist Philosoph, und was bey einem Arzt vorzüglich zu schäzzen ist, Skeptiker; besizt ausserordentliche Belesenheit, gründliche Sprachkenntnisse, feinen Scharfsinn und glänzenden Wiz.»47 In seiner Dissertation, eine erkenntnistheoretische Studie, die sich mit der Hypothesenbildung befasst, bezeichnete Zschokke Berends als «vir intelligentissimus, et quem praeceptorem summa pietate colo» (einen sehr intelligenten Mann, den ich als Lehrer mit höchster Ehrfurcht verehre). Dieses Lob war keine blosse Schmeichelei, sondern entsprach persönlicher Zuneigung und Bewunderung.

      An der Viadrina brach Zschokkes alte Wunde wieder auf, sein Zweifel an Gott, an der Bestimmung des Menschen und an der Weiterexistenz nach dem Tod. Luthers Wort, ihm vom Vater mit auf den Weg gegeben, «Christum lieb haben, ist beßer denn alles Wissen», konnte diese Ungewissheit nicht mehr überdecken, denn studieren hiess forschen, Fragen stellen, Widersprüche aufdecken. Es bedeutete, konträre Hypothesen zuzulassen und liebgewordene Ansichten allenfalls zu verwerfen. Die Frage nach der Existenz Gottes konnte in dem rationalistischen Geist, der an der Viadrina herrschte, nicht ausbleiben. Steinbarts System der höchsten Glückseligkeit setzte voraus, dass ein «höchster Anordner» alles plane, überwache und zum Besten richte; falls dies nicht stimmte, verlor das Lehrgebäude seinen Halt.

      Zschokke wollte Steinbart, den er ausserordentlich schätzte und um dessen Anerkennung er warb,48 in dieser intimen Angelegenheit offenbar nicht um Rat fragen. Also wandte er sich an Berends, den Skeptiker, was er sicher nicht getan hätte, wenn er nicht sein Wohlwollen empfunden und ihm Vertrauen entgegengebracht hätte. Berends riet ihm: «Hören Sie keine Philosophika. Das Philosophiren läßt sich nicht lernen; so wenig, als das Dichten. Thun Sie, wie ich gethan habe; studiren Sie Geschichte der Philosophie, und zwar das Wesentliche der Philosopheme, in den Werken der Denker selbst. Ein jeder muß sein Glauben und Wissen in sich selber aufbauen, wenn er nicht in fremdem Hause wohnen mag.»49

      Den Rat, auf das Philosophieren zu verzichten, konnte Zschokke nicht umsetzen; dass er seinen Weg zur Wahrheit selber suchen musste, ahnte er schon. Wahrscheinlich legte er Berends diese Aussage nachträglich in den Mund, die als Frucht eigener Erkenntnis langsam in ihm reifte. Hinter seinen Wissensstand zurückgehen konnte er nicht. Der Rat zur Umkehr kam zu spät.

      Berends war ein sehr beliebter Dozent, und Zschokke hatte die Ehre, ihm zu einem nicht bekannten Anlass 1795 im Namen der Studierenden an der Viadrina ein Festgedicht zu überreichen. Obschon er sich während seines Studiums hauptsächlich auf ihn und Steinbart stützte, bemühte sich Zschokke doch stets, seine eigene Wahrheit zu finden und sich von Doktrinen fernzuhalten. Dies gibt seinen wissenschaftlichen Bemühungen oft etwas Improvisiertes und Autodidaktisches, auch wenn er sich an einer Lehrstätte bewegte. In einem frühen philosophischen Werk, den «Philosophischen Nächten» (1794), die er als «Plaudereien» bezeichnete, schrieb er:

      «Ich erkenne keine Schule, keinen Meister. Betrachte mich, lieber Leser, als einen Laien, oder wenn du lieber willst, als einen Partheigänger. Zwar hört’ ich bei einem sehr berühmten Manne über Baumgarten dogmatisiren, bei einem weniger berühmten über Kant und Plattner skeptisiren, aber weder der Glaube des einen, noch der feine Zweifel des andern vollendete mich zu dem, was ich bin, wenn gleich beide ihren Theil dazu beigetragen haben können.»50

      Damit waren Steinbart und Berends gemeint.51 Es scheint, dass Zschokke sein Pensum nicht mit Veranstaltungen überlud. Da er mit Zeit und Geld sparsam umgehen musste, auf einen raschen Studienabschluss hinarbeitete und daneben anderen Beschäftigungen nachging, überlegte er es sich genau, wen er hörte und woran er sich orientierte. Die zweieinhalb Jahre nach seiner Promotion benutzte er dazu, sich umfassenderes Wissen anzueignen. Das eigentliche Studium und die Zeit als Privatdozent werden in der Biografie Zschokkes zuweilen miteinander vermischt, da er sich selber dazu nur knapp und unklar äusserte.52

      Er habe, schrieb Zschokke in «Eine Selbstschau», zunächst den Umgang mit Studenten bis auf jene gemieden, die er von Landsberg her kannte; den anderen Studenten sei er mit Distanz begegnet. Aus der Warte des 70-Jährigen formulierte er: «Der vollen Freiheit längst gewohnt, waren mir ihre sogenannten akademischen Freiheiten und Renomistereien lächerlich; ihre Landsmannschaften, Konstantisten-, Unitisten- und andre Orden kindische Spielerei.»53

      Diese Zurückhaltung galt also dem damals üblichen Studententreiben und den Verbindungen, die man grob in Landsmannschaften und Orden einteilen konnte. Die traditionelle Korporation der Studenten erfolgte nach ihrer Herkunft oder Nation. An der Viadrina bestanden seit Beginn eine märkische, fränkische, schlesische und preussische Landsmannschaft; sie wurden trotz ihrer Harmlosigkeit 1732 verboten.54 Die Gründe dafür waren zunächst nicht politisch; das Verbot war als Massnahme gegen «alles ungesittete Betragen der studentischen Jugend» gedacht. So begründete Friedrich der Grosse 1782 seinen Erlass gegen «die unter den Studenten zeithero übliche Verbindungen von Landsmannschaften, Orden und dergleichen».55

      Eine Alternative zu diesen national oder sprachlich gegliederten Landsmannschaften waren Studentenorden, wie die seit den 1770er-Jahren in Jena, Halle, Göttingen und Erlangen aufschiessenden Bünde der Unitisten, Constantisten, Confidentisten, Harmonisten oder Independisten, die zum Teil auch an der Viadrina Mitglieder hatten. Das Renommieren, der Kommers oder auch das öffentliche Absingen von Liedern und das Zurschautragen von Uniformen stand nicht im Zentrum dieser Gruppen. Viel eher waren es klandestine Zirkel, in denen sich Studenten über gesellschaftspolitische oder esoterische Themen unterhielten, und, in Nachahmung der Freimaurerlogen, sich zu Tugend-Idealen und Verschwiegenheit verpflichteten.

      Vielleicht wurde in solchen studentischen Gemeinschaften über die neusten Ereignisse in Frankreich gesprochen: der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789, die Abschaffung der feudalen Standesrechte oder anderer Privilegien durch die Nationalversammlung, die Absetzung und Verhaftung des Königs am 10. August 1792. Aktuelle Zeitungsberichte waren an der Viadrina offiziell kein Thema, aber es liess sich nicht vermeiden, dass darüber privat debattiert wurde und man sich für die Französische Revolution und ihre Helden begeisterte. Es gibt allerdings keine Anzeichen dafür, dass Zschokke sich im ersten Jahr in Frankfurt (Oder) mit der Französischen Revolution und ihren Folgen befasste, geschweige denn in Diskussionen darüber eingelassen hätte. Er verhielt sich unpolitisch und versuchte, Stellungnahmen auszuweichen. Vielleicht war dies mit ein Grund dafür, dass er sich von anderen Studenten fernhielt.

      Eine Besonderheit der Viadrina waren die vielen fremdsprachigen Studenten: Sorben,56 Polen und Ungarn aus deren Stammlanden und aus Siebenbürgen. Grund dafür waren die günstige geografische Lage, die theologische Ausbildung für Reformierte und die Möglichkeit, zu einer Beamtenkarriere im östlichen Mitteleuropa ein solides rechts-, kameral- und staatswissenschaftliches Fundament zu legen. Mit einigen von ihnen schloss Zschokke offenbar Bekanntschaft. Als er nach Frankfurt kam, gab es dort vier offiziell gedultete «Kränzchen» in der Nachfolge der Landsmannschaften: ein preussisches, schlesisches, pommersches