«Ihr Hauptzweck ist Schlagen und ihr Nebenzweck Saufen.»57 Saufen mochte Zschokke nicht, aber dem Schlagen war er durchaus nicht abhold. Er übte sich im Umgang mit dem Rapier, den er wohl kaum einem der besoldeten Exerzitienmeister der Viadrina,58 sondern einem Mitstudenten verdankte. Wie geschickt er diese Waffe handhabte, erzählte er seinen Söhnen in einer Anekdote:59 Er sei an der Viadrina als ein «guter Schläger» bekannt gewesen. Fast jeden Tag habe er nach dem Mittagessen gefochten, «theils um sich zu üben, theils die Verdauung zu befördern». Eines Tages sei ein Student bei ihm erschienen, um ihm eine neue Finte zu zeigen.60 Sie bestand darin, den Gegner abzulenken, indem man mitten im Duell einen Hieb gegen den Boden führte, und während der andere dem Degen oder Rapier folgte, blitzschnell einen Streich gegen dessen Kopf machte. Zschokke habe den Trick gleich und mit Erfolg am anderen ausprobiert; Scheufelhut, wie der Mittelstudent hiess, sei darob wütend geworden und habe vorgeschlagen, diesmal scharfe Waffen zu nehmen und noch einmal zu beginnen. Zschokke habe zugestimmt, und es sei ihm gelungen, den anderen erneut zu täuschen; sein Hieb habe ihn an der Oberlippe verwundet und ihm einen Zahn gekostet. Darauf habe Zschokke Essig holen lassen, um die Wunde zu säubern. Sie seien als Freunde auseinandergegangen.
Selbst wenn in dieser Darstellung väterlicher Stolz und Prahlerei stecken sollten, ist es erwiesen, dass Zschokke gern und mit Leidenschaft focht. Er betrieb diesen Sport nicht, um Ehrenduelle zu bestehen, sondern weil es ihm Spass machte, und es gelang ihm anscheinend, sich damit einigen Respekt zu verschaffen, auch wenn er sich vom Trinken und Raufen sonst fernhielt.
In Biografien wird der Student Zschokke als zartbesaiteter Träumer beurteilt, schwärmerisch, schüchtern und unbeholfen, so, wie er sich im Nachhinein selber gern beschrieb.61 Dieses Bild muss revidiert werden. War schon der kleine Heinrich ein Wildfang, der mit Holzschwertern focht,62 so wich er auch als Student keiner Kraftprobe aus und zeigte sich draufgängerisch; er wusste sich durchzusetzen und seiner Haut zu erwehren.
Schon im zweiten Semester erhielt er Gelegenheit, sich seinen Kommilitonen und Lehrern ins Bewusstsein zu bringen. Professor Steinbart bat ihn, beim Begräbnis des Mitstudenten Johann Gustav Friedrich Toll (1772–1790), der an Nervenfieber gestorben war, eine Rede zu halten. Zschokke hielt die Traueransprache, obwohl er mit Toll nichts zu tun gehabt hatte. Er verschaffte sich damit die Aufmerksamkeit und Anerkennung der Studenten und Professoren.62 Auch Ludwig Tieck war an diesem nasskalten Herbsttag unter den Trauernden und schilderte in den Worten seines Biografen Rudolf Köpke seinen Eindruck so:
«Am Grabe sprach ein Student einige Worte der Erinnerung, Heinrich Zschokke aus Magdeburg. Früher Theaterdichter bei der Schauspielertruppe in Landsberg, hatte dieser sich erst spät entschlossen, zu studiren. Seine mannichfachen Erfahrungen, sein männlich ausgebildetes Wesen und Derbheit hatten ihm unter den Studenten bedeutendes Ansehen erworben. Ludwig machte seine persönliche Bekanntschaft, doch weder die Stimmung noch der Augenblick waren zu weiterer Annäherung geeignet.»63
Es ist dies eine von wenigen Beschreibungen über Zschokke aus seiner Studentenzeit und deshalb wertvoll. Sie zeigt, dass er das Grobe, Ungehobelte, das Lehrer Koch ihm 1780 vorgeworfen hatte, zehn Jahre später noch nicht ganz abgelegt hatte, vielleicht aber auch wieder neu kultivierte. Was früher als bäuerisch gerügt wurde, galt jetzt als männlich.
Wir kennen etwa ein Dutzend Studenten, mit denen Zschokke sich befreundete; Carl Günther stellt einige von ihnen mit ihrem Lebenslauf vor, so dass es nicht nötig ist, dies zu wiederholen.64 Dazu gehörte zunächst der Landsberger Karl Weil, mit dem er immatrikuliert wurde, und Gottlob Benjamin Gerlach (1770–1845), Sohn eines Züllichauer Schneiders, der kurz nach ihm an die Viadrina kam und wie Zschokke bei Professor Hausen wohnte. Karl Weil wollte Jurist werden, Gerlach gab als Studienfach Pädagogik an und wurde Pfarrer. Schon 1789 eingeschrieben hatten sich Theodor Heinrich Otto Burchardt (Rechte, später Justizrat und Syndicus in seiner Heimatstadt Landsberg), Karl Friedrich Braumüller aus Strasburg in der Uckermark (reformierte Theologie) und Otto Ferdinand Lohde aus Berlin (Rechte). Im gleichen Semester wie Zschokke trug sich auch Johann Georg Marmalle (1770–1826) aus Königsberg ein, der an der dortigen Universität und unter Kant sein Studium angefangen hatte (reformierte Theologie), ein halbes Jahr danach August Ludwig Hahn aus Landsberg (Rechte, 1809 Regierungsrat, später in Magdeburg) und im Frühling 1791 der Berliner Heinrich Wilhelm Hempel (1771 bis nach 1850; Rechte, Landrentmeister in Koblenz), Enkel der gefeierten Dichterin Anna Louisa Karsch.
Schon fast am Ende ihres Studiums befanden sich Johann Gabriel Schäffer aus Berlin, eingeschrieben im Oktober 1787 (reformierte Theologie, 1799 Pfarrer in Halle und ab 1808 in Magdeburg), und Samuel Peter Marot (1770–1865) aus Magdeburg (reformierte Theologie, 1798 Pfarrer in Berlin, 1816 Superintendent, 1846 Oberkonsistorialrat). Marot war seit April 1788 eingeschrieben und mit Zschokke von der Schulzeit her bekannt.65 Die anderen Mitstudenten verliessen Frankfurt mit der Zeit, und Zschokke verlor sie aus den Augen. Ausser mit Schäffer blieb er nach seiner Abreise von Frankfurt (Oder) nur noch mit Gerlach in Verbindung, vielleicht auch mit Marmalle, der in Berlin am Joachimstaler-Gymnasium Sprachlehrer wurde, und mit den beiden Professoren Hausen und Steinbart.
Es fällt auf, dass Zschokke hauptsächlich mit angehenden Juristen und Theologen verkehrte und mit keinem Mediziner. Da er an der medizinischen Fakultät keine Vorlesungen belegte, waren die Berührungspunkte klein. Es kann auch damit zusammenhängen, dass die Zahl der Medizinstudenten an der Viadrina nach 1788 rapide sank; 1790 schrieben sich noch elf Studenten ein, davon sieben als Prüfungskandidaten. Die Mediziner stellten dennoch über vier Fünftel aller Doktoranden. Der Titel war an der Viadrina leicht zu haben, da die Professoren bei der Disputation kräftig mithalfen, wie Alexander von Humboldt bemängelte, der ein Jahr vor Zschokke hier studiert hatte.66
Ein gutes Mittel, um herauszufinden, mit welchen Kommilitonen ein Student befreundet war und welchen Vergnügungen er nachging, sind Stammbücher. Fast alle Studenten besassen ein solches Buch, in das sich Freunde bei besonderen Anlässen oder beim Abschied eintrugen, mit einem Vers, einem freundschaftlichen Gruss und «Memorabilia», gemeinsamen Erlebnissen, die man in Erinnerung behalten wollte. Neben Diplomen und öffentlichen Auszeichnungen war das Stammbuch das Kostbarste, was ein Student von der Universität mitnahm und meist ebenso gut aufbewahrte wie amtliche Dokumente, Wertpapiere und Quittungen. 1844 besass Zschokke sein Stammbuch noch, wie aus dem Briefwechsel mit Heinrich Wilhelm Hempel hervorgeht; danach wird es nicht mehr erwähnt und taucht auch in seinem Nachlass nicht auf. Zum Glück wird in den Briefwechseln zuweilen aus den Stammbüchern zitiert. In Hempels Stammbuch etwa schrieb Zschokke:
«Unsterblichkeit schnellet die Waage irdischer Minutenfreuden empor, und verspinnt unsern Namen in den Faden jedes Jahrhunderts!
Ewig Dein Heinr. Zschokke
Doct. der Phil»
Und darunter:
«Frft. a/O. d. 25. März 92.
am Abschiedstage.
Symb. Bleib mir ewig hold!»67
Das war der Tag, als Zschokke nach seiner Promotion von Frankfurt (Oder) abreiste, um in Küstrin sein theologisches Diplom, die «licentia concionandi», zu erwerben und dann ein halbes Jahr in Magdeburg zu verbringen. «Symb[olum]» – Marke, Kennzeichen – bezieht sich auf die anschliessende Bemerkung, die beiden als Erkennungszeichen diente, eine Formel, die Zschokke so oder ähnlich oft in Briefen benutzte. In einem weiteren Brief teilte Zschokke Hempel mit, was sich in seinem Stammbuch von Hempels Hand befand,68 zunächst ein schwärmerisches Zueignungsgedicht, dann ein paar Memorabilia:
«3. Die witzigen Impromtü’s meiner Grosmutter in Betreff Deiner, beim Abendessen in der Sommerstube des Prof. Hut
4. Unser Spatziergang nach deiner Stube und unser Brüderschaftstrunk NB. ein Citronenwasser
5. Meine Muse verbeugt sich vor der Deinigen.
6. Die herrlichen Kallenbachschen Lieder: Er ist dahin! – O wein, Mädchen, wein!»
Nicht alle Anspielungen lassen sich klar deuten. In einem späteren Brief brachte Zschokke weitere Memorabilia von Hempel aus seinem Stammbuch: dass sie sich an Sonntagen gegenseitig besuchten oder ein