Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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am 19. März die Erlaubnis einzuholen, Zschokke zum Doktor der Philosophie und Magister der freien Künste zu ernennen. Dank der Empfehlungen der Viadrina und der Tatsache, dass Steinbart in diesem Gremium sass, erhielt sie diese problemlos. Die Genehmigung erfolgte am 27. März,113 Zschokkes Diplom wurde auf den 24. März datiert.114 Das war der Tag, an dem die öffentliche Disputation seiner Dissertation «Hypothesium diiudicatio critica» stattfand.115

      Diese Dissertation ist eine erkenntnistheoretische Abhandlung zur Bildung von Hypothesen und ihrer Klassifikation, 19 Seiten Latein, mit Thesen, die Zschokke gegen zwei Opponenten (seine beiden Freunde Gottlob Benjamin Gerlach und Johann Georg Marmalle) während mehr als drei Stunden verteidigte, notabene ebenfalls in Latein und sine praeside (ohne Vorsitz).116 Seine Dissertation erschien in üppiger Aufmachung und auf dickem Papier beim Universitätsbuchdrucker Apitz, mit einer lobenden Würdigung und Freundschaftsbezeugungen Marmalles und Gerlachs versehen, ebenfalls lateinisch.117 Nach Studentenbrauch wurde Zschokkes Abschluss enthusiastisch gefeiert. Marmalle und Hempel trugen ein Glückwunschgedicht vor, das sie ihm auch gedruckt überreichten.118

      Bereits am nächsten Tag ritt Zschokke nach Küstrin, um, wie er in der «Selbstschau» schrieb, eine theologische Prüfung zu absolvieren und für die preussischen Staaten ein Diplom zu empfangen.119 Im Familienarchiv Zschokke in Basel befindet sich ein Dokument, geschrieben und unterschrieben von Johann Christian Seyffert am 26. März 1792, königlich preussischem Konsistorialrat, neumärkischem Superintendent und Inspektor und Oberprediger in Küstrin, dass er Zschokke an diesem Tag kraft seines Amtes die Erlaubnis erteilt habe, in Preussen zu predigen. Dies war nicht die ganze «Prüfung in seinen Kenntnissen zur Gottesgelahrtheit», wie Zschokke in den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» schrieb,120 sondern nur das ius concionandi, die Öffnung zum Predigtamt.

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       Zschokkes Universitätsdiplom als Doctor philosophiae et liberalium artium (Doktor der Philosophie und der freien Künste), ausgestellt am 24. März 1792, am Tag seiner öffentlichen Disputation.

      Nach seinem theologischen Examen kehrte Zschokke noch einmal kurz nach Frankfurt (Oder) zurück, räumte sein Zimmer bei Hausen, verabschiedete sich von den Freunden, trug sich in verschiedene Stammbücher ein und ritt oder fuhr dann nach Magdeburg. Im Abschiedsgedicht von Hempel und Marmalle vom 24. März schwingt Bewunderung für den erkämpften Titel und für das künftige Leben des jungen Doktors mit, das klar und hell erschien. Er werde nun ein halbes Jahr in Magdeburg bleiben, hiess es in poetischer Form, und dann nach Frankfurt zurückkehren, um Vorlesungen zu halten: «Juble mit uns! künftig sind wir Hörer, / Sind des ernsten Freundes Ruhmvermehrer –». Auch das Privatleben stellte sich in den rosigsten Farben dar: In Magdeburg erwartete ihn seine Auserwählte, Rikchen, mit offenen Armen: «Wie im Paradiese wirst Du leben, / Himmelsruhe wird Dich dort umschweben, / leere ganz den Freudenbecher aus!»121

      Zschokke besass mit seinen 21 Jahren alles, was ein Student erträumte: einen akademischen Abschluss, eine Braut und eine glänzende berufliche Zukunft. Dazu kam ein wachsender Ruhm als Dichter, treu ergebene Freunde, kurz: eine rundum angenehme Perspektive. Darüber würden auch jene Wunden heilen, die Zschokkes Miene zuweilen noch verdüsterten, «tief geschlagen vom verlornen Glück», wie es im Gedicht heisst. Was wollten die Freunde damit andeuten? Die anhaltende Trauer um des Vaters Tod? Eine unglückliche Liebe? Der Abschied oder Tod eines geliebten Freundes?

      Ermutigt durch seine beiden Gönner Hausen und Steinbart hatte Zschokke beschlossen, als Privatdozent an der philosophischen Fakultät zu wirken. Da die Eingabe für Vorlesungen im Februar erfolgen musste, hätte er es nicht mehr geschafft, sich für das Sommersemester einzutragen, falls dies sein Wunsch gewesen wäre. Stattdessen beschloss er, bis zum Herbst zu pausieren. Die Reise von Ende März 1792 nach Magdeburg war für ihn eine Rückkehr auf Zeit und auf Probe.

      Er wohnte das halbe Jahr bei seiner Schwester Lemme an der Dreiengelgasse, womöglich wieder in dem Hintergebäude, wo er schon als Kind zwei Jahre verbracht hatte, diesmal aber mit anderem Vorzeichen: Jetzt war er repräsentabel und respektabel geworden. Er war nicht mehr der lästige kleine Bruder und Schwager, an dem man seine schlechte Laune ausliess. Sein Groll gegen die älteren Geschwister hatte sich längst gelegt; den ersten Band von «Schwärmerey und Traum» widmete er seinen Schwestern, und zu Neujahr 1791 hatte er Dorothea Lemme mit einem kurzen Gedicht überrascht, das er auf ein Nadelkissen schrieb und ihr zuschickte.122

      Ein Umstand erhöhte Zschokkes Bekanntheit in Magdeburg beträchtlich: Mit seiner licentia concionandi in der Tasche predigte er an mehreren Stadtkirchen; eine Voraussetzung, falls er eine Pfarrstelle antreten wollte. Nun war dies vielleicht nicht sein eigentliches Berufsziel, aber das Predigen war eine gute Gelegenheit, sich als Redner zu üben und seine Wirkung auf ein grösseres Publikum zu studieren. Kanzel und Theater waren für Zschokke ja ebenbürtige Mittel, um die Menschen zu erziehen. Seine Mitarbeit an einer Wanderbühne war eine Episode gewesen und vielleicht auch nicht der geeignete Ort für eine Belehrung oder Bekehrung des Publikums; jetzt versuchte er es als Prediger, und es gelang ihm, legt man die «Selbstschau» zu Grunde, erstaunlich gut, die Gemeinde in Bann zu schlagen.123 Indem er predigte, geriet er selber in Rührung, und wenn er in den Zuhörern christliche Gefühle und Gottvertrauen weckte, überzeugte er sich selber ein Stück weit.124

      Zufälligerweise starb während seiner Anwesenheit in Magdeburg Georg Andreas Weise,125 zweiter Pfarrer an St. Katharinen, der ihn unterwiesen und konfirmiert hatte. Auf Ersuchen seiner Witwe, behauptete Zschokke in der «Selbstschau», habe er einige Monate lang seine Predigten übernommen und sich, durch den Erfolg ermutigt, der Wahl für Weises Nachfolge gestellt. «Wenig, man sagt, nur eine Stimme, fehlte, die St. Katharinengemeinde hätte ihn zu einem ihrer Pastoren erwählt.»126 Eigenartigerweise fanden weder Carl Günther noch Pfarrer Kurt Haupt, der Historiker der Katharinenkirche, Zschokkes Namen im Kirchenarchiv in den Wahlakten.127 Haupt folgert daraus, dass Zschokke seine Bewerbung noch vor dem Wahlakt zurückgezogen haben könnte. Nachfolger von Weise wurde Christian Conrad Duhm, der zuvor Lehrer am Lyzeum in Brandenburg war, 1801 zum ersten Prediger an St. Katharinen gewählt wurde und sich 1815 nach Bardeleben versetzen liess.

      Falls Haupts Annahme stimmt, lässt sich nur spekulieren, was Zschokke daran gehindert haben könnte, schon vor der Wahl aufzugeben. Von Behrendsen erfahren wir, dass er sich während seines Aufenthalts in Magdeburg mit Friederike Ziegener verlobte.128 Da ihr Vater als administrativer Kirchenvater im Vorstand der St. Katharinenkirche sass, hätte Zschokke gute Gründe und einige Chancen gehabt, dort Prediger zu werden. Vielleicht kamen ihm Bedenken, sich so früh schon zu binden, in Magdeburg zu bleiben und eine Familie zu gründen – er war ja erst 21 Jahre alt. Die sichere Zukunft, die Hempel und Marmalle ihm angesungen hatten oder die Vorstellung, ein Leben lang Glauben zu heucheln, war ihm womöglich nicht ganz geheuer. Dies war vielleicht auch einer der Gründe, der bei den Kirchenvorstehern gegen seine Wahl sprach. Zschokke führte ihn selber an: «seine allzugroße Jugend, hieß es, sey einigen der ‹Kirchenvätern› d. i. den Wahlherrn, anstößig gewesen».129 Der Unterschied zu dem frommen Vorgänger liess sich kaum übersehen. Zschokkes Christentum war philosophischer Art und gründete nicht auf dem Glauben, sondern auf dem Zweifel, der Vernunft und den Grundwerten der Ethik. Kants Moralphilosophie war nicht gerade das, was sich die Pietisten in der St. Katharinengemeinde für ihre Sonntagspredigt wünschten. Es mögen noch andere Vorbehalte gegen Zschokke vorgebracht worden sein. Vielleicht wurde ihm dies von Ziegener mitgeteilt, und er zog sich auf seinen Rat zurück, um eine Spaltung im Vorstand und in der Gemeinde von St. Katharinen zu vermeiden.

      Noch nach über dreissig Jahren nagte es an Zschokke, dass man ihn damals nicht als Pfarrer haben wollte.130 Es war eine jener schmerzlichen Kränkungen, die er nur schwer verkraftete, was vielleicht auch dazu beitrug, dass er nach 1792 Magdeburg nie mehr aufsuchte und die Verlobung mit Friederike zwar nicht auf-, aber auch nicht einlöste. Mit Glockengiesser Ziegener blieb er noch einige Jahre in freundschaftlicher Verbindung – vielleicht ist dies ein Zeichen