mit einigen der bedeutendsten Magdeburgern in Kontakt. Er selber erwähnte den reformierten Pastor an der Heiligengeistkirche, Konrad Gottlieb Ribbeck (1759–1826), der 1805 nach Berlin berufen wurde und als Probst und Prediger an der Nicolai- und Marienkirche auch Beichtvater der Königin Luise und anderer Mitglieder der königlichen Familie wurde. Zschokke schätzte ihn als grossen Kanzelredner und schrieb 1795 über ihn: «Die Gewalt, welche er über Blik, Miene, Gebehrdenspiel und Stimmengang erworben hat, gehört zu den Seltenheiten.» Er fügte hinzu: «Die gebildeten Einwohner Magdeburgs wissen aber diesen Mann auch zu schäzzen. Sie haben ihn für immer an ihre Stadt gefesselt, und Ribbek ist dankbar.»131 Der zweite war Georg Samuel Albert Mellin (1755–1825), Prediger der Deutsch-reformierten Gemeinde und Kant-Interpret. Ribbeck und Mellin waren nicht nur erfolgreiche Theologen, sondern auch philosophisch gebildete Aufklärer, und es schmeichelte Zschokke, dass sie seinen Predigten Beifall zollten. Auch ehemalige Lehrer schlossen sich den Gratulationen an.132
In einem Brief an Lemme erwähnte er, dass er in Magdeburg mit viel Glück (Erfolg) moralische Vorträge gehalten habe.133 Ob er damit seine Predigten meinte, Vorlesungen in einer gelehrten Gesellschaft oder im familiären Rahmen, liess er offen; vielleicht stimmte er sich damit auch nur auf das künftige Wintersemester in Frankfurt (Oder) ein. Ein Verein, wo solche Vorträge angemessen gewesen wären, war die Freimaurerloge «Ferdinand zur Glückseligkeit». Hier fanden öffentliche Vorträge zu naturwissenschaftlichen und philosophischen Themen statt.134 Da Zschokke wahrscheinlich erst im Mai 1795 in die Kette trat,135 ist es ungewiss, ob er mit der Magdeburger Loge in Berührung kam, obwohl über Freunde und aus weltanschaulichen Überlegungen schon lange Verbindungen zur Freimaurerei bestanden.
In der Gelehrtenwelt und in der breiten Öffentlichkeit Magdeburgs hinterliess Zschokke keine Spuren, bis, mit einem Paukenschlag, Carl Döbbelin im April 1795 Zschokkes Erfolgsstück «Abällino, der grosse Bandit» zur Aufführung brachte. Döbbelin gastierte mit seiner Wandertruppe fast jedes Jahr in Magdeburg, auch von April bis Juli 1792. Obwohl wir darüber ebenfalls keine Kunde haben, dürfen wir davon ausgehen, dass Zschokke die Aufführungen nach Möglichkeit besuchte, und falls er es nicht tat, so erhielt er während der Messezeiten in Frankfurt (Oder) noch einmal Gelegenheit dazu.136
Zschokke schloss sich seinem Neffen Gottlieb Lemme an, der noch im Elternhaus wohnte und bis 1816 Junggeselle blieb, also über viel Freizeit verfügte. Sie frühstückten gemeinsam, sassen im elterlichen Garten auf einer Rasenbank, spazierten in den Parkanlagen, spielten Schach oder fochten mit dem Rapier.137 Mit Lemme liess sich das ungebundene Leben von Frankfurt (Oder) fortsetzen; hier fand Zschokke Verständnis für seine Dichtungen und seine extravaganten Ideen. Von Lemme brauchte er auch keine Vorwürfe zu befürchten, musste er seine Stimmungsschwankungen nicht verbergen. Wie eng er ihn ins Herz schloss, wie tiefe Einblicke in sein Inneres er ihm gewährte, zeigt ein Gedicht, das er ihm auf einem roten Seidenband im November 1792 zu seinem Geburtstag schenkte. Gemeinsam würden sie ihr Leid teilen, bis die Nacht vorbei sei und ein schönerer Morgen emporsteige. Auch in die Ewigkeit würden sie einst eng umschlungen eingehen.138
An das Gebäude in Lemmes Garten – vielleicht an die Mauer jenes Hinterhauses, wo Zschokke als Kind einquartiert war – schrieb Zschokke den Spruch: «Weinet nicht, denn Gott ist unser, unser ist das Los der Freundschaft, was bedürfen wir mehr, um den Traum des Lebens schön zu träumen!»139 In den «Schwarzen Brüdern» waren dies die Abschiedsworte der sterbenden Augusta von Gülden an ihre Freunde,140 für Zschokke magische Worte, die auch in die Gedichtsammlung «Feldblumen» aufgenommen wurden.141
Andreas Gottfried Behrendsen, der sich zum zweiten Mal verheiratet hatte – Charlotte Eltzner, Zschokkes Cousine mütterlicherseits, war bei der Geburt des ersten Kindes gestorben –, fühlte sich von Zschokke vernachlässigt und beklagte sich bei ihm einmal darüber. Darauf sei Zschokke rasch auf ihn zugelaufen, habe ihm gedroht: «Ich werde Ihnen gleich das Maul stopfen!», und ihm einen Honigkuchen in den Mund gesteckt.142 Zschokke wurde Pate von Behrendsens Tochter, die am 30. September 1792 getauft wurde.143 Mit Fritz Schocke, dem ältesten Sohn seines Bruders, der ein Jahr später von Magdeburg wegzog, einem weiteren Gefährten aus der Kindheit, traf sich Zschokke wahrscheinlich ebenfalls hie und da, während der vierte im Bund, Heinrich Faucher, sich in Küstrin aufhielt, wo ihn Zschokke im Vorjahr aufgesucht hatte.144
Zschokke gewöhnte sich in diesem Sommer an den Müssiggang, was bei ihm nie mit Nichtstun oder Faulheit zu verwechseln ist. Er führte sein schriftstellerisches Werk weiter. Zwar kam 1792 ausser seiner Dissertation nichts an die Öffentlichkeit, aber das lag vor allem daran, dass er sich im vergangenen Jahr hauptsächlich auf die Prüfungen vorbereitet hatte. Jetzt war er von diesem Druck befreit und wandte sich dem zweiten Band der «Schwarzen Brüder» zu. Vermutlich ebenfalls in Magdeburg fasste Zschokke den Entschluss, seine neue Buchreihe «Bibliothek nach der Mode» zu eröffnen. Gemeinsam mit den «Schwarzen Brüdern» erschien der erste und einzige Band zur Ostermesse 1793 bei Johann Andreas Kunze in Frankfurt (Oder).
So adrett gekleidet und frisiert könnte sich Zschokke zu seiner Doktorprüfung und danach in Magdeburg präsentiert haben, um sich als vielversprechender Dichter und Gelehrter einzuführen. Porträt eines unbekannten Künstlers.
Von Magdeburg aus unternahm Zschokke längere Ausflüge, allein oder mit Begleiter, falls er jemanden dazu überreden konnte. Den Norden und Nordosten der Stadt kannte er bereits einigermassen, nicht aber den Westen und Süden, wenn man vom Ausreissen des 10-Jährigen nach Dessau einmal absieht. In den «Lebensgeschichtlichen Umrissen» erwähnte er «Lustreisen in die Waldthäler und Höhlen des Harzgebirges, in die paradiesischen Gärten von Wörlitz, in die Herrnhutergemeinde Barby, oder zum berühmten Bücherschatz von Wolfenbüttel».145
In der «Selbstschau» erläuterte er des Längeren, was er in Barby wollte und erlebte, und dass er gegenüber seinem Führer den Wunsch geäussert habe, selber Herrnhuter zu werden, was dieser ihm ausredete.146 Das passt so wenig zu seinen damaligen Einstellungen und Plänen, dass man seine Ausführungen nicht ganz ernst nehmen kann. Graf von Zinzendorfs Idee einer grossen heiligen Familie, in welche sich die erste Einfalt und Liebe des Urchristentums geflüchtet habe,147 die Vorstellung einer Gemeinschaft ohne Standes- und Rassen-, ja ursprünglich nicht einmal Geschlechtsunterschiede, zog ihn an. Der Gewissensdespotismus und das Treffen wichtiger Entscheidungen durch das Los, mit der «vernunftwidrigen» Behauptung, dass Gott darauf einwirke, stiessen ihn ab. Das brauchte ihm freilich nicht in Barby aufgegangen zu sein; es liess sich auch nachlesen. Auch seine Entscheidung, «die bisherige Geistesfreiheit jedem Klosterzwang, protestantischem wie katholischem vorzuziehn» und ein Weltkind zu bleiben,148 hatte er sicher nicht seinem Führer in Barby zu verdanken, sondern sich selber erarbeitet.149 Ohne Zweifel hatten der Ausflug nach Barby und ein zweiter in den Harz für Zschokke eine grosse Bedeutung.
Von seiner Harzreise erhalten wir einen kleinen Einblick dank einem Aufsatz, den er 1793 publizierte: «Die Baumannshöhle im Harz. (Bruchstük einer Reisebeschreibung.)».150 Die Reise ging über Wernigerode und Elbingerode zum Brocken. In mystischer Überhöhung schildert er seine Empfindungen im Anblick von Wernigerode und der Gebirgskette des Harzes:
«Still wars am Himmel und auf Erden; die Natur feierte das Fest ihrer Schönheit, und meine Seele war Harmonie mit dieser Natur. Verherrlichung Gottes strahlte herab von den Felsen, herab vom Himmel. Der Gesang der Vögel in den Gebüschen, das Murmeln verstekter Quellen verherrlichte Gott! die fallende Blüte, das einsame Veilchen der Wiese, der schwirrende Käfer verherrlichte Gott! Und, hingerissen von diesem begeisternden Anblik, übermeistert von den Gefühlen der Bewunderung und Liebe, betete ich an, in der großen Kirche der blühenden Natur und Gott hörte gewiß mein flüsterndes Gebet, sah gewiß die Thräne, welche meinem Auge entstürzte – denn mir ward so wohl!»151
Hier kommt Zschokkes Sehnsucht nach der Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung zum Ausdruck, sein Bedürfnis, in und hinter der Natur einen tieferen Sinn, die Weisheit Gottes, Gott selber zu erkennen. Die Harzreise gab ihm eine neue Dimension der Naturerfahrung,