Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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er unter «Ereignissen» seine religiöse Entwicklung verstand, so hatte er Recht; in dieser Hinsicht fand nicht mehr viel statt. Auch in seiner akademischen Karriere kam er nicht voran, jedenfalls nicht so schnell, wie er es sich vorgestellt hatte. Was seine literarische Tätigkeit und seine Vorlesungen betrifft, die in diesen Jahren gewiss seine hauptsächlichen Aktivitäten waren, so schienen sie ihm nachträglich kaum der Rede wert. Dennoch geben sie einige interessante Einblicke in seine Biografie.

      Jedes Semester bot Zschokke von elf bis zwölf Uhr morgens eine Vorlesung über Kirchengeschichte an, nicht an der theologischen Fakultät, wo er nicht zu lehren berechtigt war, sondern bei den Philosophien in der Unterabteilung «historische Privatlektionen». Weiter las er im Sommer über christliche Altertümer.172 Als philologische Privatlektionen gab er eine Auslegung von Büchern des Alten und Neuen Testaments: einmal der vier Evangelien, ein andermal der katholischen Briefe, der Apokalypse und der Briefe von Paulus an die Römer. Auch philosophische Privatlektionen kündigte er an: in seinem ersten und in seinem letzten Semester zur Ästhetik – das zweite Mal nach seinem Buch «Ideen zur psychologischen Ästhetik» (1793)173 –, ferner zur Moralphilosophie nach Schmid174 und zur natürlichen Theologie. Im Sommer 1793 gab er eine Vorlesung über Rhetorik und Dichtkunst175 und im Winter 1793/94 eine weitere zur Philosophiegeschichte von der ältesten bis zur neueren Zeit.

      Zschokke kündigte jedes Semester als Dozent drei einstündige tägliche Vorlesungen an, im ersten Semester 1792/93 sogar vier. Ob er sie tatsächlich hielt, hing vom Interesse der Studenten ab; offenbar bestand durchaus eine Nachfrage. Zschokkes Vorlesungen waren beliebt, was an seiner Jugendlichkeit und der Frische des Vortrags, am Inhalt, der strikt rationalen Sicht auf die Religion und der Kritik an der Kirche lag. Wenn Zschokke in «Eine Selbstschau» behauptete, er habe alles vermieden, um den Gemütsfrieden der Jünglinge nicht durch Zweifel zu erschüttern,176 so meinte er damit wohl nur Zweifel am Glauben, nicht aber an der Kirche und ihren Dogmen.

      Bei Zschokke wussten die Studenten, dass er gegenüber Woellner und dem Religionsedikt kein Blatt vor den Mund nahm. Sie bekamen Wahrheiten über die Kirche bei ihm zu hören, die andere Dozenten nicht oder nur verblümt zu äussern gewagt hätten. Als ihn Behrendsen nach seiner Abreise in die Schweiz fragte, ob ihn diese kritische Einstellung zur Kirche seine Professur gekostet habe, widersprach er: «Daß mich meine Heterodoxie vom Catheder gebracht hat, ist ein Mährchen, sie hat mich vielmehr hinauf gebracht.»177 Später behauptete er allerdings das Gegenteil,178 was seither in alle Darstellungen perpetuiert wurde. Erst Carl Günther begann aufgrund der Aktenlage diese Version wieder in Frage zu stellen,179 leider ohne dass seine Erkenntnis in der Zschokke-Literatur Spuren hinterliess.

      Der Studienführer von Rebmann,180 der 1794 unter dem Titel «Katheder-Beleuchtung von Justinus Pfefferkorn» erschien, stellte an der Viadrina neun ordentliche Professoren und als einzigen Privatdozenten Heinrich Zschokke vor.181 Über ihn ist zu lesen:

      «Ein junger talentvoller Mann, der sich zu einem guten akademischen Lehrer mit vielem Fleiß und Glück bildet. Er ist weit entfernt, seinen ehemaligen Lehrern nur geradezu nachzubeten, wie bey angehenden Dozenten nur allzuoft der Fall zu seyn pflegt, sondern er denkt selbst sehr scharfsinnig über jeden Gegenstand, den er ergreift, besizt eine für seine Jahre außerordentliche Belesenheit in verschiedenen Fächern der Gelehrsamkeit, womit er einen durch das Studium der schönen Wissenschaften gereinigten Geschmak verbindet. Er ist selbst Dichter, und eines seiner kleinen frühern Werke ist zur Lieblingslektüre der Deutschen geworden. Seinem Vortrag weiß er aus dem üppigen Reichthum seiner Fantasie vieles Interesse zu geben; es fehlt ihm nicht an Würde, Praezision und Deutlichkeit, nur daß er zuweilen durch das ihm eigene Feuer verleitet wird, zu schnell zu sprechen, ein Fehler, für den er seine Zuhörer schadlos zu halten weiß.»182

      Rebmann, der als Zeitungsredaktor in Dresden lebte, konnte die Daten über die sieben berücksichtigten Universitäten nicht alle selber erheben; er hatte Zuträger, vermutlich fortgeschrittene Studenten oder Dozenten, und jener, der von der Viadrina berichtete, ergänzte zu Zschokke: «Im gesellschaftlichen Leben ist er freundschaftlich und gefällig, und eine gewisse sanfte Schwermuth, die ihm eigen ist, leiht seinem Umgange manchen Reiz, der dem Herzen wohl tut.»183

      Er habe sich, schrieb Zschokke in «Eine Selbstschau», um dem «Schattenreich der Metaphysik» zu entkommen, in seiner Dozentenzeit «mit ganzer Macht auf das Studium der sogeheißenen Realwissenschaften; auf Naturkunde, auf Finanz-, Polizei-, Forstwesen und neueste Zeitgeschichte» gestürzt.184 Es gibt kaum unmittelbar Zeugnisse – Briefe, Aufsätze, Vorlesungsskripten oder Aussagen Dritter –, die belegen, dass Zschokke sich in Frankfurt (Oder) tatsächlich ernsthaft mit ökonomischen und staatspolitischen Themen befasste. Nachweisbar ist einzig seine Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass in der zweiten Periode an der Viadrina sein Interesse an der Kameralistik erwachte und eine teilweise Umorientierung von der Metaphysik und Theologie zu den Realwissenschaften stattfand, die aber erst in der Schweiz manifest wurde.

      Über ästhetische Fragen hatte Zschokke schon längst Ideen entwickelt. Unter dem Eindruck von Steinbarts Vorlesung über Ästhetik im Sommersemester 1790 schrieb er für den «Theaterkalender auf das Jahr 1791» einen Aufsatz über relative Schönheit, worin er darlegte, dass es sich bei der Beurteilung des Schönen um eine Geschmacksfrage handle, also eine subjektive Angelegenheit, und es daher von Intoleranz zeuge, wenn Kritiker ihre Meinung anderen als die einzig richtige aufdrängten. Besonders treffe dies bei Theaterstücken zu. «Ich wünschte diesen Zeilen die allgemeine Beherzigung der Kritiker und Kenner und man würde aufhören die Journale zu Tummelplätzen der aus Irrthum sich hassenden Schönheitsbeurtheiler zu machen!»185

      Andererseits hatte sich Zschokke selber als Beurteiler und Verfasser von Dramen um Kriterien bemüht, nach denen die Qualität eines Theaterstücks und einer Theateraufführung bemessen werden konnte, und das hiess, ästhetische Massstäbe anzulegen. Man kann das Zeitalter der Aufklärung auch als eines der Ästhetik sehen und die Ästhetik neben der Geschichtswissenschaft und der Anthropologie als dritte grosse neue Disziplin im System der Wissenschaften des 18. Jahrhunderts.186 Ästhetik ist dabei zunächst in einem weiteren Sinn zu verstehen, als eine Wissenschaft der Wahrnehmung oder der sinnlichen Erkenntnis (scientia cognitionis sensitiva), wie Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), der Begründer der Ästhetik als einer philosophischen Disziplin, sie in seiner «Aesthetica» von 1750 definierte.

      Im engeren Sinn war Ästhetik mit der Frage verknüpft, wieso etwas als schön oder hässlich empfunden werde, und welcher Mittel es bedurfte, um diese Wirkung zu erzeugen. Darum ging es auch Zschokke, als er 1793 sein Buch «Ideen zur psychologischen Aesthetik» schrieb, das zur Herbstmesse im Buchhandel erschien.187 Er konnte sich dabei weitgehend auf das Lehrbuch von Steinbart abstützen, den er bald als «mein grosser Lehrer»,188 bald als «würdiger Mann» oder «achtungswürdiger Weltweiser»189 bezeichnete, ohne sich inhaltlich aber stark auf ihn zu beziehen.

      Zschokke umschrieb das Prinzip der Ästhetik mit der Formel «freie Mittheilung schöner Empfindungen»190 und setzte sich als Ziel seiner Untersuchung die Beantwortung der Frage: «Wie und wodurch werden schöne Empfindungen mitgetheilt?»191 Gerade diese Frage nach der Produktion des Schönen vermochte er aber nicht zu beantworten, da ihn die Hauptfrage der ästhetischen Philosophie, was das Schöne sei und wie die Menschen darauf reagierten, zu lange aufhielt.192

      Zschokke führte in seinen «Materialien für eine künftige Ästhetik»,193 wie er sein Buch bescheidenerweise nannte und zu dessen Vollendung er «eine Meisterhand» wünschte,194 eine beachtliche Anzahl von Autoren und Werken an, beinahe hundert, die er teils nur als Literaturangabe heranzog, teils einzelne Punkte herausgriff, um ihnen das für ihn Wichtige zu entnehmen. Er entwickelte seine eigene Theorie des Schönen und der Schönheit, «die, was sie in einer psychologischen Ästhetik sein mus, praktisch ist für den edeln Künstler, fruchtbar ist an Gesezzen für ihn, die ihn nie irren lassen».195 Das war ein Anspruch, den er in keiner Weise einlöste. Immerhin gelang es ihm,