Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu entgegen. Die Natur wurde für Zschokke die zweite Offenbarung Gottes; hier erahnte er, was in der mit menschlichen Schwächen behafteten Kirche, im Pietismus oder bei den Herrnhuter nicht zu finden war: die sinnliche Idee der Religion, das Christentum des Lebens.
Infolgedessen musste auch die Beschreibung dieser Natur zum priesterlichen Amt werden, eine Verkündigung Gottes in der Leuchtkraft der Sprachbilder, der Intensität des Gefühls, im Ausgreifen über den persönlichen Horizont und Alltag hinaus in eine inspirierte Welt. Eigentlich wäre bei Zschokke zu erwarten gewesen, dass eine solche Erkenntnis eine Flut von Gedanken und Publikationen ausgelöst hätte – das war vorerst nicht der Fall. Der Mensch blieb in dieser gottbeseelten Natur für Zschokke noch ausgespart; er war ein staunender Beobachter, als Aussenseiter auf sich selber zurückgeworfen.
Um es vorwegzunehmen: Jahre später, auf der Terrasse des Schlosses Reichenau, beim Anblick des Zusammenströmens von Vorder- und Hinterrhein, wurden ihm auch das Wesen und der Sinn des Menschen in Gottes Natur greifbar, in einer kosmologischen Vision, die den religiösen Zschokke prägte und ihn bis zu seinem Tod nicht mehr losliess. Alexander von Humboldts «Kosmos»,152 hiess es, war die Lektüre, die in den letzten Jahren seines Lebens aufgeschlagen auf seinem Schreibpult neben der Bibel lag.153
PRIVATDOZENT UND GELEHRTER
Mitte Oktober 1792 kehrte Zschokke nach Frankfurt (Oder) zurück, nach einem kurzen Aufenthalt in Potsdam, wo er Gottlob Benjamin Gerlach besuchte, und in Berlin, wo er einige Tage bei Johann Georg Marmalle verbrachte. «Nie hat in meinem Leben ein Abschied tiefern, schmerzlichern und bleibendern Eindruk auf mein Herz gemacht – als der lezte von Euch. Gott wolle, daß ich kälteres Blut bekomme, es wird mir nüzlich sein!», schrieb er seinen Verwandten und den befreundeten Familien Mehl154 und Ziegener.155 Am 22. Oktober begann das Semester an der Universität. Zschokke bot an der philosophischen Fakultät vier Vorlesungen an: Ästhetik nach Eberhard,156 Kirchengeschichte, Moralphilosophie nach Schmid157 und eine Auslegung der vier Evangelien. Er gefiel sich darin, nicht mehr Student, sondern Privatdozent zu sein. Sein Anfang war viel versprechend:
«Der 29t October erschien. Es schlug 11 Uhr zu Mittag: ich hörte das Getümmel der die Treppen heraufdonnernden Studenten, hörte ihre sonorischen Stimmen ihre klirrenden Spornen[!]. Holla, dacht ich[,] da kömmt das wüthende Heer! – Ich meditirte in der Eil auf eine schikliche Anrede, zur Eröfnung meiner Vorlesungen, nahm meine Hefte unterm Arm, trat ins Auditorium[,] bestieg mit vieler Eleganz und Autorität das Katheder und hielt eine kurze Rede an die versammleten Zuhörer, deren Liebe und Freundschaft ich mir zum Lohn meiner Bemühungen für sie ausbat.
Ich gefiel den Studenten in der Anrede und machte mit meinem Vortrag der wissenschaftlichen Gegenstände hier fast eben so vieles Glük, als in Magdeburg durch meine moralischen Vorträge. Meine Collegia waren von diesem Tage an, der für mich für iede Zukunft entscheidend sein mußte, gut besezt, und allein in der Kirchengeschichte hab ich über 20 Zuhörer – welches hier auf der Universität viel sagen will[,] da die theologische Fakultät am schlechtesten besezt ist, und zweitens ein älterer Lehrer, als ich[,] nämlich ein Doktorandus Dettmers158 eben diese Wissenschaft zu gleicher Zeit vorträgt, der aber nur etwa ein halbes Duzzend Studenten hat, die dies Collegium bei ihm besuchen.»159
Eine weitere Kollision, wenn man so sagen will, ergab sich mit Steinbart, der zur gleichen Zeit wie Zschokke – nachmittags zwischen zwei und drei Uhr – Ästhetik nach seinem Buch160 vortrug. Aber auch hier stellte Zschokke mit Genugtuung fest, er habe ebenso viele Zuhörer wie sein Professor.
«Allein alles dies erregt gewiß wieder den Neid der mich schon in Magdeburg verfolgte. Zwar entdekke ich noch keine Spuren, aber ich glaube immer, es wird sich über lange oder kurze Zeit ein Ungewitter über mich zusammenziehn! – Doch, das macht mich nicht bange. Ich stehe da vor Gott und Menschen mit einem guten Gewissen, mit einem eisernen Fleis gutes zu stiften – und ist Gott für mich, wer will wieder[!] mich sein?»161
Er sei, schrieb er Lemme, «iezt wieder Gelehrter oder vielmehr iezt will ichs in der That werden». Damit spielte er auf die sieben Monate in Magdeburg an, die anderen Dingen als dem Studium gewidmet waren. Er beschränke sein Leben aber auch jetzt nicht auf die Universität. Kaum einen Abend sei er in seiner Stube – damit meinte er möglicherweise bereits seine Wohnung an der Oderstrasse in der Nähe der Universität, wo er sich als Privatdozent einquartierte162 –, sondern verbringe seine Freizeit in Gesellschaften, die er sich selber ausgewählt habe, und sei dabei vergnügt, so gut es ihm möglich sei.163
Die Gesellschaften, von denen Zschokke hier schrieb, waren private Einladungen der Professoren oder Treffen in familiärem Kreis: beim Ehepaar Hausen an der Forststrasse 1 und schräg gegenüber, an der Forststrasse 3, wo der Universitätsbuchdrucker und Verleger Christian Ludwig Apitz (1763–1828) und dessen Frau Sophie wohnten. Mit Apitz eng befreundet war das Ehepaar Schulz an der Schwertfegergasse (nachmals Kleine Scharrnstrasse); die beiden Frauen waren Schwestern. Schulz war Stadtchirurg und hatte mehrere Töchter; eine hiess Johanna Elisabeth und war ein Jahr älter als Zschokke. Er verliebte sich heftig in sie, und sie scheint seine Gefühle erwidert zu haben; unglücklicherweise war sie schon dem 15 Jahre älteren Juristen Christian Gottlieb Jachmann (1755–1798) versprochen.
Mit der Familie Schulz verbrachte Zschokke viel Zeit, ebenso mit der Familie von Kaufmann Karl Friedrich Harttung (gest. 1827), Inhaber eines Wachswarengeschäfts. Vor allem dem Söhnchen Karl («Karlchen») Harttung (1790–1866) war Zschokke eng verbunden. Hier, aber auch beim Ehepaar Apitz, setzte er seine Praxis fort, Gedichte zum Geburtstag, Neujahrs- oder Hochzeitstag auf ein seidenes Band zu schreiben.164 In seinen Briefen redete Zschokke die Ehepaare Schulz und Apitz mit Cousin und Cousine an; dies erhöhte für ihn den familiären Bezug ihrer Freundschaft.
Diese geselligen Zusammenkünfte in Frankfurt (Oder) könnte man mit den Salons in Berlin vergleichen, obwohl der Teilnehmerkreis kleiner, familiärer und die Zusammensetzung der Gäste konstanter war. Sie ergaben sich aus dem Bedürfnis des bürgerlichen Mittelstands nach Austausch und Unterhaltung einerseits, und aus dem Bestreben von Professoren wie Steinbart, Huth, Hausen, Berends und Wünsch andererseits, Studenten um sich zu scharen und durchreisende Gelehrte und Dichter einzuladen. Alle drei Arten der Geselligkeit, die gelehrte, die schöngeistige und die familiäre, waren für den jungen Akademiker und Dichter eine sinnvolle Ergänzung. In einem Brief ihres Mannes an Zschokke umschrieb Frau Hausen im Postskriptum, welches Zschokkes Platz in ihrer Runde gewesen war: «Glauben Sie, daß in unserem kleinen Zirkel zu welchem wie Ihnen bekannt Mad. Müller, Minchen Badernoc und meine zwey Kinder gehören, die sich Alle Bestens empfehlen, ein leerer Raum ist. Bald erinnert das Fortepiano an das genossene Vergnügen, bald die Sommerstube, ersteres an Ihre angenehmen Vorspielungen, letzeres an Ihre oft muntere und scherzhafte Unterhaltungen, die wir alle so gerne hörten.»165
Der Mittwoch von fünf bis sieben Uhr war bei Zschokke für Sitzungen der Königlichen Sozietät der Wissenschaften reserviert, die bei Hausen an der Forststrasse stattfanden. Hausen hatte seit 1791 den Vorsitz der 1766 von Professor Darjes166 gegründeten «Gelehrten Gesellschaft zum Nutzen der Künste und Wissenschaften»167 übernommen. Diese Runde brachte Akademiker, fortgeschrittene Studenten und Anfänger zu wöchentlichen wissenschaftlichen Gesprächen zusammen. Kurz nach Übernahme des Präsidiums schaffte Hausen die Aufnahmegebühren und jährlichen Beiträge ab, mit der sich die Gesellschaft bisher finanziert hatte, «da unter den armen Studierenden oft die besten Köpfe seyn konnten», die solche Gebühren nicht bezahlen konnten.168 Studenten, deren wissenschaftliche Ausbildung man fördern wollte, wurden als Adjunkte aufgenommen, als erster am 7. Dezember 1791 der Kandidat der Philosophie und Gottesgelehrtheit Johann Heinrich Daniel Zschokke. Hausen schrieb über ihn: «Er besuchte die Versammlung unausgesezt und stiftete vielen Nutzen.»169 Kurz vor seiner Abreise, am 4. Mai 1795, wurde Zschokke «wegen seines in den schönen Wissenschaften sich erworbenen Ruhms und Verdienstes» zum ordentlichen Mitglied erhoben.170 Weitere Adjunkte aus Zschokkes Freundeskreis waren Gerlach, Hempel oder Marmalle.
«Von den drei Jahren, die ich nun in Frankfurt, als akademischer