Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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gerät. Die schon im «Schriftstellerteufel» angelegte Satire über das Menschlich-Allzumenschliche wird hier um Eitelkeit, Heuchelei, Neid, Missgunst, üble Nachrede, Egoismen und andere Unzulänglichkeiten erweitert. Reumütig kehrt die Maus in ihr altes Heim zurück, nachdem sie festgestellt hat, «daß unter allen Thieren, die der Herr erschaffen hat unterm Monde ihr Futter zu suchen, kein Thier sich selber und unter einander mehr betrügt als der Mensch».239 Es ist eine moralische Erzählung, wie sie für die moralischen Wochenblätter des 18. Jahrhunderts bezeichnend war,240 geprägt von Zschokkes pessimistischem Menschenbild, das sich im Übrigen auch in seiner politischen Einstellung zeigte.

      In einem der ersten Stücke der «Frankfurter Ephemeriden» gab er sein Debüt mit Ansichten zur Zeitgeschichte: «Über gewisse in der Revolutionsgeschichte von Frankreich merkwürdig gewordene Gegenstände».241 Mit einiger Verzögerung hatte Zschokke nun doch beschlossen, den Entwicklungen in Frankreich Rechnung zu tragen, gegen das sich Preussen seit dem Vorjahr im Krieg befand. Das Publikum interessierte sich für nichts stärker als für Neuigkeiten aus Frankreich, und Zschokke wollte diesem Umstand Rechnung tragen. Mit der Hinrichtung von Ludwig XVI. am 21. Januar 1793 hatte die Französische Revolution in den Augen der meisten Deutschen ihre brutale Kehrseite gezeigt und allen Glanz verloren. Die Guillotine, dieses klinisch saubere, unerbittliche und unpersönliche Tötungsinstrument, dem vom kleinen Verbrecher über den windigen Volkstribun bis zur Königin alle zum Opfer fielen, erregte in der Öffentlichkeit Gruseln und Schrecken und wurde in den «Frankfurter Ephemeriden» gleich zweimal vorgestellt.242

      Ob er dringend Geld brauchte oder Ausgleich und Erholung von seinen gelehrten Studien: Zschokke schrieb den Roman «Die sieben Teufelsproben», der im Frühling 1794 anonym bei Kaffke in Stettin erschien.243 Er behandelt die Legende des heiligen Martin (316–400), wobei Zschokke sehr freizügig mit der überlieferten Vita umging. Er beschränkte sich auf die erotischen Versuchungen, zunächst durch seine Jugendgespielin, später, als Eremit auf einer Insel, durch die niedliche Arine, die er schlafend neben seiner Hütte findet, wo sie ihm in aller Unschuld die Reize ihres mädchenhaften Körpers preisgibt. Das Titelbild zeigt ihn in frivoler Stellung, wie er unter ihrem Busentuch nach ihrem Herzschlag tastet.244

      «Die sieben Teufelsproben» sind eine erotische Erzählung, angereichert durch eine Geistergeschichte, und diesem Umstand ist es wohl geschuldet, dass Zschokkes Urheberschaft so lange geleugnet wurde, von Friedrich Wilhelm Genthe und Carl Günther ebenso wie von Alfred Rosenbaum.245 Hayn/Gotendorf jedoch haben den Roman Zschokke bereits 1914 zugeschrieben und als «wohl die seltenste der pikanten Jugendarbeiten des Verfassers» bezeichnet.246 Es ist ein Studentenulk, ein Ausloten des Büchermarkts, wie ihn sich auch der junge Ludwig Tieck erlaubte, der in Berlin unter Anleitung seines Lehrers Friedrich Eberhard Rambach mithalf, Schundromane zu fabrizieren. Die Stammbücher der Studenten und der Austausch der alten Herren geben hinreichend Proben solcher Scherze aus ihrer wilden Jugendzeit.247 Wenn man Zschokke unter streng moralischem Gesichtspunkt vorwerfen mag, ein Roman mit solchen Schlüpfrigkeiten und Grobheiten entspreche ganz und gar nicht den Forderungen, die er in seinen «Ideen zur psychologischen Ästhetik» an den «edlen Künstler» erhebe, nur das Schöne und Anständige darzustellen, dann hat das einige Berechtigung. Aber womöglich verspottete Zschokke sein ästhetisches Programm auf diese Weise selber.248 Er spielte zu jener Zeit mit Möglichkeiten und Zukunftsentwürfen und wusste selber nicht recht, auf welche Seite sich die Waage neigte: zum Laster oder zur Tugend, zur Askese oder Sinnlichkeit.249

      Zschokke bewegte sich zu jener Zeit mit verschiedenen Masken. Im Familienzirkel der Apitz, Schulz und Hausen gab er sich als Schöngeist und witziger Conferencier, zwischendurch suchte er die Einsamkeit und pflegte seine Hypochondrie. An der Viadrina und in der Sozietät der Wissenschaften galt er als ernsthafter Gelehrter, der Vorlesungen hielt und zielstrebig auf eine Professur hinarbeitete, in der Freizeit schrieb er Romane und gründete Unterhaltungszeitschriften. Unter Studenten galt er bald als scharfsinniger Denker, feuriger Redner, bald als Verfasser von Gedichten, elegischer Schwärmer und Träumer; handkehrum nahm er an Studentenstreichen teil und zeigte sich verwegen, zu Pferd oder mit dem Rapier, mit scharfer Klinge.

      Im Herbst oder Winter 1793 schrieb Zschokke die Erzählung «Abällino, der grosse Bandit», die im Venedig des beginnenden 16. Jahrhunderts spielt.250 Venezianische Nobili planen den Sturz des Dogen und heuern Meuchelmörder an, um seine Entourage auszuschalten. Zu den Mördern gehört ein Abällino, der sich durch Tollkühnheit, Intelligenz und aussergewöhnliche Kraft auszeichnet und mit Respektlosigkeit, heiserer Stimme und abstossendem Äussern allen Angst, ja sogar Grauen einflösst. Sein Gegenspieler ist der gut aussehende und liebenswürdige Flodoardo aus Florenz mit vollendeten Manieren, der sich an die Spitze der Sbirren setzt, ins Schlupfloch der Mörder eindringt und sie bis auf Abällino alle ausschaltet. Jetzt ist Abällino unangefochtener Chef der Banditen. Einen nach dem anderen führt er die Auftragsmorde der politischen Verschwörer durch und verhöhnt die Polizei auf Zetteln, die er an Hausfassaden klebt. Beide, Abällino und Flodoardo, lieben Rosamunde, die Nichte des Dogen. Der Doge will sie Flodoardo zur Frau geben, falls er Abällino, den grössten Schrecken Venedigs, zur Strecke bringt. Abällino seinerseits erhält von den Verschwörern den Auftrag, Flodoardo zu töten.

      Im Saal des Dogenpalasts soll das Finale stattfinden, denn Flodoardo hat versprochen, Abällino zu einem bestimmten Zeitpunkt herbeizuschaffen, tot oder lebendig. Viele Schaulustige finden sich ein, die vereinbarte Zeit verstreicht, und es geht schon das Gerücht um, Flodoardo habe den Kampf mit seinem Erzrivalen verloren. In derangiertem Zustand taucht er plötzlich auf und behauptet, Abällino befinde sich im Palast. Der Doge will ihn sehen. Flodoardo geht zur Tür, wirft den Mantel ab, dreht sich um und ist in Abällino verwandelt, mit Augenbinde, einem entstellenden Pflaster und widerlichem Grinsen. In der Gestalt des Abällino überführt er die überrumpelten Verschwörer und verlangt vom Dogen grob die Hand von Rosamunde, da er sein Versprechen erfüllt habe. Für den Dogen, dessen beste Freunde Abällino umgebracht hat, kommt das nicht in Frage. Abällino geht noch einmal zur Tür, reisst sie auf und draussen stehen die vermeintlich toten Venezianer. Rosamunde wirft sich Abällino schluchzend an die Brust, mit dem Aufschrei: «Dieser – dieser ist kein Mörder

      «Abällino, der grosse Bandit», der fünf Jahre vor «Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann» von Goethes Schwager Christian August Vulpius erschien,251 wird zuweilen als erster deutscher Räuberroman bezeichnet,252 als ein «Mantel- und Degenstück».253 Das sind zweifelhafte Zuschreibungen, zumal es sich, auch nach Zschokkes Begriffen, um eine Erzählung und nicht um einen Roman handelt, da ihr der Anfang und das Ende fehlt. «Abällino» steht mit der Thematisierung von Verschwörungen und Staatsintrigen eher in der Nachfolge von Schillers «Verschwörung des Fiesko zu Genua» und ist eine psychologische Studie um das Wesen des Menschen und die ihn beeinflussenden Lebensumstände.254 Den beiden Dramenfassungen von 1795 und 1796 setzte Zschokke das Motto «Verhältnisse bestimmen den Menschen» voran. Auf dem Theater gibt sich «Abällino, der grosse Bandit» als ein Spiel mit Masken und Maskeraden, des sich Verhüllens und Entlarvens, passend zur Vorstellung, die man mit Venedigs Karneval verbindet. All diese Aspekte zusammen trugen dazu bei, dem Werk seine Beliebtheit zu verleihen, im deutschen Kulturraum als Drama, im englischen als Erzählung, in einer fast wörtlichen Übersetzung von Matthew Gregory Lewis (1775–1818), dem sie unter dem Titel «The Bravo of Venice» lange Zeit zugeschrieben wurde.255 Es ist das Verdienst von Josef Morlo, die Erzählung in der Reihe «Kleines Archiv des 18. Jahrhunderts» wieder zugänglich gemacht,256 und das von Holger Dainat, sie literaturgeschichtlich eingeordnet zu haben.257

      «Abällino» sei «das Produkt einer angenehmen, flüchtigen Laune» gewesen, schrieb Zschokke in der Vorrede zur ersten Dramenfassung. «Das Gemälde war ohne Sorgfalt hingeworfen, nur skizzirt, selten hie und da ausgearbeitet, und eigentlich wohl nur angelegt, als Stoff zu einem Drama.»258 In der «Selbstschau» schrieb er, er habe im Studentenkreis eine alte venezianische Anekdote vorgetragen, die er «mit poetischer Freiheit fantastisch genug ausschmückte».259 In dem Fall war ihm mit leichter Hand ein grosser Wurf geglückt, ein Werk, das seine Faszination aus dem schillernden Charakter einer Doppelpersönlichkeit bezog, in welcher Zschokke Eigenschaften ins Spiel brachte, die er in sich