hätten, und er hätte das gleiche Schicksal genommen wie der junge Student Johann Gustav Friedrich Toll, dessen Grabrede Zschokke gehalten hatte. Anfang Dezember 1794 wurde er Opfer einer Kohlenmonoxidvergiftung. Das Stubenmädchen hatte am Ofen manipuliert, in der Nacht waren Gase in sein Zimmer geströmt, und er verlor im Schlaf das Bewusstsein. Hätte man den Rauch nicht entdeckt und ihn herausgeholt, so wäre er nie mehr erwacht.
Im Frühling 1794 hatte er sein Revolutionsdrama, «Charlotte Corday oder die Rebellion von Calvados», beendet, das er als republikanisches Trauerspiel in vier Akten bezeichnete, mit dem Untertitel «Aus den Zeiten der französischen Revolution». Die ersten drei Akte erschienen von Februar bis April im «Litterarischen Pantheon»,278 das ganze Drama Anfang Mai im 2. Band von «Schwärmerey und Traum»279 und mit gleichem Drucksatz gleichzeitig oder etwas später bei Kaffke in Stettin.280
Am 11. Juli 1793 hatte Marie-Anne Charlotte de Corday d’Armant aus Caen den Revolutionär und Herausgeber der Zeitung «L’Ami du peuple» Jean-Paul Marat ermordet. Sie wurde noch am Tatort verhaftet, am 17. Juli vor das Revolutionstribunal gebracht und noch am gleichen Tag hingerichtet. Vor ihrem Tod wurde sie porträtiert; ihr Bildnis ging um die Welt. Sogleich setzte auch eine Literarisierung ihres Schicksals ein.281
Die Sensation war nicht der Mord, sondern die Täterin: eine 25-jährige Adlige aus der Provinz stieg in eine Postkutsche nach Paris, wurde ohne weiteres zu Marat vorgelassen und erdolchte ihn in der Badewanne, kaltblütig und ohne irgendeine sichtbare Unterstützung. Sie behauptete, sie habe ihren Entschluss gefasst, als sie gemerkt habe, dass sich kampfwillige Bürger rüsteten, um die Jakobiner militärisch zu bekämpfen. «Ich dachte, es sey unnöthig, daß so viele brave Leute nach Paris giengen, den Kopf eines einzigen Menschen zu suchen, den sie vielleicht verfehlen konnten, oder der viele gute Bürger mit sich zum Untergang gerissen hätte. Ich glaubte, die Hand eines Weibes sey dazu hinreichend.»282 Sie habe die Republik gegen die Anarchie verteidigt, sagte sie vor Gericht. Hocherhobenen Hauptes liess sie sich zum Schafott bringen, im Bewusstsein, für eine gerechte Sache zu sterben.283
Viel mehr wusste Zschokke von ihr nicht, als er mit seinem Drama begann. Er rekonstruierte aus Zeitungsmeldungen ihre Tat und bettete sie in die politische Situation ein. Das Stück beginnt im Juni 1793, als die Jakobiner die Girondisten entmachtet und ihre Anhänger im Nationalkonvent verhaftet hatten. In der girondistisch gesinnten Heimat der Familie Corday rüstet man sich zum aktiven Widerstand gegen die Jakobinerherrschaft und in Caen werden Truppen angeworben, um gegen Paris zu ziehen. Zschokke will glaubwürdig erklären, wieso Charlotte Corday zu ihrer Tat schreitet: Alle sind sich einig, dass Marat kaltgestellt werden soll, aber jeder Mann scheut den nächsten Schritt: sowohl der hypochondrische Vater als auch Corbigni, der sie liebt. Ihm wäre sie bereit, die Ausführung ihres Entschlusses zu überlassen und ihn dafür zu heiraten. Aber er zaudert und verliert so ihre Achtung.
In der Vorrede zur Prosafassung des «Abällino» schrieb Zschokke: «Ich nehme gewisse Karaktere und führe sie durch eine Reihe von Situazionen, und beobachte, wie sie sich in all diesen Verhältnissen ausnehmen.»284 Bei Charlotte Corday ist es genau umgekehrt: Die Situationen und Handlungen waren vorgegeben, und er versuchte, daraus die Charaktere zu erfassen. Zschokkes Corday ist eine psychopathologische Studie zur Erfahrungsseelenkunde.
Gerne wird in der Literatur hervorgehoben, Zschokke habe in seiner Charlotte Corday eine emanzipierte Frau dargestellt.285 Dabei wird übersehen, dass er ihr zwar die Freiheit zubilligt, nach eigenem Willen und Ermessen zu handeln, ihr die Fähigkeit zur sachlichen Abwägung ihrer Handlungen und deren Konsequenzen aber abspricht. Es geht nicht um eine «neue Weiblichkeitskonzeption als Erfüllung bürgerlicher Freiheitswünsche»,286 sondern um eine Wiederaufnahme der Kontroverse, die seit mindestens 1775 geführt wurde: die Kontroverse um politische, religiöse und künstlerische Schwärmerei.287
Zschokke bezeichnete Charlotte Corday als schöne philosophische Schwärmerin,288 weil sie utopische, nicht realisierbare Ziele vertrat: die Freiheit der Menschen in einer freien Nation. Der junge Zschokke sah sich selber als Schwärmer und war sich der Ambivalenz seines Tuns bewusst, wenn er sich einer ungezügelten Phantasie und Spekulation überliess, statt sich auf streng wissenschaftlichem oder philosophischem Boden zu bewegen. Schwärmerei, soweit sie sich nicht in einen Gegensatz zur Vernunft stellte, verband Zschokke in seiner Frankfurter Zeit mit Kreativität und Subjektivität, mit der Möglichkeit, sich ganz den Träumen und Gefühlen hinzugeben, Eigenschaften, die er bei seinem literarischen Schaffen und im nichtakademischen Philosophieren gern für sich in Anspruch nahm. Schwärmen und Schwärmerei war eine Domäne, die er auch und gerne Frauen zugestand.
Zschokke hatte nicht die Absicht, einen «embryonalen Feminismus einer republikanischen Schwärmerin» vorzuführen, die «der Männermacht trotzt», wie Arnd Beise meint,289 sondern die gefährlichen Folgen einer aus Schwärmerei begangenen politischen Handlung aufzuzeigen. Er bezeichnete sein Trauerspiel als «Miniatürgemählde», von dem er zweifle, dass es je auf die Bühne komme.290 Man wundert sich, dass er die Form des Dramas wählte, da die tatsächlichen Ereignisse seine künstlerischen Möglichkeiten stark einengten. Offenbar hatte er nach einem fast vierjährigen Unterbruch Lust, sich wieder einmal an einem Theaterstück zu versuchen, moralisierend auf ein breiteres Publikum einzuwirken. Man muss Zschokke zubilligen, dass er sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzte, der Aufbau des Stücks eine in sich schlüssige Handlung voranbringt, die Dialoge stimmig sind und viel Liebe in den Details steckt. Das Drama ist mit grosser Sorgfalt abgefasst und in Blankverse gesetzt,291 aber es wäre besser gewesen, Zschokke hätte es als Fragment belassen, so, wie es im «Litterarischen Pantheon» abgedruckt ist.
Anna Bütikofer, Mitorganisatorin des Zschokke-Symposiums vom Herbst 2005 in Aarau, hatte die gute Idee, zum Abschluss der Tagung in einer szenischen Lesung Auszüge aus der «Charlotte Corday» vortragen zu lassen. Der alte Saal des Geschworenengerichts im Ratshaus war gefüllt, und das Publikum genoss sichtlich den Charme dieses über zweihundert Jahre alten Werks, dessen sprachliche Kraft in der schauspielerischen Leistung von Marianne Burg und Hansrudolf Twerenbold ausgezeichnet zur Geltung kam – vermutlich handelte es sich um die Uraufführung des Stücks.
Noch in einem weiteren Drama befasste sich Zschokke mit der Französischen Revolution, im Bauernschwank «Der Freiheitsbaum»,292 der um 1793 in einem deutschen Dorf an der französischen Grenze spielt, an einem einzigen Morgen vor dem Haus des reichen Bauers Blum. Bedauerlicherweise wurde dieser unterhaltende Einakter voller Situationskomik und witziger Dialoge bisher kaum zur Kenntnis genommen. Gerhard Steiner nimmt ihn zwar in seine Sammlung «Jakobinerschauspiel und Jakobinertheater» auf,293 schrieb ihn aber Nikolaus Müller zu.294 Obwohl er nach einer Korrektur durch Holger Böning295 den Irrtum in einer zweiten Auflage richtig stellte,296 beharrte er darauf, dass man das Stück «für eine Arbeit des Mainzer Jakobiners und Theaterdichters Müller» halten konnte»,297 und dass sich die revolutionäre Mainzer Bühne diesen Stoff sicher nicht habe entgehen lassen, sondern sie aus dem Manuskript spielte.298 Es ist zu wünschen, dass in einer dritten Auflage diese Vermutungen gestrichen und der Text des Stücks noch einmal sorgfältig mit dem Original in der Staatsbibliothek Berlin verglichen wird. Wie hätten die Mainzer ein Stück aufführen können, das erst ein Jahr nach dem Ende ihres politischen Experiments entstand?
Ganz sicher war es nicht als Revolutionsdrama gedacht. Politisch bezog Zschokke einmal mehr nicht Stellung. «Der Freiheitsbaum war eine Farce für eine Familiengesellschaft, die ich doch auch ausspielen wollte; ich verschenkte es an Apitz. Ob’s behagt, weis ich nicht», schrieb er im Februar 1796 an Behrendsen.299 Auf keinen Fall kann man Zschokke wegen dieses Dramas als Sympathisanten oder Anhänger der Französischen Revolution sehen. Hans-Wolf Jäger, der sich auf die Interpretation Steiners stützt, hält Zschokkes «Freiheitsbaum» aber für «das beste Erzeugnis jakobinischer Schauspieldichtung, [...] geradezu für diesen Zweck verfaßt».300 Das Gegenteil ist der Fall, und das lässt sich mit einer Fülle von Aussagen Zschokkes belegen: Er betrachtete die Revolution der Franzosen in jener Zeit als eine Revolte, hervorgerufen durch eine erhitzte Einbildungskraft.301 Die Zauberworte Freiheit! Gleichheit! hätten die Köpfe verwirrt; die Forderung entspringe nicht Idealen, sondern