Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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Zschokke die Dialoge und akzentuierte die Charaktere. Er vermied es, für Abällino Mitleid zu erwecken, liess ihn nicht erst bittere Erfahrungen als Bettler machen, sondern gleich als Mörder ins Geschäft steigen. Er brauchte jetzt nicht mehr in Hamlets Manier zu zaudern und mit seinem Schicksal zu hadern. Auf der Bühne ist Abällino ein Tatmensch, der das Geschehen vorantreibt und kontrolliert, unzimperlich, direkt, fordernd. Nichts und niemand kann sich ihm entziehen. Das Finale wird sorgsam vorbereitet: Er darf seinen Coup landen, die Verschwörer entlarven, sich von aller Schuld reinwaschen und Rosamunde aus der Hand des Dogen empfangen. Sein Brigantentum ist von Anfang an auf Verstellung angelegt, kühl kalkuliert, um den politischen Bösewichten ihr Handwerk zu legen und des Dogen schöne Nichte zu gewinnen. Rosamunde bezieht im Drama deutlicher Stellung als in der Erzählung: Sie verabscheut Abällino, während sie Flodoardo liebt.

      Dies zerstört zwar die Komplexität der Erzählung, verstärkt aber den Theatereffekt in der Stunde der Enthüllung. Im Publikum hinterliessen die Aufführungen das wohlig-gruselige Gefühl, brutalen Banditen bei der Arbeit zuzusehen und am Schluss die Genugtuung zu haben, dass Venedig durch die mutige Tat des Helden vor der Anarchie gerettet wird. Der Bezug zur politischen Lage Deutschlands war mit den Händen zu greifen: Die allgegenwärtige, auch propagandistisch geschürte Angst vor Revolutionen und vor Versuchen, deutsche Fürsten zu stürzen, wird in Zschokkes Stück geschickt benutzt, dramaturgisch verstärkt und im befreienden Schluss aufgelöst.

      Der Januar 1794 begann für Zschokke mit einer neuen Zeitschrift, die wiederum bei Apitz erschien. Sie war ganz auf Zschokkes Bedürfnisse zugeschnitten und trug den Namen «Litterarisches Pantheon», weil er sich inhaltlich nicht festlegen wollte: Wie der griechische Tempel sollte sie allen Göttern oder Musen dienen, mit denen er sich gerade herumschlug: Sie enthielt Essays, Gedichte, Dramen, Märchen, Versepen und anderes. Es war eine Fortsetzung der «Schwärmerey und Traum in Fragmenten, Romanen und Dialogen», in monatlicher Stückelung zu 96 Seiten in Oktav (sechs Bogen), und die einzige Zeitschrift Zschokkes, in der er sich an kein klar definiertes Publikum mit einem fest umrissenen Programm wandte. Er liess es darauf ankommen, ob die Zeitschrift Anklang fand. Der Plan, sei «so gut als gar keiner», rügte die «Allgemeine Literatur-Zeitung».261 Gerade das gibt dem Zschokke-Biografen eine gute Ausgangslage, um Einblick in die schriftstellerische Werkstatt und gedanklichen Schwerpunkte Zschokkes zu erhalten. Leider fehlen in den Beständen im Stadtarchiv Frankfurt (Oder) die beiden mittleren Quartalsbände.262 Carl Günther hatte noch Zugriff auf alle vier Bände, als letzter und vielleicht einziger Benutzer, der sie auswertete.263

      Das «Litterarische Pantheon» war die Publikation eines jungen Gelehrten und Dichters mit einem Hang zum Philosophischen, kam in wesentlichen Teilen monologisch daher und dürfte knapp die Aufmerksamkeitsschwelle einer gebildeten Öffentlichkeit überschritten haben. Zschokke verfasste den grössten Teil der Beiträge selbst, aber er schrieb seine Zeitschrift nicht ganz allein.264

      Alle Aufsätzen im «Litterarischen Pantheon», wie auch das meiste, was Zschokke später schrieb, haben einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart oder zu einer aktuellen Auseinandersetzung, als Vorgeschichte, Materiallieferant, Spiegel, Vor- oder Gegenbild. Geschichte, auch Philosophiegeschichte, besass für Zschokke die Aufgabe, den Zeitgenossen lehrreich zu sein. Es gab für ihn keinen Elfenbeinturm des Gelehrtenwissens; stets versuchte er, ihn zu verlassen, um anschaulich zu werden, pädagogisch zu wirken, nützlich zu sein.

      Wenn man die Aufsätze aneinanderreiht, so lesen sie sich wie ein Plädoyer und eine Kampfansage gegen den Woellnerschen Geist, der auf den Kathedern und in den Amtsstuben Einzug nehmen sollte. «Der Geist des Zeitalters beugt sich weder vor Gesetzen noch Armeen!» heisst einer von ihnen.265 Der Geist des Zeitalters – die Aufklärung – lasse sich nicht rückgängig machen. Es ist dies der Schlüsselaufsatz der Zeitschrift, die Quintessenz von Zschokkes naturrechtlichen und staatsphilosophischen Überlegungen aus der Frankfurter Zeit. In Anspielung auf Kants Definition der Aufklärung meinte Zschokke, der Mensch habe sich in Europa von seiner geistigen, politischen und theologischen Unmündigkeit emanzipiert, glaube sich «dem Gängelbande der Monarchen und Priester entwachsen, und groß genug zu seyn, ohne Vormund agiren zu können»,266 dulde keine Fesseln des Geistes mehr, keinen anderen Kanon als jenen, den seine eigene Vernunft ihm diktiere.267 In einem geschichtlichen Überblick zeigte er auf, wie der Mensch in einem langen Prozess seine Vernunft erlangt habe, wie die Reformation der Theologie der Reformation der Philosophie vorausgegangen sei und vorausgehen musste.268 Auf die Forderung nach Gedankenfreiheit folgte die Forderung nach Freiheit des Handelns,269 und dies habe zu den Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts geführt, aus der noch immer der Geist der Kirchenreformation des 16. Jahrhunderts spreche.270

      Die Freiheit, so Zschokke, habe positive und negative Auswirkungen, da die Menschen noch über keine «wirksame, geläuterte, praktische Vernunft» verfügten, «die nur auf ihre erhabnen Gesetze hinzeigt», sondern als sinnliche Wesen ihren Affekten und Leidenschaften nachgäben und verführbar seien.

      «Es ist eine heilige Pflicht, die Menschen im Allgemeinen auszubilden und zu veredeln; die Fürsten selber müssen, als Freunde ihres Geschlechts, hierzu die Hand bieten, müssen stolz darauf seyn, Oberherren einer denkenden Nation zu heissen, statt Regierer einer trägen, dummen, gefühllosen Marionettenversammlung genannt zu werden.»271

      Dagegen vermöge die «Polizierung», die äusserliche Zivilisierung, nichts, wie das Beispiel Frankreichs zeige; sie schütze nicht vor gewaltsamen Staatsrevolutionen. Es gebe auf die Frage, «welches ist das beste, unfehlbarste Mittel, gewaltsamen Revolutionen vorzubeugen?», eine Antwort: «Leget dem Volke keine Ketten an, so hat es keine zu zerbrechen; presset dem männlichen Geist der Nation nicht den eisernen Kinderschuh des Gesetzes auf! – Seht auf Friedrich den Einzigen und seinen weisen Nachfolger!»272

      Dieser groteske Schlusssatz, der Kniefall vor dem neuen preussischen Herrscher, ist ein hässlicher Missklang in der sonst stolzen Rede, eine Geste der Huldigung, aber auch der Hoffnung, Friedrich Wilhelm II., der ja eines Sinns mit Woellner war, im gleichen Ausmass Werkzeug und Herr, werde sich von seinen Beratern lösen, seinen Platz an der Seite des Volks suchen und Adel und Kirche vom Hof verjagen. Diese Überzeugung, die noch ein Vierteljahrhundert später, während der Metternichschen Restauration, Zschokkes Haltung gegenüber Monarchen prägte, gibt seinen politischen Aufsätzen nicht selten einen Anflug des Bizarren.273

      Zschokkes letzter Beitrag im «Litterarischen Pantheon» ist ein philosophischer tour d’horizon zur Frage nach der Rolle des Menschen im Universum, seiner Natur und seinem Erkenntnisvermögen.274 Die Quintessenz ist, dass es keine Gewissheit gebe von dem, was wir über die Welt und von uns selber zu wissen meinten: «es ist nicht mehr, als wir aus dem Kerker unsers Leibes durch die fünf Fenstern, welche wir Sinne heißen, zu erblicken im Stand sind».275

      «Wir tappen also in jener sonderbaren Dunkelheit, und weiden uns an einer ewigen Täuschung. Dämmernd und unbekannt ist, was da draußen wohnt; aber wir nehmen die Kinder unsrer Sinnenorganisation auf, wie das Wirkliche, welches uns zu umringen scheint, oder umringen mag. – Wir philosophiren alsdann nicht über die Welt, sondern immer über unsre eigne Natur; wir kennen keine Welt, sondern nur die Erzeugnisse unsers Sensoriums. Diese sind unsre Welt.»276

      Der Mensch glaube, von Gott ausgezeichnet, zum Herr der Welt bestimmt, kraft seines Geistes, der Künste und Wissenschaften über alle anderen Geschöpfe erhaben zu sein. Und doch sei er nur ein Bündel von Nervenfasern, hilflos und sterblich, Naturkatastrophen, Seuchen und Kriegen und seiner eigenen Sinnlichkeit preisgegeben.

      «Das sichtbargewordne Strumpfband unterm Knie eines Mädchens, die unwillkührliche Verrückung eines Busentuches, ein Gläschen Weins über die alte Regel – bläst Aufruhr durch die Adern, treibt das rastlose Spiel der Nerven schneller, sezt die Einbildungskraft in helle Flammen, und das Produkt der ganzen Bagatelle ist – nach wen[i] gen Monden ein Mensch, an welchen Vater und Mutter beim Strumpfband, Busentuch und Weinglase am wenigsten gedacht hatten.»277

      Mit diesem trostlosen Ausblick auf die menschlichen Schwächen, die so gar nicht dem Bild von der Krone der Schöpfung entsprachen, ging der Aufsatz und der einzige Jahrgang