Soweit wir die Memorabilia Zschokkes und seiner Freunde kennen,70 spielen die üblichen studentischen Streiche kaum eine Rolle. Neben sonntäglichen Ausritten in die Neumark oder in die Lausitz, nach Pommern oder Polen,71 kleinen Zwischenfällen mit peinlichen oder gut gemeisterten Situationen und Andeutungen auf Gefühle und Liebschaften thematisierten die Studenten ihre Gespräche. Carl Günther gibt einige Memorabilia Zschokkes aus Marmalles Stammbuch wieder: In Erinnerung an die Neujahrsfeier 1790/91 stand da: «Schmerzliche Nachwehen!» Während einer Bootsfahrt sei es zum Streit über das Prinzip der Ästhetik gekommen. «Öftere Fehden unter uns, welche übrigens die Würze der Freundschaft bleiben müssen.» Ferner: «Eine alte polnische Dame wird von mir für die neuankommende Geliebte gehalten. Oh!» In Sommer 1791, nach einem Ritt zu Burgheim nach Landsberg: «Wir bitten Mr. Lichtenfeld und Mamsell D** noch um ein paar Schritte. Es geht ein Herz verloren.»72
Zschokkes erster Eintrag in Marmalles Stammbuch, datiert vom 10. Juni 1791, steht unmittelbar neben jenem von Immanuel Kant vom 22. April, der Marmalle zum Abschied von Königsberg einen sinnigen Spruch von Plautus mitgab: «Tu, si ex animo velis bonum, / Addas operam. Sola cadaver est voluntas.» Zschokke schrieb denselben Vers hin wie bei Hempel und fügte die Frage hinzu: «Bruder bin ich dir so unvergeslich, als Kant der Nachwelt?»73 Weiter hinten in Marmalles Stammbuch hielt Zschokke noch einige triviale Vorgänge fest, die zeigen, dass auch diese Freundschaft nicht nur von gewichtigen Themen bestimmt war.
Hempel, wiewohl für die Juristerei bestimmt, wetteiferte mit Zschokke im Dichten. Seine zwölf Jahre jüngere Schwester Helmina von Chézy, Dichterin wie ihre Mutter Caroline Louise von Klenke und ihre Grossmutter Anna Louisa Karsch, schrieb in ihrem autobiografischen Werk «Unvergessenes» über Hempel und Zschokke:
«Beide Jünglinge waren poetisch, geistvoll, feurig, beseelt. Ihre Treue hat sich bis in das Greisenalter glänzend bewährt. Nur ihre Laufbahn war verschieden, nicht ihr Gefühl, noch ihre Gesinnung. Mein Bruder hätte seinem Talent zur Poesie vertrauen sollen; er hielt sich nicht ausschließlich genug an Zschokke: er gerieth auf abirrende Bahnen, weil er sein Ziel aus den Augen verloren hatte.»74
Die «abirrenden Bahnen» sollten vielleicht das Bedauern ausdrücken, dass Hempel als Beamter das Dichten aufgab und seine Begabung verkümmern liess. Hempel sah es offenbar anders, wie aus dem fünften Memorabilium hervorgeht: Die Einsicht, dass ihm Zschokke hierin überlegen war, musste ihn entmutigen. Das sechste Memorabilium von Hempel bezieht sich auf zwei Gedichte Zschokkes, von denen Zschokke das eine, einen Gruss an einen (weggezogenen? verstorbenen?) Freund, veröffentlichte: «Nach dem Abschiede, an Sanft.»75 Die Innigkeit, die darin zum Ausdruck kommt und durch die Melodie von Zschokkes Magdeburger Freund Kallenbach wahrscheinlich verstärkt wurde,76 lässt erahnen, wie emotional Freundschaften unter Studenten damals sein konnten, zu einer Zeit, da Männerfreundschaften die Beziehung zum anderen Geschlecht ersetzen mussten.
Unverheiratete bürgerliche junge Frauen waren für arme Studenten nahezu unerreichbar; sie lebten in der Obhut ihrer Eltern, bis sie standesgemäss verheiratet wurden. Das Bedürfnis nach Liebe und Zärtlichkeit wurde auf Männer übertragen, in der Steigerung Freundschaft, Blutsbruderschaft und Leidenschaft, verbunden mit Eifersucht, wobei bis auf die Sexualität alles da war, was zur Intimität gehört. Man ging Arm in Arm durch die Strassen, vertraute sich Geheimnisse an, umarmte sich, küsste sich auf den Mund, weinte gemeinsam, tröstete sich und schwor sich Treue und Liebe bis in den Tod. Man darf das jugendliche Alter – die Studenten waren oft nicht älter als 18 bis 22 Jahre –, die Unaufgeklärtheit und mangelnde Reife nicht ausser Acht lassen. Da die Sexualität bei jungen Männern keine Rolle spielte oder spielen durfte, konnte sich die Zuneigung zueinander enger und unbefangener gestalten als in unserer hedonistischen, übersexualisierten Welt. Gefühle unter Burschen standen in ihrer Intensität und Innigkeit Mädchenfreundschaften in nichts nach. Zschokke ging einige solcher Busenfreundschaften ein, die nach der gemeinsamen Studienzeit ausliefen. Was blieb, waren Erinnerungen, Stammbucheinträge, Gedichte und zärtliche Briefe.
Nachdem man sich ein halbes Jahrhundert lang aus den Augen verloren hatte, trat Zschokke in den 1840er-Jahren mit einigen Kommilitonen wieder in einen Briefwechsel, wobei die Initiative meist von den Freunden ausging, da sie Zschokkes Werdegang und Itinerar leichter verfolgen konnten als umgekehrt. Sein Ruhm hatte jetzt den Zenit erreicht. Aber nicht deshalb knüpfte man wieder Kontakt, sondern im Bewusstsein, dass es eine der letzten Gelegenheiten war, sich gegenseitig der unverbrüchlichen Freundschaft zu versichern, bevor der Tod sie für immer schied. Man zog also das Stammbuch hervor und schwelgte in den früheren Gefühlen und Narreteien, ohne Scham, dafür mit Wehmut.
Dabei wird ein zweites Element solcher Freundschaften deutlich: der Gleichklang der Seelen durch übereinstimmende Gedanken, glühende Ideale, das schwärmerische Weltbild. Es war die Zeit überwallender Empfindungen und grosser Empfindsamkeit. Das Leben hatte sich im Laufe der langen Jahre verflacht und versachlicht, man dachte gern an die leidenschaftliche Jugend zurück. Der im Juni 1791 geschlossene Bund zwischen Zschokke, Lohde und Marmalle wurde bei aller Überspanntheit – man brachte sich beim Ritual der Blutsbruderschaft einen Schnitt am Handgelenk bei, dessen Narbe sichtbar blieb77 – bereits damals ironisch reflektiert. Ein Memorabilium Zschokkes im Stammbuch von Marmalle erinnert daran: «Der Bund für die letzte Lebensstunde und irdisches Wohl, geschlossen bei unserm Bluttrank und einer Schüssel grüner Erbsen!»78
Ein Kreis um Zschokke erhielt oder gab sich den Namen «Chocolatebrüder», da er sich mit flüssiger Schokolade oder Zitronenwasser begnügte, statt den Brauch deutscher Verbindungsstudenten an den Tag zu legen, die Freundschaft mit Bier zu besiegeln. Mit einigen Studenten, vielleicht gerade mit diesen Schokoladebrüdern, ging Zschokke ein besonders enges Verhältnis ein. Man dachte sich neue Welten oder Abenteuergeschichten aus oder spekulierte über philosophische und religiöse Fragen, über Utopien; hier durfte die Phantasie überborden, ohne Anstoss zu erregen. Zschokke war Mittelpunkt dieses Kreises, der auf ihn befruchtend zurück wirkte. Ideen und Konzepte, die hier entstanden, arbeitete er zu Aufsätzen oder Romanen aus; die Erzählung «Abällino, der grosse Bandit» scheint hier ihren Ursprung zu haben.79 Liest man Zschokkes auf Fortsetzung angelegte zweibändige Publikation «Schwärmerey und Traum in Fragmenten, Romanen und Dialogen», so findet man vieles davon wieder, was diesen Freundeskreis damals beschäftigte.
Ein Thema, mit dem Zschokke sich damals intensiv auseinandersetzte, blieb die Frage des Lebens nach dem Tod. Wenn es ihn schon irritierte, dass die Existenz Gottes sich nicht zweifelsfrei beweisen liess, so verstörte ihn der Gedanke erst recht, dass mit dem Tod alles zu Ende sein sollte. Also begann er nach Alternativen zur naiven jüdisch-christlich-muslimischen Vorstellung einer physischen Wiederauferstehung zu suchen. Gefunden hat er sie in der Idee der Seelenwanderung bei den Pythagoräern, Brahmanen, Buddhisten und in der christlichen Gnosis. Die Ergebnisse seines Nachdenkens und der Gespräche mit Freunden legte Zschokke im Aufsatz «Vergangnes Seelendasein und dereinstiges» unter dem Pseudonym Johannes von Magdeburg nieder.80
Dieser Aufsatz ist ein Schlüsseltext zum Verständnis von Zschokkes religiöser Entwicklung, und wenn er auch die Vorstellung einer Wiedergeburt bald wieder aufgab, so hielt er doch noch länger an der Idee der Vervollkommnung des Menschen im diesseitigen Leben fest, in der Beglückung der Mitmenschen und in der Freude am Dasein. Der irdische Genuss, die intellektuelle und moralische Bildung und nicht das Versprechen auf ein Jenseits war die Genugtuung, die Gott dem Menschen schenkte. Der eigentliche Sinn des Lebens sei Freundschaft, Weisheit und Menschenliebe. In zwei Gesprächen – schwärmerisch mit einem Fräulein von Z. und philosophisch mit Myron – erläuterte Zschokke seine Idee der Seelenwanderung weiter und hob ihre Vorteile gegenüber anderen Theologien hervor.81 Auch wenn sie nicht mehr als eine Mutmassung sei, habe sie eine «wohlthätige Stärke»82 und müsse schon deshalb verfochten werden, da sie Plausibiliät besitze und «den vortheilhaftesten Einfluß auf Sitten und Karakter des Volks» haben könne.83
Otto Ferdinand Lohde (1770–1851), später Jurist und während vierzig Jahren Bürgermeister in Hildesheim, erinnerte ihn 1841 an jenen «Bunde ewiger Treue und unverbrüchlicher Freundschaft», der vor fünfzig Jahren, «bei Gelegenheit unsrer Unterhaltung über Entstehn, Seyn und Tod –