Viadrina hinsichtlich Forschung und Lehre hatte. Es scheint, dass die Professoren bis auf Ausnahmen gut miteinander auskamen. Bei den kleinen Fachschaften galt es, sich gegenseitig auszuhelfen und vor allem nach aussen mit einer Stimme aufzutreten. An der theologischen Abteilung lutherischer Ausrichtung ging es an der Viadrina recht beschaulich zu und her.
Von 1790 bis 1792 wohnte Zschokke mit anderen Studenten bei Professor Hausen an der Forststrasse 1, hier von der Hofseite fotografiert. Über eine Aussentreppe und die hölzerne Galerie gelangte man zu den Stuben im ersten Stock.
Die meisten Theologiestudenten zog es an die Universität Halle, es sei denn, sie waren reformiert. Der brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund, der zur reformierten Konfession übergetreten war, hatte 1617 verordnet, die theologische Fakultät der Viadrina solle ausschliesslich dieser Glaubensrichtung dienen. Alle ordentlichen Professuren waren fortan für die Ausbildung reformierter Theologen reserviert.11 Lutheraner wie Zschokke mussten sich an der Viadrina mit ausserordentlichen Professoren begnügen, von denen eine einzige besoldet wurde. Hausen stellte in seiner 1800 erstmals erschienenen «Geschichte der Universität und Stadt Frankfurt an der Oder» aber klar, dass die theologischen Diplome der Viadrina jenen der Universitäten Halle und Königsberg gleich seien, da sie die Absolventen befähigten, in Preussen «alle geistlichen Ämter und die Predigerstellen bei den Regimentern auszuüben».12 Diese Qualifikation sagte freilich wenig über die Qualität der Ausbildung aus. Gotthilf Samuel Steinbart hatte seit 1774 eine unbezahlte theologische Professur, war aber zugleich ordentlicher Professor für Philosophie mit einem Jahresgehalt von 400 Talern.
Unter Friedrich dem Grossen konnte sich die Forschung und Lehre relativ frei entfalten, und die Theologen durften ihre Ansichten ungeniert äussern, solange sie nicht der Staatsräson zuwiderliefen. Sein Neffe Friedrich Wilhelm II. (König von 1786 bis 1797) setzte dieser monarchischen Grosszügigkeit ein Ende, indem er seinen Günstling und Berater Johann Christoph Woellner (1732–1800) zum einflussreichen Minister des Geistlichen Departements erhob, unter dessen Leitung 1788 ein Religionsedikt und ein Zensuredikt erlassen wurde, das die religiöse und theologische Aufklärung vor allem an Universitäten und Schulen bekämpfen sollte.13
Auf ausdrücklichen Wunsch des Königs wurde im gleichen Jahr an der Viadrina ein lutherischer Theologe zum bezahlten ausserordentlichen Professor ernannt, einer, der Gewähr bot, dass er «die christliche Religion rein und lauter und nicht nach dem jetzigen verwerflichen Modeton» unterrichte:14 der Pastor an der Frankfurter Marienkirche, Friedrich Nathanael From (1736–1797). Mit dem «verwerflichen Modeton» war die Neologie gemeint, eine auf Vernunftprinzipien basierende Theologie, ein Kind der Aufklärung.15 Die Ernennung war ein Schlag ins Gesicht der vom liberalen Geist geprägten Viadrina, vor allem auch für Steinbart, «den Helden der Vernunft und der Wahrheit, den lichtvollen Denker».16 Dieser trug die Hauptlast der Theologenausbildung Augsburger Richtung, assistiert vom Prediger an der Frankfurter Unterkirche J. G. Hermann, der ebenfalls 1788 zum ausserordentlichen Professor ernannt wurde, aber sein neues Amt gratis versah. Wohl wegen seiner obrigkeitlich verfügten Ernennung, seiner konservativen Einstellung und vielleicht auch wegen seines Vortragsstils, hatte From einen schweren Stand im Kollegium und unter den Studenten. Die Immatrikulationen an der theologischen Fakultät sanken 1790 um ein Drittel gegenüber 1789.17
Dies war die unerfreuliche Situation, als Zschokke im Sommersemester 1790 sein Theologiestudium aufnahm. Welche Vorlesungen er an dieser Fakultät besuchte, ist nicht bekannt, am ehesten jene, die Steinbart in einem viersemestrigen Zyklus anbot.18 Steinbart trug seine Vorlesungen teils nach einem Lehrbuch vor, teils diktierte er sie den Studierenden. Dazu gab er Praktika, im Sommersemester 1790 homiletische Übungen, jeden Morgen von 11 bis 12 Uhr eine historisch-kritische Einführung ins Alte Testament für Lutheraner und um 3 Uhr eine Geschichte der Symbole und symbolischen Bücher der christlichen Kirche (nur montags und dienstags). Ferner hielt er zwei philosophische Vorlesungen: Ästhetik nach seinem Lehrbuch «Grundbegriffe zur Philosophie über den Geschmack»19 (um 8 Uhr morgens) und Logik nach seinem Lehrbuch «Gemeinnützige Anleitung des Verstandes zum regelmäßigen Selbstdenken»20 (von 10 bis 11 Uhr).21 Diese beiden Vorlesungen waren propädeutisch gedacht für Hörer aller Fakultäten, also vorab für Anfänger, für die Steinbart regelmässig auch eine allgemeine Einleitung in das akademische Studium gab.
Logik war die am meisten gehörte Vorlesung an der Viadrina, da jeder Studierende, der sich examinieren lassen wollte, ein Testat brauchte, an ihr teilgenommen zu haben.22 Als Lehrender war Steinbart mindestens ebenso sehr Pädagoge wie Theologe und Philosoph, und seine Vorlesungen bezweckten «die Richtung aufs Praktische», wie er Zschokke später in einem Brief in die Schweiz mitteilte.23 Infolgedessen sollte auch seine Logik die Prinzipien der logischen Schlüsse nicht abstrakt referieren, sondern, wie der Titel seines Lehrbuches schon sagt, den Studienanfängern eine gemeinnützige Anleitung zum Selbstdenken vermitteln. Man habe ihm den Vorwurf gemacht, schrieb er in der Vorrede zur 2. Auflage, «daß es für ein akademisches Lesebuch allzupopulär abgefaßt sey, weil die zur Erläuterung der Regeln darin angeführten Beyspiele nicht aus den höhern Wissenschaften, sondern aus dem gemeinen Leben fast sämmtlich entlehnt worden sind».24
Steinbart, «der bedeutendste Sozialethiker der mitteleuropäischen Spätaufklärung»,25 ein Schüler des Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), der bis zu seinem Tod an der Viadrina gelehrt hatte, war kein Freund des kunstmässigen Spaltens und Zergliederns der Begriffe «bis in solche kleine Theile [...], die nicht mehr mit dem blossen Verstande, sondern nur vermittelst dazu ganz eigentlich zugespitzter technischer Redformeln annoch gefaßt werden können».26 Er zweifelte an der Alltagstauglichkeit von Theorien und hielt «die gesundere und practische Philosophie des Gemeinsinns» der «Unfruchtbarkeit und Unsicherheit der transcendenten Speculationen» entgegen. Sein kaum zu überschätzender Einfluss auf seine Studenten zeigt sich darin, dass Zschokke diese Haltung Steinbarts übernahm.27
Im Zschokke-Nachlass befinden sich drei Nachschriften von Vorlesungen Steinbarts, die über seinen Studienfreund Johann Gabriel Schäffer (1768–1842) Jahrzehnte später an ihn zurückgelangten.28 Die beiden philosophischen Vorlesungen zum praktischen Vernunftgebrauch und zur Frage des Geschmacks29 hatte sich Zschokke bestimmt auch nicht entgehen lassen, aber da ein Lehrbuch vorlag, brauchte er nicht mitzuschreiben. Dagegen haben wir aus dem ersten Semester seine sechzigseitige Niederschrift «Über die Symbola und symbolischen Schriften der christlichen Kirchpartheien und der lutherischen insonderheit».30
Dies war eine Pflichtvorlesung für die Theologiestudenten, aber für Steinbart ein heikles Thema, um das heftige Debatten geführt wurden: Welche Aussagen und Schriften sollten als Dogmen einer Konfession gelten? Musste man sie predigen und glauben, selbst wenn sie dem gesunden Menschenverstand, den Naturgesetzen, der Lebenserfahrung und der philosophischen Ethik widersprachen? Steinbart, der vom englischen Empiristen John Locke und von der Idee des common sense, des gesunden Menschenverstands geprägt war, machte kein Hehl daraus, dass ihm dies schwer fiel. Die allgemeine christliche Kirche bedürfe keiner Bekenntnisse ausser dem Satz: «Jesus ist der Christus, auf welchen die Apostel getauft haben», und das Neue Testament sei ihre einzige Grundlage. Nur Kirchenparteien bedürften zu ihrer Abgrenzung voneinander zusätzlicher Symbole und symbolischer Schriften.31
Steinbart wich einer Konfrontation mit der Orthodoxie aus, indem er erklärte, er trage seine Ansichten historisch vor, ohne über die Richtigkeit der Grundsätze der einzelnen Kirchenparteien zu urteilen.32 Tatsächlich stellte er die Glaubenssätze der verschiedenen christlichen Kirchen einfach nebeneinander, von der evangelischen über die griechische bis zu den anabaptistischen. Es sei Sache der Pastoraltheologie, erklärte er am Schluss seiner Vorlesung, dazu Stellung zu nehmen und ausführlich von «der Autorität und dem Gebrauch der symbol[ischen] Schriften in unseren Tagen, besonders in wiefern sie das Gewissen der Protestantischen Lehrer einschränken», zu sprechen.33
Steinbart legte biblische Texte aus, ohne Rücksicht auf kirchliche Autoritäten oder Traditionen zu nehmen; er nannte Theologen,