bis zu jener Stelle, wo die reuevolle Arabelle seufzt: «O Lyonnel, was haben wir gethan!»163 Dazu gab Zschokke den Kommentar: «Eine in der Lage sehr gewöhnliche Frage der Damen; hätte lieber manche manchen gefragt: o Lyonnel, was wollen wir thun? es wäre vielleicht besser gewesen.» Im ursprünglichen Gedicht lautet die Antwort des Liebhabers auf Arabelles Seufzer bejahender:
«Frag nicht mehr: ,Lyönnel, was haben wir gethan?’ –
Gethan, was die Natur, was Gottes Engel sahn.»164
Wie eng Zschokke sich in seiner Versdichtung an Wieland hielt, zeigt eine ähnliche Szene im «Oberon». Dort entwindet sich Amanda dem Arm ihres Geliebten Hüon, nachdem sie sich gegen Oberons Weisung miteinander vereint haben: «Gott!» ruft sie aus, «was haben wir gethan!»165
Man mag sich über diesen Ausflug Zschokkes in die erotische Literatur wundern, die ihm einen Eintrag in Hayn/Gotendorfs «Bibliotheca Germanorum Erotica & Curiosa» einbrachte, in den Biografien aber schamhaft verschwiegen wird.166 Er experimentierte mit verschiedenen Literaturformen und sicherlich auch mit der eigenen Sexualität. Erotisch-schwüle Stellen in Romanen wurden zu jener Zeit, wie zu früheren und späteren Zeiten auch, begierig verschlungen und wirkten verkaufsfördernd. Es war für den Autor eine Gratwanderung abzuschätzen, wie freizügig eine Darstellung sein durfte. Die Liberalität oder Prüderie des Bürgertums und des staatlichen Zensors entschieden, ob ein Buch verboten wurde, in die öffentlichen und Leihbibliotheken aufgenommen wurde oder als galante Literatur unter dem Ladentisch gehandelt in Privatbibliotheken verschwand. Vielleicht trug diese Schwierigkeit dazu bei, dass man Zschokkes «Bibliothek nach der Mode» nirgends mehr findet und keine Fortsetzung erschien.
Die kleinere Schwester der Oper, eine Vorform der Operette, war im 18. Jahrhundert das Singspiel.167 Auch in diesem Genre, dem Theater näher als dem Versepos, versuchte Zschokke in Landsberg sein Glück. Unter dem schönen Titel «Meloda» verfasste er eine «dramatische Schwärmerei, aus den Zeiten der Kreuzzüge» in Jamben.168 Von seinem Freund, dem Landsberger Kantor und Lehrer Friedrich Gottlieb Teichert (* 1731), wurde es in Musik gesetzt und in Privatgesellschaften aufgeführt,169 vermutlich unter Beihilfe Burgheims und seiner geschrumpften Theatergesellschaft. Das war ohne übermässigen Aufwand möglich, da nur vier Personen vorkommen: der Eremit Michael und sein geistig zurückgebliebener Sohn Antonio, die in ihrer Klause Besuch von einer schönen Büsserin erhalten, Meloda, und von Fernando, einem Ritter, der seine Rüstung stets anbehält, als befinde er sich noch immer auf dem Kreuzzug. Das hat seinen dramaturgischen Grund: Fernando darf sich nicht zu früh zu erkennen geben; er ist der verschollene ältere Sohn des Eremiten und Melodas Geliebter, den sie in den Kriegswirren verloren hatte.
Die Handlung ist so nebensächlich wie in anderen Singspielen und Operetten auch; es wird in Versen gesprochen und einzeln und im Duett gesungen. Die Wiedererkennungsszene setzte Zschokke ganz an den Schluss, da Meloda, wenn Fernando auftaucht, entweder gerade den Schauplatz verlässt oder ohnmächtig herumliege. Sie findet dann aber herzergreifend statt und mündet in ein finales Gedicht, in das mit der letzten Strophe alle einfallen:
«Thränen sind der Freuden Würze,
Dämmerung verschönt des Glanzes Pracht;
Ja, wir glauben, dulden, hoffen,
Leiden still und unbetroffen:
Denn der Morgen dämmert hinter Nacht.»170
Es war Zschokke darum zu tun, in gefühlsbetonter Sprache, die oft aus einem kummervollen Herzen strömt, eine poetisch-wehmütige Stimmung zu erzeugen. Alles andere, das Dekor, die Choreografie, die Logik der Handlung oder die Glaubhaftigkeit der Charaktere sind Nebensache. Nach «Monaldeschi», dem lärmenden Eintritt, war «Meloda» der sanfte Abschied Zschokkes aus dem kulturellen Leben des neumärkischen Provinzstädtchens.
AUF DEM WEG ZUR UNIVERSITÄT
Ende 1788 war in Preussen die Reifeprüfung von der Universität an die Schulen verlegt worden. Die Prüfung fand in alten und neuen Sprachen, besonders aber in Deutsch statt, und sollte auch wissenschaftliche Kenntnisse umfassen, vornehmlich historische. Sie war unter dem Vorsitz eines staatlichen Kommissars schriftlich und mündlich abzulegen. Der Geprüfte erhielt ein Zeugnis seiner Reife oder Unreife; das Prüfungsprotokoll wurde dem Provinzialschulkollegium eingereicht.171
Um das Abitur abnehmen zu können, musste sich eine Schule als «Gelehrte Schule» qualifizieren. Der Rektor der Grossen Stadtschule in Landsberg, an der das Gymnasium eine kleine Abteilung war, bemühte sich nicht um diesen Status, da kaum Schüler direkt an die Universität gingen. Belegt sind über Jahrzehnte hinweg nur vereinzelte Fälle.172 Studienwillige Schüler verbrachten nach Beendigung der Schulzeit meist noch ein bis zwei Semester an einer auswärtigen Anstalt. Das Küstriner Konsistorium, das dem preussischen Oberschulkollegium über die Neumärker Schulen berichtete, empfahl, es dabei zu belassen, dagegen den Unterricht in allen Klassen «mehr auf nützliche Bürgerkenntnisse zu richten».173
Zschokke umging die Landsberger Stadtschule und begann, sich auf eigene Faust für das Abitur vorzubereiten. Dazu quartierte er sich zunächst beim Deichinspektor Runge ein, später bei einem Kaufmann Bunzel, und liess sich die Post, wie schon in Schwerin, an «Herrn Zschokke, Homme des lettres» adressieren. So war er zugleich Schüler und Gelehrter, eine Kombination, die ihm behagte, konnte er doch so seine Studien und Lektüre in alle Richtungen führen und zugleich selber schreiben. Unproduktiv war er nämlich auch jetzt nicht.
Während der Sommerferien lernte er zusammen mit einem jungen Landsberger, der ebenfalls an die Viadrina wollte, dem etwas jüngeren Johann Karl Weil (1771 oder 1772 bis 1821), Sohn des Regimentsquartiermeisters, der das Joachimstaler Gymnasium in Berlin besuchte. Vermutlich war auch der zwei Jahre jüngere August Ludwig Hahn (1773 bis nach 1846) in ihrer Lerngemeinschaft,174 Sohn eines Baudirektors, der ebenfalls das Joachimstaler Gymnasium absolvierte und sich erst im Oktober 1790, ein halbes Jahr nach Zschokke und Weil, an der Universität einschrieb. Karl Weil mochte Zschokke bewogen haben, nicht schon wie ursprünglich beabsichtigt im Herbst 1789 die Universität zu beziehen,175 sondern bis zum nächsten Frühling zu warten.
Dieser Aufschub liess sich gut nutzen, auch wenn Zschokke seine Ungeduld, endlich das Studium aufzunehmen und mit seinen ehemaligen Mitschülern gleichzuziehen, noch einmal zügeln musste. Der Besuch einer Universität kostete Geld, das er vorderhand nicht besass, weil der Vormund nicht gewillt war, Zschokkes Wartefrist abzukürzen. Erst im Februar 1790 erkundigte sich die Vormundschaftsbehörde bei der Landsberger Behörde über Zschokkes «Aufführung und Geschicklichkeit, um auf die Universität gehen zu können», worauf man ihn am 8. März vor den Stadtrat lud. Zschokke bat darum, «daß man ihn in Ansehung seiner Reife zur Universität examiniren und hierüber ein pflichtmäßiges Zeugniß ertheilen möchte».
Der Magistrat stellte daraufhin ein Prüfungskollegium mit Michael Dietmar Stenigke, Pastor an der Marienkirche und Schulinspektor von Landsberg, Benjamin Christoph Heinrich Opitz, Rektor der Stadtschule, und Konrektor Christian Friedrich Wentzel zusammen. Opitz legte die Termine fest: für die schriftliche Prüfung den 13., für die mündliche den 17. März, und verfasste darüber ein Protokoll, das mit allen Einzelheiten von Zschokkes Abitur von einem späteren Direktor des Landsberger Gymnasiums in den Schulakten gefunden und der Öffentlichkeit präsentiert wurde.176 Darin enthalten sind nur die offiziellen Dokumente, nicht die Vorgeschichte.
Für welche Fächer er sich vorbereitet hatte, geht aus seinem Brief an Stenigke vom 6. März hervor, worin er seine Situation schilderte und ihn bat, ihn «in der Lateinischen, Französischen Sprache, in der Weltgeschichte, Geographie, ältern und neuern Litteratur, Antiquitätenkunde, Mythologie usw» zu prüfen.177 Bis auf Latein und Französisch machte ihm der Stoff wohl nur wenig zu schaffen, und Latein konnte er sich notfalls selber beibringen. Aber in Französisch, der Hypothek am Beginn seiner schulischen Karriere, hatte er noch einiges zu verbessern und brauchte mindestens in der Aussprache und Konversation Unterstützung. Vielleicht holte er sich die bei Karl Weil, von dem ein anderer Schüler, der sich zur gleichen Zeit und mit dem gleichen Ziel in Landsberg befand, sagte, er sei «ein vortrefflicher