Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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Johann Georg Marmalle an.84 Als Gottlieb Lemme, der die Schule beendet hatte und sich in der Tuchherstellung betätigte, im Sommer 1791 einmal nach Frankfurt (Oder) kam, führte Zschokke ihn in den Freundeskreis um Marmalle, Lohde, Gerlach und Braumüller ein und liess ihn an Gesprächen über die Seelenwanderung teilhaben.85

      Nicht nur die Kommilitonen, sondern auch die Professoren schätzten Zschokke, so dass man ihn zu Anlässen und in Salons einlud. In der «Selbstschau» wird der Hauskreis der Professoren Hausen, Steinbart, Berends und des Astronomen Huth erwähnt.86 Die Dichterin Anna Louisa Karsch (1722–1791) reiste im August 1790 nach Frankfurt (Oder), um dafür zu sorgen, dass es ihrem Enkel, der sich im Mai eingeschrieben hatte, an nichts gebrach. Hempel nahm Zschokke zu einem Treffen ins Sommerhaus von Professor Huth mit. Beruhigt kehrte sie nach Berlin zurück und starb im folgenden Jahr.87 Was Anna Louisa Karsch Geistreiches zu Zschokke sagte – siehe das dritte Memorabilium von Hempel –, ist nicht festgehalten, aber sie lobte Professor Huth als «einen jungen vortrefflichen Mann».88

      Im März 1791, noch vor Ende seines zweiten Semesters, verliess Zschokke für sechs Wochen Frankfurt (Oder), um nach Magdeburg zu fahren. Wahrscheinlich versuchte er, die Vormundschafts- und Erbschaftsangelegenheit zu beenden, denn er war gerade 20 Jahre alt geworden. Auch Friederike Ziegener zog ihn hin, und diesmal wollte er ausgiebig auch seine Freunde und Verwandte besuchen. Wir wissen dies aus seinem Brief an Gottlieb Lemme, dem er nach seiner Rückkehr nach Frankfurt schrieb, und erfahren daraus, dass er wie im Jahr zuvor herzlich empfangen worden war und seinen Aufenthalt länger ausgedehnt hatte als geplant.89 Etwas verärgert teilte er Gottlieb mit, dass sich seine Arbeit häufe und er in seiner Abwesenheit viel versäumt habe. Er hatte sich mit den Lemmes versöhnt und wollte von Frankfurt aus einen Auftrag für die Schwester erledigen, schickte Friederike Ziegener Klaviernoten, seinem Neffen Gottlieb sein Gedicht «Bundeslied der Freundschaft», der Nichte Dorothea Lemme die Melodie dazu und seinen Geschwistern insgesamt einen weiteren, ausführlichen Brief, den er unter allen zirkulieren zu lassen bat. Seine Beziehung zu Friederike hatte sich intensiviert. «Empfiehl mich Rikchens Liebe und bleib mir gut», schloss er den Brief an Gottlieb.

      Ende 1790 hatte Zschokke einen Roman angefangen, der als Trilogie mit dem Titel «Die schwarzen Brüder» zwischen 1791 und 1795 erschien.90 Eine Kostprobe daraus gab er bereits im «Schriftstellerteufel»: den spannenden Anfang, der mit einem Pistolenknall im Zimmer des Helden und dem Ausruf seines Freundes: «‹Gottlob!› und wild und glühend – – –»91 abbricht.

      Er knüpfte damit an die Geheimbundromane an,92 die bereits vor Schillers «Geisterseher» (1787–1789)93 und Goethes «Wilhelm Meisters Lehrjahre»94 in Deutschland ihr Publikum gefunden hatten. Die Leserschaft liebte das wohlige Gruseln, das die Erzählungen von geheimnisvollen Mächten hervorriefen, welche aus einem Versteck die ganze Welt ausspionierten und manipulierten und nach Belieben Menschen formten und beeinflussten. Es waren profane Allmachtsphantasien mit moralischem Einschlag, wenn die Ordensführer und ihre Emissäre als Rächer zugange waren, um das Böse zu bestrafen, die Welt neu zu ordnen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Umgekehrt liessen sich mit etwas Phantasie und Umbiegung der Kausalitäten politische Umstürze, ja sogar Revolutionen mit dem Wirken von Geheimgesellschaften erklären. Durch das Verbot und die Enthüllung der Pläne der Illuminaten zwischen 1784 und 1787 in Bayern und die herumschwirrenden Verdächtigungen und Verschwörungstheorien bezüglich der Jesuiten, Freimaurer und Rosenkreuzer wurde das Interesse mächtig angeheizt.95

      Es war für den Romancier um 1787 schon beinahe Pflicht, einen Geheimbundroman verfasst zu haben, je irrwitziger die Konstruktion, desto besser. Der Unsinn, den Denunzianten wie Baron von Mändl und andere gegen die Illuminaten verbreitet hatten, war sowieso kaum noch zu überbieten.96 Das Endziel der Illuminaten sei gewesen, hatte er behauptete, die Welt zu beherrschen, alle einträglichen Posten mit Ordensmitgliedern zu besetzen und wer ihnen hinderlich war, mit Gift und Dolch aus dem Weg zu räumen. Auch Zschokke, sein Magdeburger Mitschüler Carl Friedrich August Grosse und der junge Ludwig Tieck benutzen diese Motive für ihre Romane «Der Genius» (Grosse), «Geschichte des Herrn William Lovell» (Tieck), «Die schwarzen Brüder» und «Die Männer der Finsterniß» (Zschokke). Nachdem im ersten Band der «Schwarzen Brüder» allerlei Machenschaften, Verschwörungen, der Sturz eines despotischen Fürsten und die Initiation des Helden Florentin in den Geheimbund der Schwarzen Brüder abgehandelt sind, werden Florentin und Holder im dritten Band mit einem Schlafmittel ins Jahr 2222 versetzt, wo es Luftschiffe, elektrisches Licht und Deckenlampen («Krystallsonnen» oder «Zimmersonnen») und eine rein philosophische Religion gibt, den «Salomonismus», der, ausgehend von Kant, in seinem Urteil alles Irrationale meidet.

      Die Beobachtungen, Abenteuer und Diskussionen in dieser Welt füllen den dritten Band aus. Es ist eine Vorschau auf die Zukunft mit utopischen und dystopischen Elementen. Die Menschen haben alle sie beschränkenden Institutionen und Regeln hinter sich gelassen und fühlen sich frei, zu denken und zu glauben, was sie wollen. Doch diese Freiheit macht sie nicht glücklich; sie befinden sich in einer Sinn- und Orientierungskrise. Damit stellt Zschokke eine mögliche Folge der geistigen Emanzipation des Menschen dar. Bezeichnenderweise fehlt in diesem dritten Band ein Erziehungskonzept, das seit Thomas Morus eine zentrale Rolle in Utopien einnimmt. Die Welt im Jahr 2222 besteht aus einer mehr oder minder statischen Gesellschaft, die mit Neid auf die Vitalität der Menschen gegen Ende des 18. Jahrhunderts blickt, wo vieles noch machbar schien und grosse Veränderungen bevorstanden.

      Man kann die «Schwarzen Brüder» als phantastischen Roman lesen und kommt auch dabei auf seine Rechnung. Diese Sichtweise schlägt Zschokke selber vor. Er habe stets die wundervollen Märchen des Orients geliebt und statt eines orientalischen Märchens ein deutsches geschrieben, statt Zauberer und Elfen «den geheimen Bund einer ausgebreiteten Gesellschaft» gezeigt und «wo mir der Wunder noch nicht genug waren, schuf ich neue».97

      Den Roman voreilig auf den Trivialaspekt zu beschränken, wird vorab dem utopischen dritten Teil nicht gerecht, der voller philosophischer Überlegungen steckt und der Frage nachgeht, wie es Menschen erginge, die eine agnostische Weltanschauung lebten.98 Florentin schaudert es: «Religion und Moral, bürgerliche Glückseligkeit, Ruhe der Seelen – alles wird von diesem Ungeheuer verschlungen. [...] Es ist eine Philosophie, die zur Verzweiflung führt.»99 – Zschokke musste es wissen, kämpfte er doch selber damit. Der Glaube von einst sei zwar nur Ammenmilch gewesen, aber eine Milch, auf die man schwer verzichten könne.100 Auch in die ersten beiden Bände streute Zschokke Überlegungen und Argumente ein: zu sozialen Problemen, politischen Machenschaften, längst fälligen Reformen; sie enthielten auch eine veritable Kritik der Woellnerschen Edikte, die er aber stets als subjektive Meinung von Personen in der Romanhandlung darstellte. Die bedenklichsten Aussagen schob er dem Geheimbund der Schwarzen Brüder in den Mund: Gründe, die es rechtfertigten, dass ein Volk seinen Herrscher stürze.

      «... soll der zertretne Wurm sich nicht krümmen dürfen unter den eisernen Fersen der Grausamkeit? soll das freigebohrne Volk seine geraubte Freiheit nicht wiederfodern dürfen?

      O, es müssen viele Szenen vorangehn, ehe die Nazionen sich auflehnen, ehe die Liebe zu ihren Beherrschern ausgetilgt wird! Nur die Verzweiflung wagt erst einen solchen Schritt, aber dieser ist dann auch desto fürchterlicher!

      Nur erst, wenn jede andre Hoffnung dem bedrängten Volke entschwindet, wenn eine ganze Reihe von Tyrannen und Tyranneien die Geduld desselben ermüdete, wenn neue Neronen zum Ruin des Landes ausgebildet, die traurigste Aussicht in die Zukunft darstellen, nur dann erst ist das Volk berechtet, eigenmächtige Veränderungen in seiner Regierung vorzunehmen.»101

      Was bei Zschokke als Warnung an die Regierungen gedacht war, die Unterdrückung des Volks nicht auf die Spitze zu treiben, es nicht in Verzweiflung zu stürzen, aus der heraus sich seine Natur gegen den Herrscher auflehnen müsste, wurde im Roman zum Programm der Schwarzen Brüder. Ihre Absicht, insgeheim dem Volk zu helfen, seine Unterdrücker loszuwerden, gipfelt im Ausruf: «Es lebe republikanische Freiheit.»102 Ohne selber Stellung zu beziehen, arbeitete er in seinen Geheimbundroman aktuelle politische