und brachte ihm das Klavierspiel bei,239 mehr noch: den Sinn für Musik und musikalischen Geschmack.240 Jetzt, wo der Zwang fehlte, lernte Heinrich leicht, was ihm unter dem Klavierlehrer seines Bruders Andreas Mühe bereitet hatte. Er gewann einen neuen Zugang zur Musik und entdeckte die Möglichkeit, sich mit ihrer Hilfe auszudrücken und einfache Melodien zu komponieren. Kallenbach vertonte später einige von Zschokkes Gedichten.241 Zu Zschokkes Enttäuschung blieb der Musiker – «ein vorzügliches, musikalisches Talent»,242 von dem er gehofft hatte, dass er «als ein glänzender Stern am musicalischen Horizont» aufgehen würde243 – in seiner Heimatstadt, wurde Organist an der reformierten Heilig-Geist-Kirche, Präfekt des Altstädter Schulchors, Gesangslehrer244 und Komponist von vielen «gefälligen und leicht singbaren Liedern».245
In Zschokkes Erinnerung an die drei oder vier letzten Jahre in Magdeburg, die er am Altstädter Gymnasium verbrachte, dominieren die negativen Erlebnisse, die in der grössten Kränkung seines bisherigen Lebens kumulierten, an welcher Schuldirektor Neide und Christoph Friedrich Wehrhahn (1761–1808), sein Lateinlehrer, die Hauptschuld trugen. Der Anlass war ein Schülerstreich, an dem Heinrich nicht einmal beteiligt war. Wir werden darüber von Zschokke unterrichtet,246 erhalten aber auch aus einem Brief Wehrhans einen entscheidenden Hinweis und ziehen daraus andere Schlussfolgerungen.
In Zschokkes Erinnerung brachte ein Mitschüler der Prima eine im Winterschlaf befindliche Fledermaus in die Schule, die er auf den warmen Ofen warf, gerade als der Lateinlehrer eintrat. Mitten in der Behandlung horazischer Oden wachte das Tier auf und flog im Zickzack durch das Schulzimmer. Der Lehrer duckte sich so ängstlich hinter sein Katheder, dass Heinrich unwillkürlich laut lachen musste. Der Lehrer habe ihn vor die Türe gestellt, und am Nachmittag sei die Klasse im Beisein aller Lehrer im grossen Auditorium versammelt worden. Rektor Neide habe die Schüler aufgefordert, den Schuldigen des Streichs zu nennen. Da keiner sich meldete, habe Wehrhahn gerufen: «Zschokke, Sie haben gelacht! Sie kennen ihn!» Weil Heinrich schwieg, habe Wehrhan demjenigen, der den Täter nenne, Geld angeboten. Das habe ihn, Heinrich so erzürnt, dass er gesagt habe: «Ich kenne ihn; nun aber nenn’ ich ihn nicht. Wir Schüler haben mehr Ehrgefühl als der, welcher daran so wenig glaubt, daß er uns, mit einem Thaler, zur Verrätherei kaufen will.»
Neide habe darauf die Versammlung abgebrochen und Heinrich unter vier Augen auf das Ungebührliche seines Betragens hingewiesen und erneut verlangt, den Schuldigen anzuzeigen. «Als ich noch immer verlegen schwieg, drohte er mir mit schimpflicher Verweisung vom Gymnasium.»247 Es wäre seine zweite Relegation gewesen. Heinrich wartete «mit Ungeduld», wie er schrieb, auf Vollstreckung des Strafurteils, und als sie nicht eintraf, entschloss er sich, freiwillig zu gehen.
Im «Blumenhaldner» wurde der Vorfall vom 14-jährigen Alfred Zschokke, der im Frühjahr 1840 die Redaktion besorgte, weiter ausgeschmückt. Erst hier wird der 36-jährige Wehrhan mit Namen genannt und als ehrwürdiger Greis bezeichnet, nicht zuletzt wohl, um mit der Schilderung seiner Ängstlichkeit und dem jähen Würdeverlust Zschokkes Lachreiz glaubhaft zu machen.248 In Alfred Zschokkes Version, die sicher in den wesentlichen Zügen auf die Erzählung des Vaters zurückging, lachte nicht nur Heinrich, sondern die ganze Klasse, und Wehrhahn sagte vorwurfsvoll: «Von Ihnen Zschokke, hätte ich das am wenigsten erwartet!»249
Diese Bemerkung könnte bedeuten, dass Heinrich zu den Vorzeigeschülern gehörte, man deshalb sehr darauf achtete, was er sagte und in ihn besonderes Vertrauen setzte. Man könnte daraus schliessen, dass Wehrhahn auch deshalb von ihm enttäuscht war, weil sein Lieblingsschüler sich nicht von dem Vorfall distanzierte. So harmlos war der Streich nämlich gar nicht, wie man einem Brief Wehrhahns an Zschokke vom 5. März 1805 entnimmt, wo nicht von einer Fledermaus, sondern, im Plural, von «eingeschwärzten Fledermäusen» die Rede ist.250 Falls der Schüler mehrere Fledermäuse mitbrachte und mit Russ oder Tinte färbte, so warf er sie sicher nicht aus Gedankenlosigkeit auf den Ofen, wie Zschokke behauptete, sondern in der Hoffnung, dass sie im Schulzimmer ein Chaos veranstalten würden.
Es stimmt ebenfalls nicht, dass Zschokkes Aussageverweigerung kein Verständnis gefunden oder nicht wenigstens nachträglich akzeptiert worden wäre. Wehrhan berichtete Zschokke in seinem Brief, dass er diesen Vorfall Freunden als Beweis des «Römermuts» seines Schülers erzählt habe, an den er sich gern und mit Stolz erinnere. Wehrhan bot ihm seine Freundschaft an und wollte mit Zschokke in einen regelmässigen Briefwechsel treten, als er 1804, als Pfarrer in Liegnitz in Schlesien, erfuhr, wo sich sein ehemaliger Schüler aufhielt. Aufs Geratewohl schickte er einen Brief in die Schweiz und erhielt eine Antwort, über die er sich sehr freute. Der frühere Ärger und allfällige Missverständnisse waren da schon längst ausgeräumt: «Denken Sie noch des Mannes, dem Ihre Ausarbeitungen immer so viel rühmliche Arbeit und so viel Freude machten?»251 Was kann mit diesen «Ausarbeitungen» anderes gemeint sein als freiwillige schriftstellerische oder wissenschaftliche Arbeiten, die Heinrich seinem Lehrer zur Begutachtung vorlegte? Wehrhan hegte selber literarische Ambitionen, schrieb Erzählungen, Romane und einen Bericht von seiner Teilnahme als Feldprediger am preussischen Feldzug 1792 gegen Frankreich, von dem er erst nach drei Jahren aus der Gefangenschaft zurückkehrte.252
Es ist eigenartig, dass Zschokke den Namen Wehrhahn in seiner Autobiografie nicht namentlich erwähnte, obwohl er ihm offenbar viel verdankte und zwei Briefe von ihm aufbewahrte, in denen Zuneigung und Wertschätzung deutlich zum Ausdruck kommen. Wehrhan schrieb ihm, dass er alle von Zschokke erreichbaren Werke gelesen habe, und bat ihn um ein Verzeichnis sämtlicher Schriften, um das noch Versäumte nachzuholen. Daraus kann man ebenfalls entnehmen, dass er sich als Förderer oder mindestens Begleiter seiner ersten schriftstellerischen Schritte sah und sein Schicksal weiter verfolgen wollte, zumal sich Zschokke als Dichter und in der Schweiz als Politiker einen glänzenden Ruf erworben hatte.
«Gleichfalls interessant würde es mir seyn, wenn Sie sich die, in Rücksicht meiner Sehnsucht denkbare, Mühe nehmen und mir in einem kurzen Abriß die Hauptepochen Ihres Lebens von Ihrem Weggang von unsrer damahligen Schule an bis jetzt entwerfen wollten, besonders Ihre Ankunft und Ihr Emporkommen in dem romantischsten Lande der Welt, in der Schweiz. Ich bedarf würklich solcher erhebenden Freude, wie mir Ihr Schreiben mit solchem Inhalt machen würde, da mein Leben anjetzt das trübste ist.»253
Der Name seines Lehrers musste Zschokke noch geläufig sein, als er «Eine Selbstschau» verfasste. Wehrhahns Sohn Otto Friedrich (1795–1860), ebenfalls Pfarrer, besuchte ihn nämlich 1839 in der «Blumenhalde» und übernachtete vielleicht sogar dort.254 Es war wohl Rücksichtsnahme, dass Zschokke seinen Namen nicht nannte, da er Wehrhan nur als Zerrbild auftreten liess. Auch Rektor Neide erinnerte sich übrigens gern an Zschokke und wünschte sich gelegentlich Nachrichten von ihm, wenn er nach Magdeburg schreibe.255
So schlimm kann für Zschokke die Altstädter Schule und der Umgang mit den Lehrern und Mitschülern also nicht gewesen sein, und wenn er einen Leidensdruck spürte, so kam er aus einer anderen Richtung, aus privaten Konflikten oder seinen Versuchen, sich als Dichter in Szene zu setzen. In den «Lebensgeschichtlichen Umrissen», wo die Affäre mit der Fledermaus keine Erwähnung findet, werden zwei Gründe für seine wachsende Unzufriedenheit genannt. Erstens seien von seinen Mitschülern «neben und unter ihm» schon einige auf die Universität gegangen. «Ihm ward es, wegen zu großer Jugend, nicht erlaubt.»256 Es war zum Teil also Ehrgeiz oder Ungeduld, was ihn dazu trieb, sich von der Schule wegzuwünschen und «in Freiheit zu setzen». Zweitens habe er in den vorangegangenen Jahren alles Mögliche durcheinander gelesen: «Heut Swedenborg, morgen Spinoza, Albertus Magnus und die flagella daemonum neben Plutarch und Plato; und Lohenstein und Broke neben Ossian, Shakespeare und Schiller.»257 In «Eine Selbstschau» schilderte er eindringlich, wie ihn die «Masse sich widersprechender Lehren und Meynungen», all sein Wissen «ins Chaos von Ungewißheiten» geführt hatte.258 Er registrierte eine «muthlose Abspannung», die er auf das nächtelange Lesen und seine sitzende Lebensweise zurückführte. Er habe sich von seinen Mitschülern und Freunden zurückgezogen; Kallenbach blieb am Schluss sein einziger Umgang.259 Zschokke notierte: «In düsterer Verachtung des Lebens, der Welt und seines Selbstes stand er dem Untergang nahe; instinktartig sehnte er sich hinweg aus dieser Qual, ins Weite, ins Freie, in andere Umgebungen hinaus.»260