Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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Vater gewesen sei, gerade dort, wo die Vernachlässigung am deutlichsten hervortritt: «Der zärtliche Vater strafte wirkliche Unarten seines Lieblings selten; überließ die Erziehung des Wildfangs vertrauensvoll dem Zufall, und so ward dieser ein lebenslustiger Springinsfeld, oder besser gesagt, ein Gassenjunge der Stadt, im strengsten Sinn des Worts.»73 Diese vorteilhafte Würdigung des Vaters ist bemerkenswert, da Zschokke als erwachsener Mann ganz andere Erziehungsprinzipien vertrat und es ihm nie eingefallen wäre, seinen Söhnen nur einen Bruchteil von dem durchgehen zu lassen, was er sich bei seinem Vater leisten konnte.

      Sein Vater habe ihn für eine wissenschaftliche Laufbahn vorgesehen, behauptete Zschokke.74 Das wusste er höchstens vom Hörensagen, denn aus den Vorkehrungen, die Gottfried Schocke traf, kann dies nicht abgeleitet werden. Dass er seinen minderjährigen Kindern den Glockengiesser Christian Gotthold Ziegener (1731–1812) als Vormund bestimmte,75 seinen Freund und Altersgenossen, ein treues Mitglied der Kirchgemeinde und so bildungsfern wie nur möglich, weist in eine andere Richtung.

      Der Vater kränkelte über längere Zeit; sein Tod «an Auszehrung» am 17. April 1779 kam für Heinrich dennoch überraschend; er war für ihn unbegreiflich, schrecklich, traumatisch. Der Vater sei der erste Leichnam gewesen, den er gesehen habe, erzählte er fünfzig Jahre später. Er sei die ganze Nacht wach geblieben und habe geglaubt, es werde nie mehr tagen. Die Angst und das Alleinsein erlebte er hier noch einmal und viel intensiver als beim Auftauchen des Kometen. Sein Vater trat nun nie mehr in sein Zimmer, um ihn zu wecken oder mit ihm zu beten; nie mehr nahm ihn jemand auf den Schoss, um ihn zu liebkosen.

      Allerdings, fügte Zschokke hinzu, habe er nicht lange geweint: «Die Sonne kehrte wieder. Die Feierlichkeiten des Begräbnisses unter Chorgesängen und Geläute sämmtlicher Glocken der Katharinenkirche, daneben neue Trauerkleider und großes Leichengepränge, zerstreuten die Betrübniße des 8-jährigen Knaben bald.»76 Desto überwältigender wurde sein Schmerz, als er älter wurde und den Vater bewusst vermisste. Mit achtzehn Jahren schrieb Zschokke in der Fremde sein langes Gedicht «Wallfahrt zum Grabe des Vaters»77 und kehrte in Gedanken noch einmal nach Hause zurück; zehn Jahre habe er dem Vater nachgeseufzt und nachgeweint:

      «O Menschenkinder, wer von euch

      Solch einen Vater schon verlor,

      Solch einen Vater zu verlieren hat:

      Er weine mit.»

      Zwei Vollwaisen waren zu versorgen: die 13-jährige Christiana und der 8-jährige Heinrich; die beiden Geschwister wurden getrennt. Wer das Mädchen aufnahm, ist nicht bekannt; vielleicht eine ihrer Schwestern, Dorothea Lemme oder Friederica Nitze, oder eine Schwester der Mutter. Mit 15 Jahren wurde sie mit dem 22 Jahre älteren Wundarzt und Chirurgen Johann Paul Faucher (1743–1794) verheiratet, einem Witwer und Mitglied der französisch-reformierten Gemeinde, der aus erster Ehe einen Sohn mitbrachte. Dieser Ehe entsprossen zwei Kinder; sie verlief glücklich, sieht man davon ab, dass Faucher früh starb. Heinrich empfand eine starke Zuneigung zu Christiana, seinem Schwager und den beiden Kindern Johanna (Hannchen) und Jean Pierre (Hänschen).78 Es ist bedauerlich, dass Zschokkes Briefe an Faucher nicht mehr vorhanden sind, da sie wertvolle Informationen aus seiner Studienzeit enthielten.79

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       Der Breite Weg (die Hauptstrasse Magdeburgs) mit dem Krökentor im Norden und den Türmen der Katharinenkirche rechts, wo das kirchliche Leben der Familie Schocke stattfand und Vater Schocke auf dem Friedhof begraben wurde. Gegenüber der Kirche zweigte die Schrotdorfer Strasse vom Breiten Weg ab. Lithografie von 1844.

      Heinrich kam zu seinem Bruder Andreas Schocke, der an der Elbe unter dem Knochenhauerufer wohnte. Das hiess für ihn, die Umgebung zu wechseln, die Freunde zu verlieren und auf Militärspiele zu verzichten.

      Am 8. Mai 1779 fand die Eröffnung des Testaments statt, das Vater Gottfried Schocke einen Monat vor seinem Tod vor vier amtlichen Zeugen (Mitglieder des Rats und des Gerichts) mündlich zu Protokoll gegeben hatte.80 Alle fünf überlebenden Kinder wurden gleichmässig bedacht; den beiden jüngsten standen zunächst jene 700 Taler zu, die den drei älteren bei ihrer Verheiratung, Wohnungsgründung und zu ihrer Ausstattung verabreicht worden waren. Wenn es stimmt, wie sein Schwager Andreas Gottfried Behrendsen einmal schrieb, dass Heinrich 1200 Taler erhielt,81 so lässt sich daraus das Vermögen des Vaters errechnen, das bei seinem Tod 3900 Taler betrug, wovon 2500 das eigentliche Erbe waren. Das war nicht viel für eine über 40-jährige Berufslaufbahn. Selbst wenn man den Erbvorbezug der drei älteren Geschwister dazuschlägt, kann von einem ansehnlichen Vermögen, das sich der Vater mit Heereslieferungen erworben haben soll, keine Rede sein.82 Heinrichs 1200 Taler wurden angelegt; von den Zinsen von 60 Talern sollte sein Lebensunterhalt bestritten werden, während das Kapital bis zu seiner Mündigkeit unantastbar blieb. Darüber wachten sein Vormund und der Magistrat von Magdeburg als Vormundschaftsbehörde. Leider sind diese Akten im Stadt- und Landeshauptarchiv nicht mehr greifbar.

      Andreas Schocke hätte vom Alter her Heinrichs Vater sein können. Sein ältester Sohn Johann Gottfried Friedrich (29. 7. 1772 bis wahrscheinlich 1811), genannt Fritz, war nur ein Jahr jünger als Heinrich. Obwohl die beiden Knaben die nächsten Jahre gemeinsam verbrachten, sogar eine Zeitlang zusammen zur Schule gingen, erfährt man darüber nichts. Auch Andreas’ Frau, Marie Dorothea Elisabeth Schocke (1752–1819), eine geborene Trittel, und ihre Töchter Dorothea (1774 bis nach 1824) und Elisabetha (1781 bis nach 1850) werden in «Eine Selbstschau» mit keinem Wort erwähnt. Frau Schocke war schwanger mit ihrem zweiten Sohn Heinrich Wilhelm Gottlieb (1779–1782), als Heinrich ins Haus kam. Von den fünf Töchtern überlebten nur die beiden genannten Mädchen ihre Eltern. Wenn Zschokke sich später bei seinem Neffen Gottlieb Lemme gelegentlich nach den Schockes erkundigte, dann nur nach Andreas und Fritz. Es war, als habe er die weiblichen Familienmitglieder ausgeblendet, keinerlei Zuneigung für sie empfunden. Die einzige Verwandte in Magdeburg, der Heinrich zärtliche Gefühle entgegenbrachte, war seine jüngste Schwester Christiana.

      Carl Günther weist darauf hin, dass in Zschokkes gegen hundert Erzählungen und Romanen «Matronenfiguren» fehlen,83 was stimmt, wenn man diesen Begriff mit mütterlichen, warmherzigen Frauen übersetzt. Aber auch liebevolle Väter, anhängliche Geschwister und glückliche Kindheiten kommen darin nicht vor, und ein harmonisches Familienleben findet sich eigentlich nur in den Landhauserzählungen «Der Eros» (1821) und «Bilder aus dem häuslichen Leben» (1845–1846), denen Szenen aus Zschokkes Leben in Aarau zugrunde liegen.

      Von seinem Bruder Andreas erlebte Heinrich keine Zärtlichkeit, keine körperliche Nähe. Vielleicht war er es aber auch selber, der den älteren Bruder und dessen Frau zurückwies. Durch den Tod des Vaters hatte er eine tiefe Kränkung erlebt; jetzt wollte er sich nicht mehr auf eine emotionale Bindung einlassen. Folgt man Zschokkes Ausführungen, so nahm Andreas sich energisch seiner Erziehung an. Zunächst wandte er seine Aufmerksamkeit dem Äusseren zu, liess ihn elegant einkleiden und ihm einen Lockenkopf frisieren. «So sollt’ ich nun den alten Menschen ganz ausziehn und ein neuer werden, zierlich und manierlich.»84 Auch geistig und seelisch suchte er den Charakter des Gassenjungen zu verfeinern. Um Heinrichs Sinn für das Edle und Schöne zu begeistern, las er mit ihm das Gedicht «Frühling» des empfindsamen Dichters Ewald von Kleist, seinen Gang in der Natur, der ganz im Zeichen von Klopstocks Oden stand. Das schlug bei Heinrich ebenso wenig an wie die Bemühungen, ihm den Vater zu ersetzen und ihn in die Familie zu integrieren.

      Andreas war «von nicht gemeinen Talenten», gebildet und belesen. Obschon er Tuchmacher wie sein Vater war, glaubte er, dass das Leben sich nicht im Ausüben eines Handwerks erschöpfen könne. Er spielte Flöte, liebte einen gepflegten Umgang, auch etwas Luxus, und leistete sich, was Heinrich beeindruckte, ein Ankleidezimmer mit gebohnertem Fussboden, Wandgetäfer und vergoldeten Leisten.85 Das stand in scharfem Kontrast zu der kargen Behausung an der Schrotdorfer Strasse, die Heinrich wohl nur deshalb noch ehrte, weil er sie mit seinem Vater in Verbindung brachte.

      Er habe sich in seiner neuen Umgebung unbehaglich gefühlt, Kleists Gedicht zu vornehm und fad gefunden und sich geärgert, dass seine Kleidung so leicht schmutzig wurde und zerriss. Man