Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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      Seither achtete man darauf, Feuerspritzen bereit zu halten und teilte die Altstadt in neun Bürgerviertel ein. Die gesamte waffenfähige Bürgerschaft war verpflichtet, bei einem militärischen Angriff oder im Brandfall Dienst zu tun und die Stadt zu verteidigen. Da diese Bürgerwehr bei Feierlichkeiten und Umzügen mit ihren Fahnen und mit Musik in Erscheinung trat und man sich jedes Jahr im Mai die Katastrophe von 1631 ins Gedächtnis rief, liess Zschokke dieses Thema sicherlich nicht unberührt.

      Wenn er es darauf angelegt hätte, ein farbiges Panorama seiner Zeit und der Stadt zu zeichnen, hätte Zschokke aus dem Alltag des sechsten Viertels viel zu berichten gewusst. In allernächster Nähe des Elternhauses, an der Braunen Hirsch Strasse, die damals noch Kleine Schrotdorfer Strasse hiess, befand sich die Steingut-, Porzellan-, Fayencefabrik von Guischard mit (um die Jahrhundertwende) über hundert Arbeitern.54 Es ist kaum vorstellbar, dass einen Knaben das Treiben in und um diese Fabrik nicht interessierte, wie überhaupt die Geräusche und Gerüche dieser Stadt, das Laden und Entladen der Kähne an der Elbe, das Rattern von Kutschen und Wagen, die kirchlichen und weltlichen Feste, das Militär mit seinem Drill, den Pferden, der Musik, den Paraden und dem Auspeitschen fehlbarer Soldaten bleibend auf ihn gewirkt haben müssen.

      Militär marschierte durch die Strassen und exerzierte auf dem Domplatz; es war ein ständiges Kommen und Gehen. Die häufigsten Nachrichten in der «Magdeburgischen Zeitung» zu städtischen Belangen handelten von Truppenverschiebungen, von Beförderung oder Abberufung von Offizieren und von den Besuchen hoher Persönlichkeiten. Selbstverständlich beeindruckten Zschokke die Soldaten in ihren Uniformen, das blankpolierte Metall, das glänzende Leder, ihre Waffen und Pferde. Er war von militärischen Formationen, vom Exerzieren und Defilieren ein Leben lang fasziniert.

      Dabei ist eine sehr frühe Erinnerung erwähnenswert, die Zschokke seinen Söhnen mitteilte, ebenfalls ohne dass er sie in die «Selbstschau» hätte einfliessen lassen: «Papa sieht als kleiner Knabe in Magdeburg den König Friedrich den Großen bei einer Revue. Der Rok des Königs streifte an das Röklein Papas.»55 In seiner Erzählung «Der Feldweibel von der Potsdamer Garde» (1823) schilderte er den Einzug des Königs mit seinem Gefolge in Magdeburg durch das Krökentor, die zahlreichen Schaulustigen am Breiten Weg und die Schuljugend, die auf Brettergerüsten und Sandsteinplatten vor der in Renovation befindlichen Katharinenkirche turnten, um alles mitzubekommen.56 Diese Szenerie trägt autobiografische Züge; sie stand den Söhnen plastisch vor Augen, als sie 1826 nachsahen, ob die Steine und Bretter, auf denen ihr Vater als Kind herumkletterte, noch immer vor der Kirche lagerten.57

      Vater Schocke kümmerte sich nicht darum, was sein Sohn den Tag hindurch trieb, und da sich Heinrich am liebsten im Freien aufhielt, wurde er zu einem der zahlreichen herumlungernden Jungen in seinem Viertel, die sich austobten und in ihrem Spiel nur beeinträchtigen liessen und davon stoben, wenn ein Gendarm auftauchte. Sein Vater wird ihm wohl befohlen haben, sich nicht zu weit von zu Hause wegzubewegen, denn oft hielt er sich im Innenhof auf, kletterte auf Bäume und über Dächer (die meisten Häuser waren nur zweistöckig) oder spielte in der Umgebung mit anderen Buben Krieg. Ausgerüstet mit hölzernen Säbeln lieferten sie sich Schlachten, bei denen auch Scheiben zu Bruch gingen.58

      Das Militär war in Magdeburg allgegenwärtig, Preussen oft in Kriege verwickelt – es wäre seltsam gewesen, wenn die Knaben nicht Soldaten gespielt hätten; das Kriegsspiel diente dem Hineinwachsen in die Männerwelt. Er, Heinrich, sei zu ihrem Feldherrn ernannt worden, schrieb er in der «Selbstschau».59 Dies liess sich wohl nur zum Teil darauf zurückführen, dass er die Arbeiter- und Soldatenkinder in den umliegenden Häusern und aus den Baracken der nahe gelegenen Kasernenstrasse mit Holzwaffen versorgte. Er muss besonders wild und wagemutig gewesen sein und sich gegen andere durchgesetzt haben. Ausser mit ihren hölzernen Schwertern spielten die Knaben mit Spielzeugsoldaten. Beim alten Birnbaum hinter seinem Elternhaus sei diese kleine Armee «mit Trommel & Trompetenschall jedesmal unter den morschen Wurzeln vergraben worden, um am dritten Tag wieder aufzuerstehn».60

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       Auf diesem Plan der Stadt Magdeburg von G. Henner (um 1790) sind die Bürgerviertel der Altstadt und die wichtigsten Gebäude eingezeichnet. Die Hauptstrasse war der von Norden nach Süden verlaufende Breite Weg (hier von rechts nach links), von dem ein Gassengewirr abging. Die Schrotdorfer Strasse, wo Heinrich Zschokke die ersten sieben Jahre verbrachte, lag im Nordwesten. Das Schrotdorfertor im Westen der Altstadt, in das die Schrotdorfer Strasse mündete, wurde Teil des Festungswalls vor der Bastion Magdeburg, ganz oben auf dem Plan.

      Man merkt es der Anekdote an, wie gern Zschokke sich diese Szene ins Gedächtnis rief. Noch als Erwachsener beschäftigte er sich oft mit der Welt des Militärs, spielte Schlachten auf der Landkarte nach und beschrieb Kriege ausführlich in Büchern und Zeitschriften. Besonders Napoleons Heldentaten hatten es ihm angetan.61 Soll man dies als ein Erbe seiner Magdeburger Kindheit betrachten? Als ihm die Aargauer Regierung 1818 einen Offiziersrang im kantonalen Generalstab anbot, lehnte er ab, als er erfuhr, dass er nur zum Major und nicht zum Oberstleutnant ernannt werden sollte.62 So blieb er Zivilist, der nie einen Tag Militärdienst tat und, zu seinem Glück, Schlachten und Kriege bis auf die Zeit zwischen 1798 und 1800 in der Schweiz nur von seinem Schreibtisch aus verfolgte. Aber einmal wenigstens, als Kind, war er ein General gewesen.

      Bei allen Erinnerungslücken mass Zschokke zwei Dingen in «Eine Selbstschau» besondere Bedeutung bei: dem frühen Besuch der Schule und der Kirche. Im Alter von fünf Jahren habe ihn sein Vater in eine Schule gesteckt, ohne sich darum zu scheren, ob sie für ihn taugte oder nicht.63 Von diesen Trivialschulen gab es in Magdeburg eine grössere Zahl; eine davon war im Besitz der Stadt: die Altstadtschule an der Schulstrasse, nur zwei Strassen vom Elternhaus entfernt. Sie befand sich in einem ehemaligen Franziskanerkloster und war in einem erbärmlichen Zustand. Zwei der Schulzimmer lagen halb unter der Erde, waren feucht und dunkel, mit halbblinden Fenstern und kaum heizbar.64

      Ob Zschokke diese Schule besuchte, wissen wir nicht; dass ihm aber auf einer von den Kirchgemeinden betriebenen Parochialschulen oder in einer der vielen Winkelschulen Besseres widerfahren wäre, ist nicht anzunehmen. Die Privatschulen im Magdeburg «waren meist in Hinterhäusern untergebracht, dunkel und, wenn der Betrieb gut ging, furchtbar überfüllt; von Schulhof, Lehrmitteln usw. war natürlich keine Rede».65 Die Lehrer wurden schlecht besoldet, ihre Qualifikation war ungenügend, der regelmässige Schulbesuch wurde nicht kontrolliert; Hauptsache, das Schulgeld ging ein. Jedermann konnte eine solche Schule eröffnen.66 In die Schulstuben wurden bis zu 100 Kinder im Alter von drei bis vierzehn Jahren gepfercht; was und wie unterrichtet wurde, blieb besser ungefragt. Der Magistrat erfüllte seine Aufsichtspflicht nur schlecht;67 die Übelstände waren längst bekannt, aber es vergingen noch über dreissig Jahre, bis man ernsthaft daran ging, das Primarschulwesen zu verbessern.68

      Zschokke schrieb über die Schule nur, dass er sie als Plage- und Zwangsanstalt empfand.69 Ob er sich ihrem Zugriff entzog, indem er den Unterricht schwänzte, oder lust- und teilnahmslos die Stunden absass – seine erste Begegnung mit der Schule war auf jeden Fall unerfreulich. Sein Vater habe ihn fleissig zum Schulbesuch angehalten, schrieb Zschokke, ob mit Erfolg oder nicht liess er offen; er dürfte schon damals nicht besonders willfährig gewesen sein. Der zwei Jahre ältere Neffe Gottlieb Lemme half ihm beim Buchstabieren und Lesen.70 Der Vater habe ihn auch zur Predigt mitgenommen und von ihm verlangt, dass er Gebete hersage, deren Inhalt er nicht begriff.71 So also sahen Gottfried Schockes Mittel aus, seinen jüngsten Sohn zu einem braven Bürger und guten Christen zu erziehen.

      Luthers Leitspruch, den er seinem Sohn auf den Lebensweg gab, «Christum lieb haben, ist beßer denn alles Wissen», deutet auf eine pietistische Haltung hin, wie sie, von Halle ausstrahlend, in Magdeburg vor 1800 weit verbreitet war. Pfarrer Georg Andreas Weise an der St. Katharinenkirche war ein Vertreter dieses bekenntnishaften persönlichen Glaubens. Er interpretierte die Bibel sehr lebhaft und regte die Phantasie des kleinen Heinrich an, in dessen Phantasie fortan geflügelte Engel und «der rauhhaarige Teufel, mit Lahmfuß, Pferdehuf und langem Schwanz» herumspukten.72

      Es