Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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um in der Kirche seines Vaters, der St. Katharinenkirche, zu predigen,11 ärgerte sich nachträglich darüber, dass er es unterlassen hatte, sich das Elternhaus an der Schrotdorferstrasse näher anzusehen.12

      Mehrmals stand ein Zeitfenster offen, um Näheres über Zschokkes Kindheit zu erfahren. Das erste und längste Fenster liess Zschokke selber verstreichen, da er sich bei Verwandten oder Bekannten nie nachdrücklich über seine Eltern erkundigte, selbst als ihm klar wurde, dass er sein Leben beschreiben würde. Als seine Geschwister und die meisten gleichaltrigen Verwandten oder Freunde schliesslich gestorben waren oder kein Kontakt mehr bestand, war es zu spät. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Zschokke absichtlich mit der «Selbstschau» zuwartete, bis alle Zeugen verschwunden waren und er seine Entstehungsgeschichte unbelastet von widersprechenden Fakten und fremden Meinungen selber schreiben konnte. Eigentlich sollte sie erst nach seinem Tod erscheinen und war darauf angelegt, den Kindern und Enkeln seine innere und religiöse Entwicklung zu enthüllen. Sie gab erstmals das Geheimnis preis, dass er alleiniger Autor des so erfolgreichen Erbauungswerks «Stunden der Andacht» war, und erklärte den weltanschaulichen, religiösen und psychologischen Hintergrund dieses Werks.13

      «Eine Selbstschau» ist ein Zeugnis von Zschokkes persönlichem Reifen, Lernen und Irren, seinem unermüdlichen, engagierten Handeln, dem unerschütterlichen, von tiefem Humanismus geprägten Glauben an den Fortschritt und die Zukunft der Menschheit und seinem sachverständigen staatsmännischen Urteil. Darüber hinaus ist sie eine packend geschriebene, gut aufgebaute und effektvoll gestaltete politische Zeitgeschichte. Immer wieder tritt das persönliche Leben hinter die Schilderung der politischen, sozialen und kulturellen Geschehnisse zurück.

      Die «Selbstschau» wurde von vielen Zeitgenossen begeistert begrüsst. Man lernte Zschokke als Vertreter liberaler Ideen und Visionen kennen und schätzen, als Vordenker von Religionstoleranz, als Philosoph, Theologe, Kosmopolit, Politiker, Menschenfreund und Volkspädagoge.

      Nach 1842 fühlte sich kaum jemand mehr berufen, Zschokkes Leben unabhängig von der «Selbstschau» zu beschreiben, obwohl die ersten 20 Jahre in Magdeburg, Schwerin, Prenzlau und Landsberg an der Warthe nur sehr kurz behandelt wurden. Die thematische Gliederung, welche die persönliche Geschichte in der Entwicklungs-, der politischen und Kulturgeschichte aufgehen lässt und die Wahrheitssuche betont, musste aber den Verdacht wecken, dass sie ihrer Schlüssigkeit wegen das eine im Hinblick auf das andere teilweise verzerrte oder begradigte.

      Bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts blieb «Eine Selbstschau» letzte Referenz und gültige Darstellung des Lebens eines Mannes, der an der Wiege der modernen schweizerischen Demokratie stand und seine Wahlheimat bis zur Gründung des Bundesstaats von 1848 nachhaltig beeinflusste und kommentierte. Friedrich Wilhelm Genthe, sein Neffe, schrieb schon 1850: «Seit Heinrich Zschokke in seiner Selbstschau den zahlreichen Freunden und Verehrern, so wie auch den blos neugierigen Lesern, ein Gemälde seines äußern Lebens, eine Schilderung davon gegeben hat, wie das Schicksal es anders wollte als der Mensch, ist es überflüssig, wenn ein anderer noch über die Lebensschicksale dieses Mannes schreiben will.»14

      Wo nicht explizit erwähnt, zitierte oder paraphrasierte man fortan aus «Eine Selbstschau». Das ist mehr oder weniger bis heute so geblieben und liegt nicht zuletzt daran, dass sie uns noch jetzt persönlich nahegeht und in den Bann zieht. Es war verdienstvoll und berechtigt, dass der Zürcher Germanist Rémy Charbon sie 1976 neu herausgab. So war dieses Buch, das wie kaum ein anderes in einer persönlichen Lebensgeschichte die Transformation der Welt des 18. Jahrhunderts zur Moderne spiegelt, nach langer Zeit wieder greifbar.

      Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte Zschokkes Gesamtwerk zum eisernen Bestand der deutschsprachigen Literatur und war sein Name als Dichter humorvoller Erzählungen und historischer Romane, als Autor einer populären Schweizer Geschichte und der mehrbändigen «Stunden der Andacht» im Bewusstsein der Menschen verankert. Zu Lebzeiten galt er als einer der bedeutendsten und wirkungsmächtigsten deutschen Schriftsteller. Hätte es den Literaturnobelpreis damals schon gegeben, so wäre er wohl ein Anwärter gewesen; «Eine Selbstschau» wurde bisweilen sogar Goethes «Dichtung und Wahrheit» vorgezogen, weil sie die Zeitgeschichte stärker einbezog als jene.

      Wer sich der Mühe unterzieht, Zschokkes belletristisches, lyrisches und essayistisches Werk aufmerksam zu lesen, findet immer wieder Stellen, an denen er innere Spannungen, philosophische, weltanschauliche und politische Fragen aufarbeitete, die ihn damals stark beschäftigten. Was dem Germanisten oft als ein rotes Tuch erscheint, ist für den Biografen absolut notwendig: das dichterische Werk biografisch auszuwerten.

      Wenn im Folgenden mit der «Selbstschau» eher kritisch umgegangen wird, dann nicht, um ihren literarischen Wert zu schmälern, sondern weil Zschokkes Faktentreue fragwürdig war. Der Biograf des 21. Jahrhunderts kann sich nicht mehr auf sie stützen; er muss alle erreichbaren Informationen einbeziehen und stösst dabei auf bedenkliche Ungenauigkeiten und Irrtümer. Hätte Zschokke ein Tagebuch hinterlassen, das er nach eigenen Angaben seit dem zwölften Lebensjahr regelmässig führte,15 so wäre es vielleicht nicht nötig, ständig auf seine Autobiografie zu rekurrieren. Man könnte sie als dichterisches Werk bestehen lassen, als farbige Schilderung von Erlebnissen, Befindlichkeiten, Lebensumständen und Betrachtungen, und müsste sie nur ergänzend für biografische Angaben heranziehen. Ohne ergiebige andere Dokumente ist sie jedoch die Hauptquelle für Zschokkes Leben, besonders für die Kindheit und Wanderjahre, die Studenten- und Dozentenzeit in Frankfurt (Oder). Erst mit der Reise in die Schweiz, im Mai 1795, sind wir nicht mehr oder nur noch teilweise auf sie angewiesen.

      «Eine Selbstschau» mag ein glänzend geschriebenes Psychogramm sein, eine in sich stimmige Entwicklungsgeschichte, ein Memoiren- und Geschichtswerk von hohem Rang, sie ist aber auch ein Zurechtrücken der Vergangenheit mit pädagogischen und philosophischen Absichten. Die naive Sicht auf «Eine Selbstschau» als wirklichkeitsnahe Lebensbeschreibung änderte sich erst, als Hans Bodmer 1910 in Berlin «Zschokkes Werke in zwölf Teilen» erscheinen liess16 und «Eine Selbstschau» nach der vierten, noch von Zschokke autorisierten Auflage von 1849 wiedergab. Erstmals stellte jemand die falschen Zeitangaben und Eigennamen richtig. Bodmer holte Erkundigungen im Stadtarchiv Magdeburg und im Archiv der St. Katharinenkirche ein, erschloss weitere Quellen und griff auch auf den Bestand des Familienarchivs in Aarau, das sogenannte Zschokke-Stübchen, zurück.17 Selbst Briefe und Aktenstücke seien von Zschokke «keineswegs in authentischer Form, sondern stets mit kleineren und größeren, ganz willkürlichen Veränderungen» zitiert worden, stellte Bodmer ernüchtert fest.18 «Eine Selbstschau» war nicht mehr sakrosankt. Damit war die Zeit gekommen, Zschokkes Lebensgeschichte zu überarbeiten oder gar neu zu deuten.

      Einen weiteren bedeutenden Schritt machte etwa zur gleichen Zeit Alfred Rosenbaum, der für die 2. Auflage von Karl Goedekes «Grundriß der Geschichte der deutschen Dichtung» alles zusammentrug und auf 56 eng beschriebenen Seiten aufführte, was von und über Zschokke in Buchform, Broschüren oder Zeitschriften erschienen war,19 darunter auch, was Zschokke als seine «Jugendsünden» bezeichnete und woran er nicht mehr erinnert werden wollte: sein dichterisches Werk vor seinem 25. Lebensjahr.20 Zwar hatte schon 1850 sein Neffe Genthe, notabene gegen Zschokkes Willen, eine solche Zusammenstellung versucht,21 aber nur sehr lückenhaft. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Rosenbaum die bereitwillige Unterstützung der Familie Zschokke in Aarau in Anspruch nehmen konnte, die das ganze Schrifttum von und über ihren Ahnvater sammelte.

      Aber selbst Goedekes Grundriss war nicht vollständig: Es fehlen die meisten kleineren Arbeiten Zschokkes, seine Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften, seine Reden, handschriftlichen Gutachten und Berichte als Beamter der Helvetik, im Forst- und Bergwesen, als Tagsatzungsgesandter, Grossratsmitglied und Mitglied zahlreicher Kommissionen und privater Gesellschaften, die meisten seiner Gedichte, die Kompositionen und, was die Sekundärliteratur betrifft, die Zeitungsartikel, soweit es sich nicht um Rezensionen handelte. Weiterhin ist die Arbeit Rosenbaums und seiner Nachfolger für die Zschokke-Forschung unentbehrlich, aber seither wurden einige neue, grössere Werke Zschokkes entdeckt, so durch Carl Günther und neuerdings den Heidelberger Bücherforscher Adrian Braunbehrens zwei Erstlingsromane.22 Es wäre also an der Zeit, das Literaturverzeichnis auf den neusten Stand zu bringen, sich vielleicht