Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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ihn lieb hatte, immer noch lebhaft und schmerzlich. Heinrichs Welt verdüsterte sich. Neben einer Garnitur silberner Schnallen, einer silbernen Schnupftabaksdose, einem spanischen Rohr mit silbernem Knopf, Dokumenten und etwas Geld, das sein Vormund für ihn verwahrte,6 war ein Ausspruch des Vaters persönliches Vermächtnis – in der prägnanten Diktion Luthers: «Christum lieb haben, ist beßer denn alles Wissen.»7

      Eigenartigerweise wusste Zschokke auch von seinem Vater fast nichts, nicht einmal die Lebensdaten. Er sei ein geachteter Tuchmacher gewesen, der es mit Tuchlieferungen für die Armee zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht habe, Oberältester seiner Innung oder dergleichen.8 Heinrich sei sein Schosskind gewesen, das er zärtlich geliebt und mit Nachsicht behandelt habe. Er habe ihn am Sonntag in die Kirche mitgenommen und dreimal am Tag laut beten lassen. Heinrich Zschokke hielt sich an diese spärlichen gemeinsamen Erlebnisse und malte sich das Übrige aus. Als der zwei Jahre ältere Neffe Gottlieb Lemme ihm viel später einiges vom Vater erzählte, antwortete er gerührt:

      «Dein Gedächtniß ist treuer von jener Zeit, als das meinige. Du hast mir das Bild meines lieben Vaters, unter neuer Gestalt, wie ich sie mir nie zu denken pflegte wiedergegeben. Ich sehe ihn vor mir in deiner Malerei. O ich bitte Dich, sage mir doch alles deßen Du Dich von dem verewigten Guten erinnerst; Alles – ich weiß viel zu wenig von ihm! – Selbst das Dreiek auf den Silberknöpfen seines grünen Cashaquin’s9 ist mir wichtiger, & das Köstlichste was von Antiken in Herkulanum, Theben & Nubien ausgegraben wird.»10

      Das Elternhaus wurde zwei Monate nach dem Tod des Vaters geräumt; Arbeitsgeräte und Mobiliar wurden in der «Magdeburgischen Zeitung» ausgeschrieben und versteigert.11 Das Haus ging für 520 Taler an die zweitälteste Tochter Friederica Elisabeth Nitze (1753–1816), eine Bäckersfrau.12 Im Familienrat wurde beschlossen, Heinrich dessen Bruder Johann Andreas Schocke (1747–1812) in Pflege zu geben, der bereits zwei eigene Kinder hatte.

      Viel wissen auch wir nicht über Zschokkes Vater. Er wurde als Johann Gottfried Tzschucke am 20. Oktober 1722 in Oschatz, einer sächsischen Kleinstadt östlich von Leipzig geboren, als ältester Sohn einer Tuchmacherfamilie.13 Schon der Oschatzer Stammvater Andreas Tzschucke (1627–1714), der aus dem sächsischen Rosswein eingewandert war und 1648 die Tochter und Enkelin eines angesehenen Oschatzer Berufskollegen heiratete, übte diesen Beruf aus. Der Berufszweig stand in Oschatz in Blüte: 1787 zählte man 62 Webstühle, auf denen jährlich 2000 Stück Tuch verarbeitet wurden,14 und noch 1815 bildeten die Tuchmacher die zahlenmässig stärkste Handwerkerzunft; sie war mit 126 Meistern fast doppelt so gross wie die nächst folgende der Schuhmacher.15

      Die Schreibweise des Namens Zschokke erfuhr einen mehrfachen Wandel. In den Kirchenbüchern von Oschatz wurde er unterschiedlich geschrieben, da die Pfarrer sich hauptsächlich nach dem Gehör richteten: Tzucke, Tzschucke, Tzschocke, Zschocke, Zschucke, Zschuck oder Zschock.16 Die Herkunft des Namens war, wie in der Nähe der Elbe häufig, slawisch, genauer sorbisch, da das Volk der Sorben in jener Gegend weit verbreitet war.17 Nach einer Familienüberlieferung leitete sich Zschokke vom sorbischen Tschucka für Erbse ab.18 Andere damals existierende Deutungen zeigen, dass sich die Familie Zschokke später rege mit der Frage ihrer Herkunft befasste.19

      Eine Zeitlang kursierte unter Zschokkes Söhnen das Gerücht, man sei adligen Ursprungs. Einen Hinweis darauf bot eine Anekdote Zschokkes, der sich im Übrigen kaum um dieses Thema kümmerte: Ein aus Norddeutschland stammender Herr von Tschock habe ihn in Frankfurt (Oder) einmal aufgefordert, seinen Adel registrieren zu lassen. Die Familie sei von alters her blaublütig, wenn auch der Zweig, dem Heinrich Zschokke entstammte, im Lauf der Zeit «hinabgekommen» sei. Der 17-jährige Sohn Achilles Zschokke, damals gerade Redaktor der handgeschriebenen Familienzeitung «Der Blumenhaldner», fügte hinzu, sein Vater habe den Rat des Herrn von Tschock verschmäht, da ihm das «von» vor dem Namen unnütz erschienen sei.20 Der Zschokke-Biograf Carl Günther meint aus der Kopf- und Gesichtsform Zschokkes, wie sie in vielen Porträts vermittelt wird, slawische Züge zu erkennen.21 Jedenfalls erleichterten es ihm das Slawische, Sächsische, Preussische und über die Mutter auch das Hugenottische seiner Abstammung, sich als Weltbürger zu fühlen.

      In den Magdeburger Kirchenbüchern und Bürgermatrikeln finden sich nebeneinander Schocke und Schock. Da der Name mit der Witwe von Heinrichs Bruder Andreas Schocke 1819 in Magdeburg erlosch, stammen alle heute noch lebenden Verwandten der männlichen Linie, falls sie nicht Heinrich Zschokkes Nachkommen aus Aarau sind, von den Oschatzer Verwandten ab und heissen oft Zschucke, Tschucke oder Tschocke.22 Was Johann Gottfried Tzschucke aus Bequemlichkeit für sich und seine Nachkommen in Magdeburg beschloss: die Eindeutschung des Namens zu Schocke, machte sein Sohn Heinrich als Gymnasiast wieder rückgängig. Er fügte das Anfangs-Z wieder hinzu, veränderte «ck» in «kk» und schrieb sich fortan Zschokke. Daran hielt er unbeirrt bis an sein Lebensende fest. Nicht etwa Slawophilie oder ein Hang für die Familienvergangenheit waren das Motiv dafür, sondern sein Interesse für Geschichte. Wie er seinen Söhnen mitteilte, stiess er bei der Lektüre eines bekannten Geschichtswerks auf einen österreichischen General Zschock, fand den Namen attraktiv und nannte sich ihm nach.23

      Um diese Namensänderung rankt sich ebenfalls eine Anekdote: Danach soll Bürgermeister Blankenbach, der als Scholarch und Vertreter des Magistrats von Magdeburg der Prüfung am Altstädtischen Gymnasium beiwohnte, Heinrich zur Rede gestellt haben: «Warum verändert Er seinen Namen? Sein Vater war ein ehrlicher Mann, der nannte sich Schocke; wenn die Erbschaft aus Lissabon ankommt, soll Er nichts davon abhaben.»24 Ob die Schockes wirklich Verwandte in Portugal besassen, ist unklar. Zschokke hatte die Genugtuung, dass sein um ein Jahr jüngerer Neffe Friedrich später seine neu-alte Schreibweise übernahm,25 ebenso auch die verheirateten Schwestern.

      Wirtschaftliche Gründe bewogen wohl Johann Gottfried Tzschucke, schon in jungen Jahren von Oschatz wegzuziehen. Abenteuerlust kann es nicht gewesen sein, sonst wäre er sicherlich weiter weg gereist. Er wird einige Zeit nach dem ersten schlesischen Krieg (1740–1742) nach Magdeburg gekommen sein, in eine aufstrebende Stadt, grösser und attraktiver als Oschatz. 1738 war dort die Tuchmacherinnung gegründet worden, die den Zugang zum Gewerbe regelte und in die Schocke nach wenigen Jahren aufgenommen wurde. Am 13. August 1746 erhielt er durch ein königliches Reskript das Magdeburger Bürgerrecht und ehelichte zwei Monate später, am 23. Oktober, Jungfer Dorothea Elisabeth,26 jüngste Tochter des verstorbenen Tuchmacher-Altmeisters Joachim Peter Jordan.

      Falls die Jordans hugenottischen Ursprungs waren, so kamen sie noch vor dem zweiten grossen Exodus nach der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes durch Ludwig XIV. im Oktober 1685 nach Magdeburg und assimilierten sich schnell. Seit 1714 besassen sie das Bürgerrecht der Stadt und gehörten der evangelischen St. Katharinengemeinde an, wo auch Heinrich Zschokke und seine Geschwister getauft und konfirmiert wurden.27

      In der Familie Schocke herrschte ein ausgeprägter Berufsstolz: Ein achtbarer Tuchmacher zu sein, wurde als persönliche Auszeichnung empfunden. Da Heinrichs Vater, sein Bruder Andreas, der Onkel in Oschatz, die beiden Grossväter und drei der vier Urgrossväter diesen Beruf ausgeübt hatten, war es ausgemacht, dass er ebenfalls Tuchmacher würde. Man musste sich also um seine Schulbildung und Zukunft nicht besonders kümmern.

      Magdeburg war um 1771 eine Stadt mit gegen 25 000 Einwohnern, nicht gezählt die mehreren tausend Armeeangehörigen mit ihren Familien.28 Im 17. und 18. Jahrhundert hatten sich das Verlagssystem und Manufakturwesen stark entwickelt. Vorab Textil-, Tabak- und Töpferwaren wurden massenweise hergestellt, wobei dem Elbschiffverkehr bis Hamburg eine besondere Rolle zufiel.29 Die Ansiedlung von Hugenotten hatte der Seiden-, Woll-, Baumwoll- und Leinenweberei, der Strumpfwirkerei und Strumpfstrickerei zu einem beachtlichen Aufschwung verholfen.

      Die Stadt war von dicken Wällen, Gräben, Bastionen und Zitadellen umgeben, die Bevölkerung fühlte sich aber auch eingeschlossen: «Bei Annäherung an die Stadt, beim Durchschreiten oder Durchfahren der Festungswerke verstärkten die verwinkelten, über Grabenbrücken und durch Walltunnel geführten Straßen sowie die Doppeltoranlagen, die ständig mit