Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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zentrale Herausforderung war es für die HZG, die Finanzierung und Herausgabe der Biografie sicherzustellen. Wir danken den Mitgliedern und Freunden der HZG für die zahlreichen finanziellen Zuwendungen. Ohne sie wäre dieses Werk nicht möglich gewesen. Zahlreiche Private haben sich am Projekt beteiligt, ebenso die Kantone Aargau, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Graubünden und Tessin sowie die Stadt Aarau, zudem erfreulich viele Firmen und Stiftungen. Die Sponsoren sind im Anhang verzeichnet. Ausserordentlich viel – geistig und finanziell – trug unser Vorstandsmitglied Andres Zschokke bei. Für alle Beiträge sei herzlich gedankt.

      Zu danken ist ebenso dem Verleger Bruno Meier für die qualifizierte, freundschaftliche Begleitung! Und Dank gebührt allen voran Werner Ort für seine aussergewöhnliche wissenschaftliche und schriftstellerische Leistung.

       FASZINATION ZSCHOKKE

      Die Freiheit und Eigenverantwortung des Autors waren das Fundament der Zusammenarbeit, daraus entwickelten sich Gespräche und Diskussionen zwischen dem Autor und der HZG. Sie entsprangen dem Spannungsfeld zwischen den Quellen, der Stofffülle und der schier unermesslichen Vielfalt von Zschokkes Schaffen einerseits sowie dem Realisierungsauftrag der HZG und den beschränkten Mitteln andererseits. Immer wieder tauchten neue Aspekte, neue Fragen auf. Werner Ort stellte sich dieser Auseinandersetzung geduldig, gesprächsbereit, aber doch beharrlich.

      Immer wieder faszinierten Zschokkes Persönlichkeit und Wirken. Vorweg beeindruckt haben natürlich einmal mehr die Schilderungen über die seltene Schaffenskraft und die Breite seines Engagements, kurz die Lebensleistung von Heinrich Zschokke. Naturgemäss musste sich der Autor beschränken. Beabsichtigt war nie eine blosse Lebenschronologie; die Biografie sollte Zschokkes Leben in seinem zeitgenössischen Umfeld darstellen. Seine Zeit war eine Zeit des Umbruchs wie wohl die unsrige auch. Die Anstrengung zur Biografie sollte sich gerade dadurch lohnen, dass sie zum Nachdenken über unsere Zeit und ihre Chancen anregt.

      Zu den bekannten Aspekten aus Zschokkes Leben traten neue Erkenntnisse hinzu, vor allem für die Zeit der Helvetischen Republik. Diese kurze, in der Öffentlichkeit noch immer kontrovers diskutierte Ära eines zentralistischen Staats ist eine zentrale Kraftquelle der modernen Schweiz. Zschokke diente der Helvetischen Republik ab Mai 1799 als Regierungskommissär in der Innerschweiz, im Tessin und in Basel. Mit und nach dem Kriegsende im Oktober 1799 schildert die Biografie einen «Wendepunkt von Zschokkes Position zum Volk», eine «Umkehr oder Läuterung Zschokkes». Seine Traumbilder von der Schweiz als glückseligem Land der Freiheit waren längst verflogen. Jetzt musste er sich in der bitteren Realität möglichst «den Opfern widmen», «den Wiederaufbau besorgen», um «das Herz und das Zutrauen der Bergvölker» in den Waldstätten zu gewinnen. Die ohnmächtige helvetische Regierung vermochte nur wenig beizusteuern. Zschokke suchte in intensiver, praktischer Kleinarbeit die Bevölkerung trotz der Widerwärtigkeiten ihrer Zeit des Umbruchs zu – liberaler – Hilfe zur Selbsthilfe zu bewegen. Den Staat beschränkte er auf die Funktionen, die anders nicht zu erbringen waren, zum Beispiel für die Schule. Werner Ort arbeitete Zschokke als typisch schweizerischen Aufklärer heraus. Zschokke begnügte sich nicht wie andere Aufklärer gemeinhin damit, die Menschen moralisch zu veredeln: Sein Ziel war es, die Menschen zu politischer Reife, zur Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und zur Demokratie zu führen. Dieses Anliegen ist zeitlos.

      Thomas Pfisterer,

      Präsident der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft

       EINLEITUNG: ZUR ZSCHOKKE-LITERATUR

      Keine Frage: Zschokke war ein herausragender Publizist, Volksschriftsteller und Volkserzieher. Ein Mensch von universeller Bildung, mit einem breiten Spektrum an Kenntnissen und Erfahrungen, dessen Rat und Nähe in den unterschiedlichsten Angelegenheiten gesucht wurde. Er war eine Berühmtheit schon zu Lebenszeit, wovon zahlreiche Ehrungen ein beredtes Zeugnis ablegen. Seine Schriften gehörten zu den meistgelesenen im deutschen Sprachraum. Es ist nicht verwunderlich, dass man sich schon früh für sein Leben zu interessieren begann. 1819 erhielt er seinen ersten Eintrag im Konversationslexikon von Brockhaus1 und 1824 erschien sein Lebensabriss im «Rheinischen Taschenbuch». Zschokke selbst hatte dazu eine knappe Skizze beigetragen, dennoch sah er sich nicht adäquat dargestellt; vor allem die Beweihräucherung brachte ihn in Verlegenheit.2

      Seinen «Ausgewählten Schriften», die sein Verleger seit 1825 herausgab,3 stellte Zschokke die «Lebensgeschichtlichen Umrisse» voran,4 worin er erstmals seinen Werdegang in einiger Breite darlegte und sich zu seiner Kindheit äusserte. Da sie in Eile entstanden – vom Konzept bis zum Druck der ersten drei Bände seiner Werke vergingen nur wenige Monate –, sind sie nur von begrenztem historischem Wert. Sie bestechen aber durch die Intensität, mit der Zschokke Ereignisse, Schicksalsschläge und Gemütslagen schildert: seine frühe Verwaisung, das Gefühl, ungeliebt zu sein und verkannt zu werden, die zunehmende Vereinsamung, Misserfolge in der Schule, Herausbildung einer starken Einbildungskraft, Träume von Reisen und Abenteuern, unersättlicher Lesehunger verbunden mit Wissensdurst, eine sich verdüsternde Stimmung, die in Schwermut überging.

      Der inneren und äusseren Beengung entkam er, indem er mit 16 Jahren von zu Hause floh und beschloss, sich aus eigener Kraft durch die Welt zu schlagen. Er wurde Hauslehrer in Schwerin, zog mit Schauspielern als Theaterdichter durch die Gegend, holte autodidaktisch den Abiturstoff nach und schrieb sich in Frankfurt (Oder) an der Viadrina als Theologiestudent ein, mit dem Ziel, ein Universalgelehrter zu werden. Nach zwei Jahren erwarb er den Titel eines Doktors der Philosophie und das Recht, in Preussen zu predigen, stieg in Magdeburg auf die Kanzel jener Kirche, in der er getauft und konfirmiert worden war, und wurde wegen einer einzigen fehlenden Stimme nicht zum Pfarrer gewählt. Zurück in Frankfurt hielt er an der theologischen Fakultät philosophische und theologische Vorlesungen. Da ihm jedoch eine Professur versagt wurde, entschloss er sich zu einer Europareise. Er blieb in der Schweiz hängen und leitete in Graubünden eine Lehranstalt, von wo er fliehen musste, als er sich zu sehr politisch engagierte.

      In der durch eine Revolution und Frankreichs Militärmacht entstandenen Helvetischen Republik wurde er als Beamter in die Innerschweiz, ins Tessin und nach Basel geschickt, trat aber von seinem Amt zurück, weil ihm die politische Richtung nicht mehr gefiel. Er liess sich im Aargau nieder, wo er eine Anstellung im Forst- und Bergwesen fand, heiratete und gab eine Volkszeitung heraus, den «aufrichtigen und wohlerfahrnen Schweizerboten». Der vom Schicksal Umhergetriebene kam hier zur Ruhe und übernahm verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten, um dem neuen Vaterland zu danken, das ihm eine Heimstatt geboten hatte. Er arbeitete an verschiedenen Zeitschriften mit, von denen er einige selber leitete, schrieb eine Geschichte Bayerns und der Schweiz und zur Erholung leichte Erzählungen. So stellte Zschokke sich selber dar. Seine zweite Autobiografie, «Eine Selbstschau» von 1842, rückt das Bild des einsamen Träumers und Stubenhockers zurecht, ist aber in der gleichen Art verfasst wie die erste.5 Auf nur 22 von 358 Seiten wird hier die Kindheit in Magdeburg abgehandelt.

      Andere Zeugnisse aus den ersten 18 Jahren von Zschokkes Leben besitzen wir kaum. 1785 lernte der Stuhlmacher Andreas Gottfried Behrendsen Zschokke kennen und verfolgte auch später mit Anteilnahme sein Schicksal. Frucht davon waren ein lebenslanger Briefwechsel und einige Anekdoten, die Behrendsen in seinen Notizen festhielt.6 Carl Günter hat diese Notizen 1918 für seine Dissertation zu Heinrich Zschokkes Jugend- und Bildungsjahren noch benutzen können;7 seither sind sie verschollen. Die aufschlussreichen Briefe Behrendsens hatte Zschokke bis auf drei vernichtet, wie leider die meisten Briefe seiner Magdeburger Verwandten und Bekannten.8

      In der Entstehungsphase der «Selbstschau» erzählte Zschokke seinen heranwachsenden Söhnen weitere Anekdoten aus seiner Kindheit und Studienzeit. Sie sind als «Scenen aus Papas Jugendleben» in der handgeschriebenen Familienzeitung «Der Blumenhaldner» enthalten.9 Bei Besuchen in Magdeburg während ihres Studiums in Berlin erfuhren die beiden ältesten Söhne Theodor und Emil Zschokke von Verwandten mehr über die Kindheit ihres Vaters. Gottlieb Lemme (1769–1831), Zschokkes Ziehbruder und Spielgefährte, führte sie in Magdeburg herum und zeigte ihnen das Geburtshaus und die Stätten gemeinsamer Erlebnisse. Die jüngste und einzige noch lebende Schwester Zschokkes, die verwitwete Christiana Catharina Genthe (1765–1837),