so dass die bewohnbare Stadt flächenmässig wie eine Beigabe zur Festung wirkte. Der Enge im Norden Magdeburgs, wo sich die Arbeiter drängten und auch die Schockes wohnten, konnte man sich nur entziehen, wenn man vor die Tore, in die Neustadt, nach Friedrichsstadt oder Sudenburg zog.
In vielerlei Hinsicht war die Garnison autark: Sie besass eine eigene Verwaltung und Justiz, eigene Schulen und medizinische Versorgung. Die Stadt zog manche Vorteile aus ihrer Lage als stärkste Festung Preussens: Die Könige schenkten ihr mehr Aufmerksamkeit als einer anderen Provinzstadt, zumal der Hof Friedrichs II. im Siebenjährigen Krieg hier zeitweilig Zuflucht fand. Es wurde viel gebaut und ausgebessert, aber auch die erhöhte Kaufkraft war spürbar. Die militärische Präsenz mit zwei Infanterieregimentern, zwei Grenadierbataillonen und einer Artilleriekompanie31 kam dem Handwerk, vor allem dem Wolltuchgewerbe, zugute: Uniformen aus diesem Material spielten in der preussischen Armee eine wichtige Rolle.
In der Magdeburger Altstadt war die Tuchmacherinnung gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit 837 Arbeitskräften vertreten: 70 Meistern oder Witwen von Meistern, 40 Gesellen, 11 Lehrburschen und 716 Gehilfen (39 Wollkämmer, die übrigen Wollspinner).32 Über zehn Prozent der 8154 «Professionisten» befassten sich mit der Herstellung von Wolltüchern. Ob Johann Gottfried Schocke tatsächlich durch bedeutende Tuchlieferungen für die preussische Armee reich wurde, wie Zschokke behauptete,33 darf bezweifelt werden. Dagegen sprechen die kleinräumlichen Verhältnisse, in denen er lebte, und die wenigen Arbeitsgeräte, die nach seinem Tod versteigert wurden. Wie viele Tuchweber er beschäftigte oder ob er auch Tücher von eigenständig arbeitenden Webern kaufte und verkaufte, wissen wir allerdings nicht.
Schocke war ein Tuchhersteller, ein Tuchhändler aber war er nicht; diese besassen ihre eigene Zunft: die Gewandschneiderinnung mit einem Haus am Alten Markt.34 Es gibt keinen Hinweis, dass Schocke dieser Zunft ebenfalls angehörte. Dagegen war er Altmeister der Tuchmacherinnung und leitete als Präses (Vorsitzender) ihre Sitzungen. Im Stadtarchiv Magdeburg ist ein Protokollheft, das mit dem 6. September 1777 einsetzt. An dieser Sitzung nahm auch Schocke junior teil, Heinrichs Bruder Andreas. Später lassen sich die Anwesenden nicht mehr feststellen; die Eingangsformel lautete: «Bey der heutigen Zusammenkunft der Alt- und Schaumeister [...]», ohne weitere Angaben. Bei solchen Anlässen wurde die Aufnahme neuer Meister in die Innung beschlossen; Bedingung war eine abgeschlossene Lehrzeit, das Bürgerrecht von Magdeburg und ein Meisterstück. Vater Schocke war für die jährliche Rechnungsablegung verantwortlich.
Magdeburg war geprägt durch die Elbe, ihre doppeltürmigen Kirchen und die Wallanlagen, welche die Stadt im 18. Jahrhundert zu einer unbezwingbaren Festung machten. In der Mitte des Flusses befand sich eine Zitadelle, welche die Stadt auch von dieser Seite schützen sollte. Ausschnitt aus einem Kupferstich des 18. Jahrhunderts.
Am 5. April 1779 liest man den Eintrag: «[...] Sollte eigentlich der Altmeister Nieschke sein Amt niederlegen; allein weil der Altmeister Schocke noch sehr krank ist, wurde festgelegt daß Meister Nieschke das Altmeister Amt bis zu Meister Schockens Wieder Gesundung versehen solle.» Da Schocke zwei Wochen später starb, rückte am 17. Mai der älteste Schaumeister zum Altmeister nach. Es galt dabei das Prinzip der Anciennität; man achtete ferner darauf, dass zwei Altmeister vorhanden waren, von denen der jüngere den «Oberältesten» in der Leitung der Innung ablösen konnte.35
ERSTE KINDHEITSERINNERUNG
Johann Gottfried Schocke hatte am 14. Mai 1757 in der Schrotdorfer Strasse 2 ein kleines zweistöckiges Haus erworben, das von einem einst doppelt so breiten Gebäude abgetrennt worden war und nach vorne eine Tür und zwei Fenster, im oberen Stock drei Fenster besass. Zur rechten Hand war eine schmale Gasse mit Hoftor, die später den Namen Fabriken Strasse erhielt. Eine Bleistiftzeichnung von 1828 und eine Tuschzeichnung, die um 1842 entstand, zeigen das Haus, in dem Heinrich und seine Geschwister geboren wurden.
Die Bezeichnung Schrotdorfer Strasse oder Grosse Schrotdorfer Strasse (um sie von der Kleinen Schrotdorfer Strasse zu unterscheiden) war eine gewaltige Übertreibung. Die einzige wirkliche Strasse in diesem Quartier war der Breite Weg, der die Stadt von Norden nach Süden durchquerte, durch den sich der Hauptverkehr wälzte und an der sich die Läden und Gasthäuser befanden. Die Einmündung vom Breiten Weg in die Schrotdorfer Strasse lag der Katharinenkirche gegenüber; es war eine Sackgasse mit Krümmungen und Verengungen, die auf die Casernen (oder Baraquen) Strasse mit Soldatenhäusern mündete, welche auf der Nordwestseite Magdeburgs der inneren Festungsmauer entlanglief. Ursprünglich hatte sich hier einmal ein Tor befunden, das zu einem Dorf mit dem Namen Schrotdorf geführt hatte.36
Wer sich heute in der Stadt bewegt, dem fällt es schwer, sich das Magdeburg von damals vor Augen zu führen. Durch die britische Bombardierung am 16. Januar 1945 – an der Peripherie der Stadt waren wichtige Kriegsbetriebe angesiedelt – wurde die nördliche und mittlere Altstadt in Schutt und Asche gelegt. Beinahe alle Häuser der Innenstadt waren zerstört oder schwer beschädigt.37 Nach den Aufräumarbeiten war der Stadtkern eine leere Fläche, aus welcher Kirchenruinen und einzelne weniger beschädigte Häuser wie Zahnstummeln ragten. Das DDR-Regime verzichtete auf eine Restaurierung und versuchte, eine sozialistische Vision zu verwirklichen, wie sie teilweise schon Otto von Guericke nach der ersten Zerstörung Magdeburgs 1631 entwickelt hatte: mit breiten Strassen und zentralen Achsen.38 Vom Nordwesten der Stadt blieb nichts mehr übrig, als 1966 auf Geheiss des Staatsratsvorsitzenden Walther Ulbricht und gegen den Willen der Magdeburger die beiden Türme der Katharinenkirche eingeebnet wurden.39 Stattdessen entstand ein Plattenbau, Haus der Lehrer genannt. Seit 2000 befindet sich auf dem Gehsteig als Mahnmal der Zerstörung ein Bronzemodell.
An die Schrotdorfer Strasse erinnert nichts mehr; nicht einmal die Strassenführung ist noch erkennbar. Dort stehen heute einfallslose, hintereinander gestaffelte Hochhäuser und davor, am Breiten Weg, zweigeschossige Läden und Baracken, die noch verlotterter wirken als die omnipräsenten Plattenbauten, die seit 1989 «rückgebaut», das heisst abgerissen werden. Als Hans W. Schuster, der sich um die Rettung der alten Bausubstanz Magdeburgs verdient gemacht hatte, im Auftrag der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft eine Bronzetafel zum Gedenken an Heinrich Zschokke goss, war es nicht mehr möglich, sie dort anzubringen, wo einmal dessen Elternhaus stand. Der Standort wurde nach Westen versetzt, ins Gebiet der früheren Festungsanlagen, wo sich nun gegenüber der Universität ein Park befindet, und an die (neue) Zschokkestrasse, die 2001 durch den Einsatz der Literarischen Gesellschaft von Magdeburg und der Gesellschaft von 1990 umgetauft wurde.40
Zschokkes Geburtshaus an der Schrotdorfer Strasse 2, nach einer Federzeichnung von 1842 oder 1843. Im rechten Teil dieses Doppelhauses kamen auch Zschokkes acht Geschwister zur Welt. Das Gässlein rechts, die spätere Fabriken Strasse, hatte damals noch keinen Namen und war nur fussgängerbreit. Von hier ging ein Tor in den Hof.
Als im April 1827 Zschokkes zweitältester Sohn Emil nach Magdeburg kam, traf er noch vieles so an, wie sein Vater es erlebt hatte: den belebten Breiten Weg, wo die Kaufleute, Kornhändler, Brauer, Branntweinbrenner und Bäcker dicht an dicht ihre Geschäfte betrieben, die Katharinenkirche, die Strassen mit ihren niedrigen Riegelhäusern.41 Seine Eindrücke hielt er in der Artikelreihe «Erinnerungen aus Magdeburg» für seine Geschwister im «Blumenhaldner» fest.42 Mit seinem Vetter, Zschokkes Kindheitsfreund Gottlieb Lemme, besuchte er auch das Elternhaus. Die Seitenstrassen, stellte er fest, seien in dieser Gegend so schmal, dass man sie besser Gässchen nennen würde:
«Sie führen in die entlegenen Quartiere der Stadt, die sich an die innern Seiten der Festungswälle anlehnen, und bieten dem Fremden nicht die mindesten Sehenswürdigkeiten dar und werden darum auch selten von solchen besucht. Für den Blumenhaldner aber enthält zumal die leztgenannte [...] die größte, ihm heiligste Merkwürdigkeit Magdeburgs. Es steht da ein kleines graues Haus mit grünen Fensterläden, das, weil hier die Schrotdorfer-Gaße von einer andern durchkreuzt ist, zum Ekhause wird. Es ist nur zwei bis 3 Fensterlängen breit, und ein Stokwerk