ist. Die festgeschloßene Hofthür, welche in der Mauer angebracht ist, gewährt dem Neugierigen keinen Blik hinein. Nur einige überhängende grüne Zweige laßen ahnen, daß sich darin freundliche Schattengänge befinden. Zu diesem Hause führte uns Lemme einmal, und sprach, indem er ernst darauf wies: ‹Seht da ist Euer Vater geboren.›»43
Hier also verlebte Heinrich Zschokke die ersten acht Jahre seiner Kindheit, zusammen mit seinem Vater, der jüngsten Schwester Christiana Catharina und der nächst älteren Schwester Friederica Elisabeth, die 1775 heiratete und aus dem Elternhaus wegzog. Es ist anzunehmen, dass sich nach dem Tod der Mutter wenigstens eine weibliche Person um die beiden Kinder kümmerte. Vielleicht war dies in den ersten Jahren die ältere Schwester.
Das erste Kindheitserlebnis, das Zschokke anführt, war ein Komet, der 1774 über der Stadt erschien und die Bürger in Besorgnis versetzte. Man habe darin die Zornrute Gottes erblickt. Der Vater sei mit seinen drei Töchtern vor die Türe getreten und habe den kleinen Heinrich allein in der Stube gelassen.
«Ich bebte vor Entsetzen, zog grausend die kleinen Füße an mich auf den breiten, ledernen Lehnstuhl, und wagte kaum zu athmen. Denn ich stellte mir draußen die strahlende Zornruthe, hingestreckt durch die Nacht über eine schaudernde Welt, vor, und wie von der Welt dahin tausend leichenblasse Menschengesichter schweigend emporstarrten.»44
Heinrich war damals drei Jahre alt (in der «Selbstschau» gab er sich ein Jahr mehr), und es ist kaum anzunehmen, dass ihn in diesem Alter schon ein metaphysisches Gruseln packte. Ausserdem lebten ja nur noch zwei Schwestern im Haus.45 Fast jedes Jahr wurde ein Komet gesichtet; derjenige von 1774 war nicht einmal besonders spektakulär.46 Es ging Zschokke bei dieser Notiz um etwas ganz anderes als um ein tatsächliches Begebnis. Am Anfang des bewussten Lebens stand nach seiner Überzeugung eine namenlose Angst, in der ein Mensch sich allein gelassen fühlt. Da Zschokke die Angst vor der Strafe Gottes später oft in Zusammenhang mit Aberglauben und religiösem Wahn brachte, denen ein kindliches Gemüt hilflos ausgeliefert sei, schien es ihm bei bei der Abfassung seiner «Selbstschau» sinnvoll, die Kometengeschichte hier einzubringen.
In der «Selbstschau» wollte Zschokke die Geschichte seiner inneren Welt, «ihrer Verwandlungen, ihrer Religions- und Lebensansichten u.s.w.» schildern. «Ich entwikkle mir, wie ich zu meiner Religion stufenweis’ kam, zu meinem Leben in Gott, zu meinem Einswerden mit den Ansichten Christi von göttlichen Dingen, und schildre dann meine Religion.»47 Der erste Band sollte sein religiöses Bewusstwerden, sein geistiges Erwachen zeigen, ein zweiter Band seine philosophischen und religiösen Überzeugungen in einen logischen Zusammenhang bringen.48 Im Verlauf der Ausarbeitung kam Zschokke von dem Konzept für den ersten Band wieder ab. Er sah wohl ein, dass die Darstellung seines bewegten Lebens, all dessen, was er als Augenzeuge und Handelnder beobachtet und mitgestaltet hatte, für seine Mitmenschen mindestens ebenso interessant war wie die Auslegung seiner inneren Welt.
Die Beschreibung seiner ersten Lebensjahre ist noch ganz vom ursprünglichen Konzept geprägt. Die Summe seiner Erkenntnisse über das Wesen und die Entwicklung des Menschen führte er in einer doppelten Betrachtungsweise aus: die Quintessenz in einer systematischen und synoptischen Schau seines Weltbildes («Welt- und Gottanschauung»), die Entwicklung und Reifung, gleichsam das Erwachen des Menschen, in einer diachronen Sicht am eigenen Fall («Das Schicksal und der Mensch»). Dem diachronen Ansatz legte er ein Evolutionsmodell zugrunde, das die Entfaltung des Individuums in verschiedenen Stufen vom Säugling über den Jüngling bis zum Greis betrachtet. Dies kommt schon in der Einteilung des autobiografischen Teils zum Ausdruck, mit den Hauptkapiteln Kindheit, Wanderjahre, Revolutionsjahre, des Mannes Jahre und Lebens-Sabbath.
Zu Beginn jeglicher Menschwerdung, der individuellen wie der allgemeinen, steht nach Zschokkes Vorstellung ein Dahinfluten des Geistes zwischen Wachen, Schlafen und Träumen, bevor der Verstand sich zu regen beginnt. Also setzte er in der «Selbstschau» mit der Beschreibung seiner Kindheit so ein:
«Das erste Denken des Kindes ist ein leises Spinnen der Fantasie im Dämmerlicht des Bewußtseins; ein gedächtnißloses Träumen im Wachen. Die Welt gaukelt unklar an den Augen vorüber; und was sie zeigt, ist vergessen, sobald sie es wegnimmt. Der Mensch ist noch thierähnlich; der Geist hat sich noch nicht mit seinen irdischen Werkzeugen vertraut gemacht; das weiche Lebensgewebe des Leibes ist noch zu zart, als daß es ihm schon zum freiern Gebrauch dienen könnte. So gehn die ersten Jahre des Kindes vorüber. Der eben vorhandne Augenblick ist ihm ein Lebensganzes.»49
Die Stufenleiter, die jeder Mensch durchläuft, sah Zschokke vorgezeichnet und wiederholt in der Evolution der Natur vom Unbelebten über die Pflanzen und Tiere bis zu den Menschen und ein weiteres Mal in der Kulturgeschichte. Den Schlüssel zu dieser Interpretation gibt Zschokke im zweiten Teil der «Selbstschau». Er führt die geistige Entwicklung des Individuums parallel zu jenen ganzer Völker, mit den Stufenfolgen Wildheit, Halbwildheit, Barbarei, Halbbarbarei und Zivilisation. Die oberste Stufe des «Hochmenschlichen» habe bisher kein einziges Volk erreicht, wohl aber «der einzelnen Sterblichen Viele, unter Barbaren und Civilisirten, [...] Andre zur Nachfolge ermuthigend».50 Diese oberste Stufe sei für jedes Individuum erstrebenswert und werde auch die Menschheit schliesslich erreichen. Als Zschokke die «Selbstschau» schrieb, glaubte er, diese letzte Stufe erreicht zu haben oder ihr mindestens nahe zu sein.
Zur Gesittungsstufe der Barbarei gehörte auch der Aberglaube, dass ein Meteor die Zornrute Gottes sei, was erst später, im Verlauf der Verstandesbildung und Aufklärung hinterfragt werden könne. In einem gerafften Zeitablauf hatten sich Zschokkes Vater und die einfachen Leute, Handwerker, Soldaten und Arbeiter im Nordwesten der Stadt Magdeburgs um 1775 demnach noch auf der Stufe des Barbarentums befunden. Zschokkes eigener Weg, wie ihn jedes Kind durchlaufen musste, erfolgte als Befreiung aus dem dumpfen Zustand des Aberglaubens und der Ängste zur Freiheit des Denkens, aus der Dunkelheit zum Licht.
Wie von selbst stellt sich in der «Selbstschau» eine Übereinstimmung zwischen dem eigenen Erleben und dem kulturellen Zustand der Stadt ein: Magdeburg zwischen 1771 und 1780 passt sich der Befindlichkeit des Knaben an, als eine abergläubische, halb archaische Welt, die von irrationalen Kräften bestimmt ist. Dies wird dem Leser vor Augen geführt, indem Magdeburg aus der Sicht des kleinen Heinrich geschildert wird. Dabei musste Zschokke seine Phantasie zu Hilfe nehmen, da er sich nicht hauptsächlich auf selber Erlebtes, geschweige denn auf seine Gefühle von damals bezog. Dennoch gelang es ihm, seiner «Selbstschau» einen hohen Grad von Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft zu verleihen. Er war ein Meister solcher Suggestion, wobei seine Vorgehensweise neben ihrer Stringenz und Kohärenz noch den Vorteil hatte, die psychische Verfassung eines Kindes zu verdeutlichen. Mit dem realen Magdeburg jener Zeit und dem regen Kulturleben der Stadt hatte das nicht viel gemein.51
Dem Biografen obliegt es, Zschokkes philosophisch-imaginative Wahrheit durch die Wirklichkeit, soweit rekonstruierbar, zu ersetzen. Erst wenn er andere Quellen und Darstellungen beizieht und damit vergleicht, stösst er auf Lücken, die es zu füllen, und auf Widersprüchlichkeiten, die es zu bereinigen gilt. Eine dieser Lücken besteht darin, dass Zschokke im Alter kaum noch frühe Ereignisse und Eindrücke abrufen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Einiges schien ihm für den Zweck seiner «Selbstschau» unnützer Ballast.
Als 7-Jähriger, berichtete Emil Zschokke, sei Heinrich von seinem Vater aus dem Schlaf gerissen worden und habe über den Häusern im Süden die Röte eines nahen Brandes gesehen. Dies habe «einen [...] unverwischlichen Eindruck» auf ihn gemacht.52 Obschon Zschokke dieses Erlebnis seinen Söhnen selber erzählte, liess er es aus den eben genannten Gründen aus der Lebensgeschichte weg.
Ein nächtlicher Brand in der Altstadt war aber für die Bürger von Magdeburg gewiss bedrohlicher als die Sichtung eines Kometen. Ein solches Feuer konnte leicht um sich greifen und in dem Gassengewirr mit seinen Fachwerkhäusern die Bewohner eines ganzen Quartiers gefährden. Mehr als einmal wurde Magdeburg von schweren Feuersbrünsten heimgesucht; am verheerendsten waren jene vom 10. Mai 1631, die fast die ganze Innenstadt zerstörten. Im Namen der katholischen Liga hatte Graf von Tilly während des Dreissigjährigen Kriegs das lutherische Magdeburg erobert. Ob die Brände, die sich über die ganze Stadt ausbreiteten, damals absichtlich gelegt wurden, ist nicht restlos geklärt.53