Werner Ort

Heinrich Zschokke 1771-1848


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Rosenbaums begannen auch Mitglieder der Familie Zschokke, die über die bedeutendste Materialsammlung zu Zschokke verfügte, einen Beitrag an die Revision seiner Lebensgeschichte zu leisten. Eine eigentliche Pionierarbeit erbrachte Carl Günther (1890–1956), als er während des Ersten Weltkriegs für seine Dissertation über «Heinrich Zschokkes Jugend- und Bildungsjahre» unabhängig von der «Selbstschau» Nachforschungen betrieb und allen noch zugänglichen Spuren nachging.23 Bald stellte auch er fest, dass die «Selbstschau» viele falsche und irreführende Aussagen enthielt, und kommentierte dies so: «Zschokke vermochte sich nicht mehr genau aller Daten zu erinnern, seine Phantasie hatte, was ihm noch gegenwärtig war, umgearbeitet, die Forderung einer streng historischen Darstellung war ihm fremd: so rekonstruierte er sein Leben, unbekümmert darum, ob die Rekonstruktion auch überall der geschichtlichen Wirklichkeit entspreche. Dass aber irgendwo bewusste Fälschung vorliege, ist nicht wahrscheinlich.»24

      Günther benutzte alle ihm zugänglichen Archive, wo er Dokumente vermutete, las, wie schon Hans Bodmer vor ihm, was Zschokke geschrieben hatte oder was über ihn erschienen war. Er benutzte dazu auch die reichhaltige Sammlung seines Onkels Ernst Zschokke (1864–1937) in Aarau, der sich in der Nachfolge von Emil Zschokke, seinem Grossvater, als Sachwalter von Heinrich Zschokkes schriftlichem Nachlass sah. Günther war zudem vertraut mit dem in Aarau liegenden Briefwechsel Zschokkes und stand in Korrespondenz und im Austausch mit privaten Sammlern von Zschokkiana, Nachfahren von Freunden oder Verwandten Zschokkes und mit Lokalhistorikern.25

      Auch Günther hatte ein Zeitfenster der Zschokkeforschung zur Verfügung und ging wohl davon aus, dass andere seine Schilderung über das Jahr 1798 hinaus weiterführen würden. Wie jeder Forscher hoffte er, mit seiner Arbeit einen Stein ins Rollen gebracht zu haben und zu weiteren Studien anzuregen. Tatsächlich übernahm Helmut Zschokke (1908–1978), Nachkomme aus einem anderen Zweig der zahlreichen Familie, die Aufgabe, das fast unüberschaubare Material der Helvetik in öffentlichen und privaten Archiven zu sichten und die Jahre 1798 bis 1801 zu beschreiben.26 Die Herausgabe seiner umfangreichen und fast fertig gestellten Dissertation wurde vereitelt, als er wegen seines Engagements im spanischen Bürgerkrieg 1938 in der Schweiz zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt und von der Universität Zürich relegiert wurde.

      Carl Günthers Zeitfenster ging gegen das Ende des Zweiten Weltkriegs zu. Verschiedene Privatnachlässe aus Deutschland sind seither verschollen, Kirchen-, Stadt- und Staatsarchive teilweise vernichtet und Bücher, Zeitungen und Zeitschriften nicht mehr auffindbar. Besonders schmerzlich ist die Lücke im Stadtarchiv Magdeburg, wo die «Alten Akten» mit den Anfangsbuchstaben A bis O fehlen, oder in der Königlichen Staatsbibliothek Breslau (heute Wrocław), mit deren Vernichtung auch die Dokumente der Universität Frankfurt (Oder) untergingen.

      Zum Glück rollte der Magdeburger Genealoge Willi Bluhme in der Zwischenkriegszeit die Familiengeschichte Zschokkes anhand von Bürgermatrikeln und Kirchenbucheintragungen auf,27 so dass wir in Ermangelung der Originalakten einen kleinen eisernen Bestand gesicherter Daten über Zschokkes Vorfahren und Magdeburger Verwandte besitzen. Der Zschokke-Biograf nutzt sie ebenso dankbar wie alles, was Carl Günther vor 95 Jahren fand und in seiner Dissertation auswertete.

      Im Übergang zum neuen Jahrtausend hat sich zum Glück ein neues Fenster geöffnet: Von 1990 bis 2000 nahm sich die Zschokke-Briefforschungsstelle in Bayreuth unter der Leitung der Professoren Robert Hinderling und Rémy Charbon und im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) des Briefwechsels von Zschokke an, den sie systematisch und weltweit sammelte und damit das Korpus der bekannten Briefe auf über 6000 Einheiten erweiterte. Einige wesentliche Schweizer Bestände, auf die Günther noch nicht zurückgreifen konnte, stehen nun ebenfalls zur Verfügung: das ausgedehnte Archiv des Sauerländer-Verlags (jetzt im Staatsarchiv des Kantons Aargau) und der schriftliche Nachlass der Familie Tscharner im Staatsarchiv des Kantons Graubünden, um nur zwei zu nennen. Ohne sie und zahlreiche Dokumente und Hinweise aus anderen Archiven und Bibliotheken, von Bekannten und Mitgliedern der Familie Zschokke, ohne den Schweizerischen Nationalfonds, der während sechs Jahren die Edition von Teilen des Zschokke-Briefwechsels ermöglichte, und ohne die Unterstützung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel und zahlreicher anderer privater und öffentlicher Geldgeber wäre die Biografie nicht in dieser Reichhaltigkeit möglich gewesen.

      Die Gründung der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft im Frühjahr 2000 schuf die Voraussetzung, um die Forschungen zu Zschokke weiter voranzutreiben, zu vertiefen und den meisten Spuren nachzugehen. Als Folge davon entstanden in den vergangenen Jahren grössere und kleinere Publikationen, als deren Abschluss diese Zschokke-Biografie zu betrachten ist. Damit ist ein Etappenziel erreicht, aber noch kein Ende; es ist zu wünschen, dass diese Publikation die Zschokke-Forschung auf einer breiteren Basis anregt und vielleicht auch das eine oder andere Ergebnis hinzufügt, neu deutet oder relativiert. Der Verfasser betrachtet seine Biografie als eine Annäherung an sein Thema.

       NACHZÜGLER UND WAISENKIND

      Am 22. März 1771 um zwei Uhr nachmittags kam an der Schrotdorfer Strasse 2 in Magdeburg ein Sohn zur Welt, Kind des ehrbaren Tuchmachers Johann Gottfried Schocke (1722–1779) und seiner Ehefrau Dorothee Elisabeth Schocke, geborene Jordan (1727–1772). Die «Magdeburgische Zeitung» verzeichnete in jenem März einen frostigen Frühjahrsbeginn.1 Am Gründonnerstag, dem 28. März, wurde er in der St. Katharinenkirche auf den Namen Johann Heinrich Daniel getauft: Johann nach dem Vater und wie drei seiner Brüder; Heinrich nach dem Paten Heinrich Ludowig Brand, einem Kontrolleur bei der königlichen Akzise (Steuerinspektor) und Daniel nach dem zweiten Paten, Tuchscherer Daniel Schächer.2 Aber nur der Name Heinrich, den schon ein kurz nach der Geburt gestorbener Bruder getragen hatte, blieb in Gebrauch.3

      Wurde Heinrich, jüngstes von elf Kindern, geliebt, war er ein Wunschkind? Diese Frage stellte sich zu jener Zeit kaum. Eine Familienplanung gab es im Handwerkerstand nicht, und wenn Frauen früh heirateten und alle Geburten überlebten, waren Familien mit zehn, zwölf oder fünfzehn Kindern keine Seltenheit. Die Hälfte der Kinder starb früh, geschwächt durch Mangelernährung, dahingerafft von Epidemien, so dass es für die Eltern von Vorteil war, sich gefühlsmässig nicht stark an sie zu binden. Vier seiner Brüder und zwei seiner Schwestern lernte Heinrich nie kennen; einige hatten die ersten beiden Lebensjahre nicht überstanden. Ein Kind, das sich gesund entwickelte und das Erwachsenenalter erreichte, war im Nordwesten Magdeburgs, wo sich in einem Gewirr von Gassen, in schlecht gebauten, dumpfen, kleinen Häusern mit engen Stuben, die Strumpfwirk- und Webstühle aneinander reihten, fast schon ein Glücksfall. Ein Reisender, vermutlich Arzt aus Berlin, schilderte den elenden Zustand dieser Kinder:

      «Es war mir ein äusserst rührender und schrecklicher Anblick, als ich die Schrotdorfer Baracken, wo alles von Kindern wimmelt, und einige Gassen in der Gegend der Hohenpforte, auch in der Neustadt und den anderen Vorstädten durchgieng, und da unter sechse kaum ein Kind von gesunder Gesichtsfarbe und körperlicher Gestalt bemerkte; mehrentheils sahe ich bleiche aufgedunsene Gesichter, dicke ungestaltete Leiber, krumme gebrechliche Füße, mitleidenswürdige Figuren vor mir. Ich nahm Gelegenheit, mit Eltern, denen solche Kinder angehörten, zu sprechen, und hörte da zu meinem grösseren Erstaunen, daß so ein elendes Kind von 6, 8, 10, die sie gehabt hatten, das einzige Ueberbleibsel sey, oder daß sie noch elendere krank liegen hatten.»4

      Beide Elternteile starben früh, die Mutter, als Heinrich knapp ein Jahr, der Vater, als er acht Jahre alt war. An seine Mutter hatte Heinrich keinerlei persönliche Erinnerungen, besass auch keine Gegenstände, die mit ihr zu tun hatten. Sie sei eine schöne Frau gewesen, erzählte man ihm, habe ihn sterbend noch in den Arm genommen und geseufzt: «Armer Junge, warum bist du nicht ein Kirschkern, den ich hinabschlingen und mit mir ins Grab nehmen könnte!»5 Heinrich konnte sich nicht bewusst an sie erinnern; in «Eine Selbstschau» liess er sie noch im Kindbett sterben und nicht erst ein Jahr später.

      Anders stand er zu seinem Vater; an ihm hingen seine Gefühle wie das Schiff an einem Anker; mit seinem Tod blieben Trostlosigkeit und eine grosse Leere