Peter Hersche

Agrarische Religiosität


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und auch von nicht wenigen Interviewpartnern betont, war der Bedarf an ungelernten Arbeitskräften begrenzt; eine berufliche Zusatzausbildung für Bauernsöhne lag aber damals jenseits der Vorstellungen. Einige der zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten waren nur im Sommer möglich, womit sie aber unter Umständen mit der bäuerlichen Arbeit kollidierten. Zu denken ist beispielsweise an die notwendigen Säumerdienste zu den zahlreichen Bergwirtschaften im Alpstein.68 Auch als Handlanger auf dem Bau zu arbeiten war nur in der schönen Jahreszeit möglich. Diese Tätigkeit wurde aber ohnehin als sozial eher diskriminierend empfunden und wenn möglich vermieden;69 auch wurde bis in die 1950er-Jahre hinein allgemein recht wenig neu gebaut. Ziemlich beliebt war bei den Appenzeller Bauern auch noch einige Zeit nach dem Krieg das Torfstechen in den Moosen von Gonten und Eggerstanden; es konnte aber auch nur erfolgen, wenn der Boden nicht gefroren war. Andere mögliche Nebenverdienste fielen für die meisten mangels der dazu nötigen Hilfsmittel aus. Für grössere Transporte – an und für sich eine beliebte Nebenerwerbstätigkeit – brauchte man Pferde, welche aber Kleinbauern nicht besassen.70 Fremdes Vieh aus dem Unterland gegen eine entsprechende Entschädigung auf seiner Alp zu sömmern setzte eine bestimmte Grösse der Alpweiden voraus, die bei kleinen und mittleren Bauern nicht zu erwarten war.

      Es gab aber auch mentale Hindernisse gegen Nebenverdiensttätigkeiten, welche offenbar in vielen Fällen den potentiellen materiellen Vorteil überwogen. «Man war nicht mehr ein Bauer, wenn man sonst noch arbeiten ging», so drückte sich ein Innerrhoder unmissverständlich aus.71 Eher schränke man seine Bedürfnisse ein. Auch das Vieh liess man nicht gern länger aus den Augen, es könne ihm ja während der Abwesenheit etwas passieren.72 Einige meinten, man hätte sowieso überhaupt keine Zeit gehabt für andere Arbeit. Dieses Argument war aber, wie wir gesehen haben, mindestens für den Winter etwas vorgeschoben. Welche Möglichkeiten hatte man effektiv in dieser Jahreszeit, ausser der Waldarbeit? In Obwalden nahmen Bauern nicht selten stundenweise einfache nachgelagerte Arbeiten im Holzgewerbe an, zu Hause mit dem Herstellen von Schindeln und anderen einfachen Artikeln aus Holz, dann in Sägereien und Zimmereien, eventuell in den Parkettfabriken und Schreinereien. In Engelberg konnte man Arbeit im Zusammenhang mit dem schon stark entwickelten Wintersport finden, bei Seilbahnen und Skiliften. Die Schneeräumung der Strassen wurde nicht selten von Bauern besorgt – allerdings wurden dazu meistens Pferde gebraucht. Auch sonst nahmen Bauern Arbeiten im Strassenunterhalt an73 – es waren dies zumindest Tätigkeiten an der frischen Luft. Es gab solche, die nebenher als Klauen- und Schweineschneider oder als Störmetzger zu einem Zusatzeinkommen kamen. Einige versuchten ihr Glück im Handel mit Kleinvieh. Kaum verbreitet war, wie männliche Heimarbeit überhaupt, in unserer Untersuchungsgegend das Schnitzen und Herstellen von feineren Holzartikeln (etwa Spielzeug).74 Und insgesamt waren, um es nochmals zu betonen, die Möglichkeiten zu einem Nebenerwerb sehr begrenzt.

      Ganz anders verhielt es sich bei der weiblichen Heimarbeit, insbesondere der Handstickerei in Innerrhoden.75 Von den meisten Interviewten, Männern und Frauen, wurde sie als wichtig, ja absolut notwendig für das Familieneinkommen angesehen, nur vereinzelt als blosser Zusatzverdienst gewertet. Der Zwang zum Sticken ergab sich natürlich vor allem bei sehr kleinen Landwirtschaftsbetrieben, bei vielen Kindern oder nicht sehr fähigen Ehemännern. Die Löhne aus der im Allgemeinen schlecht bezahlten Arbeit wurden vor allem für den Kauf jener Lebensmittel verwendet, die man nicht selber produzierte. Die Handstickerei hatte zwar 1945 ihre Blütezeit längst hinter sich. Schon der Ausgang des Ersten Weltkriegs und dann die Weltwirtschaftskrise hatten massive Absatzeinbrüche gebracht, umso mehr als sich auch die Mode änderte. Um 1950 beobachtete man nochmals eine kurze Konjunktur; damals soll es noch 1500 Heimarbeiterinnen gegeben haben, weit mehr als die Hälfte aller Bauernfrauen.76 Nach 1955 folgte indes der endgültige Absturz. Es wurden keine Stickereikurse mehr durchgeführt, die Stickereizentrale, welche die Schutzmarken ausgab, 1970 geschlossen. Die teils ausgefeilten Techniken gingen verloren und Wiederbelebungsversuche jüngeren Datums haben eher folkloristischen Charakter. Teils gab man den ehemaligen Stickerinnen einfachere und noch schlechter bezahlte Arbeiten («Fädelen», Roulieren) für die Herstellung von Taschentüchern77 als Ersatz mit nach Hause.

      Das Sticken der Frauen fand in der Stube statt und wurde mit künstlichem Licht mittels spezieller Beleuchterkugeln teils bis spät in die Nacht hinein betrieben.78 Die Töchter lernten das Metier bei der Mutter, ausserdem gab es Kurse mit Prüfungen. Diese Tätigkeit passte gut zur appenzellischen landwirtschaftlichen Ökonomie. Die meist kleinen Betriebe benötigten nicht zwei vollzeitliche Arbeitskräfte. Die Frauen wurden, wie oben erwähnt, in der Regel nur zu Hilfsarbeiten oder beim Heuen beigezogen. Auf gröbere Arbeiten sollten sie ohnehin verzichten, denn sonst wären ihre Hände zur feinen Stickarbeit nicht mehr fähig gewesen. Weil das Sticken Priorität hatte, kultivierten die allermeisten Frauen auch keinen eigenen Garten. Ebenso machte die Kochkunst der Bäuerinnen in Appenzell keine Höhenflüge, es musste rasch und einfach vor sich gehen. Nur die Religion setzte dem Arbeitseifer Grenzen. Messbesuche, Andachten, die brauchtümlichen Gebete (vor allem der Rosenkranz), der ausgedehnte Totenkult und Wallfahrten schufen Freiräume. Und selbstverständlich durfte an Sonn- und Feiertagen nicht gestickt werden.79 An Werktagen aber konnte, alle Tätigkeiten zusammengenommen, auch für die Frauen nicht selten ein Arbeitstag von 12 bis 14 Stunden resultieren. Indessen hatte das Sticken auch eine gesellschaftliche Komponente: Es wurde nämlich vielfach gemeinschaftlich ausgeführt, und man konnte sich dabei unterhalten, gewissermassen das weibliche Gegenstück zu den geschilderten männlichen Mussestunden.

      In Obwalden war die Zusatzarbeit der Frauen weniger wichtig, weil sie ja eine grössere Rolle bei der Selbstversorgung mit Lebensmitteln spielten. Eine gewisse Parallele zur Stickerei stellte dort aber das «Hüetlen» dar.80 1892 hatte ein Auswärtiger in Sarnen einen Betrieb zur Herstellung von Strohhüten gegründet. Diese wurden zunächst von Frauen in Heimarbeit angefertigt. Später wurde die Herstellung weitgehend in der Fabrik konzentriert und mechanisiert. Frauen und auch Männer arbeiteten dort im Schichtbetrieb. Nach 1945 ging es auch hier bergab, ebenfalls unter dem Diktat der Mode. 1974 erfolgte die Schliessung des einst wichtigsten Industriebetriebes in Obwalden, der auf dem Höhepunkt in der Zwischenkriegszeit noch rund 600 Personen beschäftigt hatte und auch von den Interviewpartnern bei der Frage nach einem Nebenerwerb immer zuerst genannt wurde. Eine Heimarbeit der Frauen erfolgte sonst nur partiell, vorwiegend im Textilsektor. Im Zweiten Weltkrieg waren es häufig Militäraufträge, die dann nach dem Frieden natürlich wegfielen. Ziemlich verbreitet war die Störschneiderei. In Engelberg strickten Frauen Sportartikel.81 Dort und ebenso in Appenzell gab es für Frauen selbstverständlich auch Arbeitsplätze im Tourismus (Service in Gasthäusern, Arbeit in Hotels). Die Arbeit im Service wurde von der Geistlichkeit wegen der in ihren Augen moralischen Gefährdung kritisch betrachtet.82

      1 Vgl. 1.3 und die dort erwähnte Literatur.

      2 Durchschnittswerte sagen wenig aus, weil die Streuung gross ist und auch das Pachtland mitberücksichtigt werden müsste. Es gab auch Nebenerwerbsbetriebe von weniger als 1 ha.

      3 Zur Zauntechnik noch Enq 365; Fuchs, 76f. (mit Abb.).

      4 Dazu ausführlich Inauen J., Heimweiden.

      5 Schmidli, 43ff. Vgl. zur Alpwirtschaft daneben noch Fuchs, 166ff.

      6 Obwaldner Heimatbuch, 303ff.; Müller; Rohrer.

      7 Hess. Zum Alpwesen im inneralpinen Raum Mathieu, 234ff. Im Berner Oberland existierten die verschiedenen Typen nebeneinander.

      8 Dieser Kult um das Rindvieh war zweifellos in AI ausgeprägter als in OW. Zu den Viehschauen Fuchs M. Zur früher wichtigen Unterscheidung von Sennen und Heubauern, welche nur Vieh hielten, bzw. nur Heu produzierten, vgl. Inauen J., Heimweiden.

      9 Allg. Moser/Brodbeck.

      10 Dies war schon vor der in den 1960er-Jahren propagierten Politik der «inneren Aufstockung», welche auch anderswo eine