Peter Hersche

Agrarische Religiosität


Скачать книгу

Mannes. Düngen, Bodenpflege, Mähen und Einnehmen des Grases, Zäunen und Weidgang waren die wichtigsten Obliegenheiten. Nur bei den zum schnellen Trocknen des Heus notwendigen Arbeiten wurden weitere Familienangehörige und eventuell fremde Helfer beschäftigt. Gemischtgeschlechtlich organisiert war, bei Einrechnung der vielen nachgelagerten Verarbeitungsschritte, auch die Obsternte. Auf den Alpen arbeiteten, anders als im inneralpinen Raum oder auch in Tirol und Bayern, nur Männer. Ihnen oblagen ferner die «Aussenbeziehungen», insbesondere der Gang auf den Markt.

      Bereits Richard Weiss hat am Beispiel zweier Berggebiete auf einen ganz markanten Unterschied zwischen den beiden Hauptkonfessionen hingewiesen, nämlich auf die Kinderzahl. Während im protestantischen Safiental schon um 1910 die Zweikinderfamilie die Regel bildete, waren im benachbarten katholischen Lugnez Familien mit zwölf und mehr Kindern keine Seltenheit.15 Noch 1960 waren dort über 40 Prozent der Talbewohner weniger als 19 Jahre alt, gegenüber gut 30 Prozent in ganz Graubünden, beziehungsweise in der Schweiz.16 Der Strukturatlas der Schweiz zeigt allgemein auf, dass bis gegen 1960 die höchsten Geburtenzahlen in den katholischen Landgebieten lagen.17 Sehr viele Interviewpartner sowohl in Appenzell wie in Obwalden, insbesondere in Engelberg, wussten, wenn sie nicht selber aus kinderreichen Familien stammten, wenigstens in der Elterngeneration von solchen mit acht und mehr Kindern zu erzählen.18 Die Höchstzahl lag bei 17–18 Kindern. Dieses demografische Modell war schon im 17. und 18. Jahrhundert wirksam. Die Protestanten begannen damals mit der Geburtenkontrolle, während für die Katholiken ein hoher Bevölkerungsumsatz typisch war.19

      Der Grund für diese Ziffern liegt natürlich in der fehlenden, den Eheleuten unbekannten und kirchlich verbotenen Geburtenkontrolle, worauf an anderer Stelle noch einzugehen sein wird.20 Gemäss der damals geltenden katholischen Lehre sollte Sexualität nicht nur ausschliesslich eine Sache zwischen Eheleuten sein, sondern in erster Linie der Zeugung von Nachkommen dienen. Eine hohe Zahl von Kindern sollten die Gläubigen nicht als Last, sondern als Gottesgeschenk betrachten. Die Kirche wertete dieses Verhalten – aus durchsichtigen Gründen, weil sich so die Zahl ihrer Mitglieder von selbst vermehrte – positiv; in Appenzell drückte einmal Bischof Meile bei der Firmung dem Vater einer 13-köpfigen Kinderschar persönlich die Hand, nachdem ihn der Pfarrer darauf aufmerksam gemacht hatte.21 Zur Arbeit in der Landwirtschaft war eine hohe Kinderzahl allerdings bis zu gewissen Grenzen hilfreich, denn Kinderarbeit im bäuerlichen Betrieb wurde als selbstverständlich betrachtet und bloss zwei Kinder wären dazu etwas wenig gewesen. Für die Knaben diente die Arbeit im elterlichen Landwirtschaftsbetrieb der Einübung aller notwendigen Fertigkeiten, diesen oder einen anderen Hof später übernehmen und selbständig führen zu können, denn landwirtschaftliche Schulen wurden noch kaum besucht.22 Für die Töchter galt dasselbe in Bezug auf die Hausarbeiten; dazu konnten sie gewisse Vorarbeiten für das Sticken durchführen. Beim Heuen mussten die Kinder beider Geschlechter mithelfen. Auch das Hüten und Treiben des Viehs konnte ihnen anvertraut werden, wenn auch diese Tätigkeit in unserem Untersuchungsgebiet weniger wichtig war als im inner- und südalpinen Raum.23 Waren die Knaben etwas älter, so konnten sie den Vater teilweise oder ganz bei der Stallarbeit vertreten. Auch in Alpbetrieben wurden Knaben in den langen Schulferien als sogenannte Handbuben für Hilfsarbeiten eingesetzt; für viele war das trotz den Anstrengungen die schönste Zeit des Jahres. Litt ein Verwandter oder ein Nachbar Mangel an Arbeitskräften, so wurden bei zahlreich vorhandenen eigenen Kindern einige davon gerne tageweise oder auch länger als Arbeitskräfte «ausgeliehen». Auch hier wurde von diesen die Abwechslung meist geschätzt, und die Eltern hatten einen Esser weniger am Tisch. Die Aussagen mehrerer älterer Leute zeigen, dass man die landwirtschaftliche Kinderarbeit generell nicht negativ bewerten sollte: Die Freude an den Tieren und das Leben im Freien, der Stolz auf ein gelungenes Werk und das Bewusstsein, Verantwortung übernehmen zu können, kompensierten die dazu notwendigen Anstrengungen. Für viele Kinder war es sicherlich attraktiver, in der freien Natur zu arbeiten als in der Schulbank still sitzen und ein von der Lebensrealität manchmal etwas entferntes Lernprogramm absolvieren zu müssen. Sehr viel hing allerdings davon ab, ob die Eltern bei der bäuerlichen Arbeit geschickt und liebevoll mit den Kindern umzugehen verstanden.

      Das Urteil, der Appenzeller Bauer liebe seine Kühe mehr als seine Kinder, findet sich zum erstenmal gegen Ende des 18. Jahrhunderts beim Reiseschriftsteller Johann Gottfried Ebel und wurde dann zu einem bis ins 20. Jahrhundert weitergeschleppten Topos.24 An seinem Ausspruch ist wahr, dass dem Viehbauern, wie überall auf der Welt, seine Herde zweifelsohne viel galt. Sie war ihm nicht nur Lebensund Nahrungsgrundlage, sondern stellte seinen eigentlichen Reichtum dar, sie war Anlass zu Besitzerstolz und verschaffte ihm bei sorgfältiger Pflege soziale Reputation. Auch überliessen wie allüberall die Männer die allgemeine Erziehung ihrer Kinder zur Hauptsache ihren Ehefrauen. Den aufgeklärten Ebel aber dürfte wie die zum selben Urteil gekommenen Pfarrherren des 20. Jahrhunderts der Umstand etwas irritiert haben, dass die Eltern die Erziehung ihrer Kinder eher lässig nahmen, die Schulpflicht nicht selten als bloss notwendiges Übel betrachteten und demgegenüber den Wert der bäuerlichen Arbeit betonten, aber auch den Heranwachsenden, zum Ausgleich von der teilweise strengen Arbeit, die nötigen Freiräume zur Erholung einräumten. Darauf wird im Zusammenhang mit der Geltung der moralischen Normen noch einzugehen sein.25

      Aus dem Gesagten wird klar, dass Dienstboten in der voralpinen Landwirtschaft im Gegensatz zu den typischen Ackerbaugebieten des schweizerischen Mittellandes eine Randerscheinung blieben. Der Prozentsatz der in den Betrieben arbeitenden Familienangehörigen betrug 1929 in Obwalden 85 bis 90 Prozent, in Appenzell 90 bis 95 Prozent.26 Weibliche ländliche Dienstboten waren eine Seltenheit, Knechte gab es in begrenztem Ausmass (meist 1–2) in den grösseren Betrieben. Solche Hilfskräfte mussten vorübergehend auch eingestellt werden, wenn etwa der Familienvater plötzlich verstarb oder arbeitsunfähig wurde und noch kein Nachfolger bereit war. Auch während der Alpzeit mussten einige Bauern mit Privatalpen, aber ohne geeignete Familienangehörige, Angestellte beschäftigen, da sie ja nicht an zwei Orten gleichzeitig sein konnten. In Engelberg allerdings nahmen einige Älpler tägliche Wanderungen bergauf und bergab auf sich; auch Kinder wurden für den Milchtransport ins Tal eingesetzt. Erst mit der besseren Erschliessung und dem Auto war es unter günstigen Umständen möglich, dass eine Person die zwei räumlich getrennten Güter betreute.

      2.3 Soziale Verhältnisse und Ungleichheit innerhalb der Bauernschaft

      Schon aus den bisherigen Ausführungen dürfte hervorgegangen sein, dass die Bauernschaft in Innerrhoden und Obwalden eine relativ homogene war und es keine grossen sozialen Unterschiede gab, jedenfalls geringere als in den Ackerbaugebieten des Mittellandes. Dieser Meinung waren auch praktisch alle Interviewpartner, wobei viele nicht von einer bäuerlichen Mittelschicht sprachen, sondern meinten, es seien eigentlich fast alle gleich arm gewesen. Einige machten ferner darauf aufmerksam, dass der Schein auch trügen konnte: Von nach aussen hin reich scheinenden, gut gekleideten und spendablen Bauern mit grossen Gütern wusste man nicht, ob sie nicht daneben vielleicht auch grosse Schulden hatten.

      Grossbauern mit wesentlich mehr Land, dazu schönen Alpen und merklich mehr (oder auch bloss schöneren) Kühen als im Durchschnitt gab es zweifellos, aber sie waren Ausnahmen. In Appenzell gab es 1969, also zu einer Zeit, wo sich der Trend zur Flächenvergrösserung bereits bemerkbar machte, nur 42 Betriebe mit über 20 Hektaren Land; das waren 3,6 Prozent aller Betriebe.27 In Engelberg wurden von den Interviewten einige wenige Grossbauern in der Talebene genannt; dasselbe galt offenbar auch für die Sarner Ebene. Solche Güter waren gelegentlich durch eiserne Sparsamkeit oder glückliche Erbschaften zustandegekommen; bei mehreren Söhnen wurde dann aber der eventuell mehrere Liegenschaften umfassende Betrieb meist wieder aufgeteilt und somit auf das Normalmass zurückgeführt. Oder die Grossgüter gehörten reichen Viehhändlern,28 welche mit ihrer Tätigkeit ansehnliche Gewinne gemacht hatten und damit andere Liegenschaften von tief verschuldeten Bauern aufkaufen konnten. Diese reichen Bauern waren schon von der Grösse ihrer Betriebe her auf Dienstboten angewiesen.29 Sie verfügten häufig über Pferde, hatten eventuell sogar eine auswärtige landwirtschaftliche Schule besucht und waren daher innovativer, insbesondere schon in den