der Bildungsausgaben standen beide Kantone im gesamtschweizerischen Vergleich in den untersten Rängen.52 In Obwalden gab es ein altes Frauenkloster in Sarnen, eines in Melchtal, mit einem angeschlossenen Töchterinstitut, sowie eine moderne Gründung von Dominikanerinnen (Bethanien in St. Niklausen).53 Innerrhoden zählte insgesamt sogar vier Frauenklöster, wobei allerdings zwei (Wonnenstein und Grimmenstein) als Exklaven in Ausserrhoden lagen. Die Primarschule war staatlich organisiert, doch wirkte die Kirche, wie noch zu zeigen sein wird, auf verschiedenen Ebenen sehr bestimmend auch auf das niedere Bildungswesen ein.54
1.7
Zu den übrigen, in der Einleitung aufgeführten, aber nur am Rande einbezogenen Gebieten können und sollen hier nur die wichtigsten strukturellen Elemente genannt werden. Auf die abgesehen vom Konfessionellen weitgehende Ähnlichkeit von Ausser- und Innerrhoden in dieser Hinsicht wurde bereits hingewiesen. Dies gilt besonders für das vom Bauerntum und seiner Folklore geprägte Ausserrhoder Hinterland, während die übrigen Teile stärker industriell ausgerichtet sind.55 Das von Zihlmann beschriebene Luzerner Hinterland und das Entlebuch ähneln geografisch und wirtschaftlich ebenfalls weitgehend Appenzell und Obwalden.56 Dasselbe gilt für das Berner Oberland, wobei hier noch ausgedehnte Alpen hinzukommen, reicht doch das Gebiet bis zur Viertausendergrenze. Im Gegensatz zu fast allen übrigen hier betrachteten Gegenden spielte dort aber auch der Tourismus eine gewaltige und wirtschaftlich wichtige Rolle und dies schon seit langem – das Berner Oberland war neben Chamonix die am frühesten, nämlich schon im späten 18. Jahrhundert von Fremden aufgesuchte Region des Alpenraums. Der Freiburger Sensebezirk betreibt Gras- mit etwas Ackerbau.57 Hingegen unterscheiden sich die inner- beziehungsweise südalpinen Regionen (Wallis, Graubünden, Tessin) nicht nur naturräumlich, sondern auch wirtschaftlich ziemlich stark vom nördlichen Voralpengebiet. In diesen verhältnismässig trockenen und daher zum Teil (besonders im Wallis) einer künstlichen Bewässerung bedürftigen Tälern wurde neben der Viehhaltung, bei der neben dem Rindvieh auch Ziegen und Schafe eine grössere Rolle spielten, in der Nachkriegszeit noch ziemlich viel Ackerbau betrieben, vor allem Roggen und Kartoffeln für den Eigenbedarf.58 Im Wallis kam ausserdem der Weinbau in der Rhoneebene hinzu, wo auch viele Bergdörfer Reben besassen. Es herrschte eine ausgesprochene Stufenlandwirtschaft mit bis zu vier Stafeln vor. Diese bäuerlichen Wirtschaften waren fast autark, auch weil dieses Gebiet in der Regel verkehrsmässig noch schlechter als das Voralpengebiet erschlossen war, im Extremfall nur durch Saumtiere erreichbar.59 Das bäuerliche Element dominierte, noch stärker als in Innerrhoden oder Obwalden, auch in den Dörfern.60 Der zweite Sektor existierte dort nur marginal; im Wallis allerdings arbeiteten in einigen nahegelegenen Orten nicht wenige Männer als Pendler in den grossen elektrochemischen und metallurgischen Betrieben in der Talebene.61 Sie überliessen dann die bäuerliche Arbeit weitgehend ihren Frauen. Die Besitzungen im alpinen Raum waren infolge der dort üblichen Realteilung fast immer extrem parzelliert, zwanzig Parzellen pro Betrieb waren keine Ausnahme. Die Bevölkerung war jedoch wie in den anderen hier untersuchten Regionen ziemlich homogen, abgesehen von städtischen Siedlungen wie Leuk, wo die Standesunterschiede ähnlich wie in Appenzell oder Sarnen speziell im kirchlichen Bereich deutlich zu Tage traten.62 Der Tourismus spielte in der Regel erst ab den 1960er-Jahren eine spürbare Rolle.63 Die dauerhafte Auswanderung war stärker ausgeprägt als in den Gebieten der Nordalpen. Politisch waren in allen diesen Regionen ebenfalls die demokratischen und korporativen Elemente, in Graubünden und im Wallis auch die Gemeindeautonomie, stark entwickelt. Allerdings war die ganze Politik mehr als in den Landsgemeindekantonen der Reglementierung durch die Kantonsregierungen ausgesetzt. Parteipolitisch war wie in den anderen katholischen Stammlanden die Katholisch-Konservative Partei führend, auch wenn in den meisten Gebieten noch andere, von jener meist erbittert bekämpfte liberale Gruppierungen existierten.
Konfessionell waren das Luzerner Hinterland, das Oberwallis und Lugnez und die nicht vom Tourismus berührten Teile des Tessins noch etwas geschlossener katholisch als Appenzell oder Obwalden.64 In den Bergdörfern waren Zugezogene, erst recht Protestanten, damals ein Exotikum. Das Netz an Pfarreien war dicht, weil vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert ständig Abspaltungen von Pfarreien und Kuratien von den Mutterkirchen stattgefunden hatten. Trotz der relativen materiellen Armut existierte eine reiche Sakrallandschaft und alte kirchliche Bräuche wurden hochgehalten, wie besonders am Beispiel des Lötschentals gezeigt wurde.65 Schon Richard Weiss hat darauf hingewiesen, dass der katholische Glaube der alpinen Lebensform besonders angemessen sei.66 In der Tat dominiert im Alpenraum der Katholizismus bei weitem. Protestantisch sind nur der grössere Teil Graubündens, was unter anderem mit dem Widerstand gegen den Bischof von Chur als ehemaligen Landesherrn zusammenhängt, sowie das Berner Oberland samt dem ehemals bernischen Pays d’Enhaut im Waadtland. Hier muss man sich allerdings vor Augen halten, dass die Reformation dem Oberland von der Stadt Bern regelrecht aufgezwungen wurde und gegen den entstehenden Volkswiderstand teils mit Gewalt durchgesetzt werden musste.67 Noch über Jahrzehnte hielten sich katholische Bräuche, etwa die Wallfahrt zu St. Beatus am Thunersee, und Wallfahrer aus dem Wallis und aus Freiburg nach Einsiedeln konnten ungehindert durch das Oberland zum Brünigpass gelangen. Sogar noch am Ende des 17. Jahrhunderts sollen Berner Oberländer Schenkungen für den Neubau der Kirche Giswil gemacht haben.68 Könnten Folgen dieser «Zwangsbekehrung» noch bis ins 20. Jahrhundert gereicht haben und wenn ja, können sie noch aufgespürt werden? Der im Saanenland im Zeitalter der Aufklärung wirkende Landvogt Karl Viktor von Bonstetten jedenfalls war davon überzeugt; für ihn hatte die Reformation auch negative Folgen gezeitigt.69
1 Dieses Kapitel richtet sich besonders auch an nichtschweizerische Leser, die mit den Verhältnissen nicht oder kaum vertraut sind. Einführende Literatur zu AI Grosser; Klauser (für die Situation um 1945); Inauen J., Heimweiden (enthält mehr als der Titel vermuten lässt). Zu einigen Aspekten der Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Schürmann. Die Geschichte eines ländlichen appenzellischen Bezirks (Gonten) behandelte Weishaupt ausführlich. Für OW Garovi; Dillier; Imf Kerns; Imf VV; Obwaldner Heimatbuch. Für Engelberg Heer (jedoch stark auf die Kloster- und Äbtegeschichte bezogen); Zumbühl. Zum «Volkscharakter» der Kantone Allemann. Allg., wenn auch spezifisch auf Deutschland bezogen, zu Struktur und Problemen des ländlichen Raums das Standardwerk von Henkel.
2 Die Trennung macht der zwischen den beiden Teilen gelegene Kernwald aus, deshalb auch die Bezeichnung Unterwalden «ob» und «nid dem Kernwald».
3 «Flecken» sind in der Schweiz grössere Orte mit ähnlichen historischen Rechten wie Städte (am wichtigsten das Marktrecht), aber im Gegensatz zu diesen eher locker bebaut und ohne Ummauerung.
4 Allg. zu den bäuerlichen Siedlungsformen Weiss, 76ff.
5 In der Regel, aber nicht zwingend, an den ältesten.
7 In OW kam noch 1950, also nach dem Wegfall der kriegsbedingten Einschränkungen, ein Privatauto auf 65 Einwohner. Garovi, 246. In AI war die Zahl noch viel geringer, nämlich ein Auto auf 123 Einwohner. Geschäftsbericht, 93. Etwas verbreiteter waren damals Motorräder.
8 Dillier, 624; AI H. S. In AI wurde der Polizei 1957 ein erstes eigenes Auto zur Verfügung gestellt.
9 Für die schweizerische Landwirtschaft vor dem grossen Wandel nach dem Krieg allg. das immer noch wertvolle und mit vielen Zahlen unterlegte Werk von Laur. Die neuere Synthese von Moser ist stark auf das ackerbauliche Mittelland konzentriert und behandelt in erster Linie Fragen der bäuerlichen Identität, die Beziehungen zu Staat, Politik und Parteien, sowie die bäuerlichen Verbände, allgemeine Fragen der Agrarstruktur und der Preispolitik.