Peter Hersche

Agrarische Religiosität


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(Jahrgang 1941), deren erste noch in die Kriegszeit hineinreichen, lassen mir die Dekade nach dem Waffenstillstand als eine verhältnismässig ruhige Zeit erscheinen, in der man zunächst noch mit den Folgen der vorangegangenen Auseinandersetzung fertig werden musste, ohne an viel Neues zu denken, das Leben somit ohne grössere Veränderungen wie bis anhin weiterging. Dieselbe Schlussfolgerung kann man chronikalischen Darstellungen, wie sie es für beide Untersuchungsgebiete gibt, entnehmen.21 Erst seit der Mitte der 1950er- Jahre zeigen sich dann die typischen Erscheinungen der Moderne gehäufter auch in den bis dahin relativ zurückgebliebenen Voralpenkantonen. Hier habe ich selber noch lebhafte Erinnerungen etwa an den ersten Einsatz eines Baggers für Aushubarbeiten (bezeichnenderweise für eine Fabrik), an die ersten Waschmaschinen (Marke Hoover) vor einem Elektroladen, an neue Produkte der aufkommenden Lebensmittelindustrie, an den zunehmenden Autoverkehr mit allen seinen Folgen, schliesslich an die ersten, in zwei Wirtshäusern als Sensation und Publikumsmagnet aufgestellten Fernsehgeräte. Speziell für die Religiosität bedeuten der Beginn des Pontifikats von Johannes XXIII. (1958) und das bald von ihm einberufene Zweite Vatikanische Konzil einen Einschnitt, auch wenn sich die Folgen erst in den 1960er-Jahren massiv bemerkbar machten. Allerdings gab es, wenn man genauer hinschaut, bereits zur Zeit Pius XII. unterschwellig einige kirchliche Neuerungen.22 Diese vorläufigen Feststellungen zum zeitlichen Rahmen werden im Folgenden noch an einigen Beispielen zu präzisieren sein.

      Anmerkungen

      1 Z. B. Fuchs; Vogler.

      2 Dies ist die spezifisch volkskundliche Perspektive. Für meine Fragestellung sei in dieser Hinsicht exemplarisch auf das Werk von Hartinger verwiesen, das die Verschränkung von Religion und Brauch thematisiert.

      3 Zu diesem Problem noch Bärsch; Forstner.

      4 Teilweise sind die entsprechenden Erfahrungen der Geistlichen wohl in ihre Predigten, Schriften und Rechenschaftsberichte eingeflossen.

      5 Zur Theorie und Methode der qualitativen Sozialforschung und der «oral history»: Forstner (für Geistliche); Girtler, Methoden; Göttsch; Lamnek; traverse; Vorländer; Wierling.

      6 Für Appenzell: Bräuninger; Dörig; Inauen R., Charesalb; Lüthold; Neff A.; Weigum; Wyss, Potztusig; Zilligen. Für Obwalden nur Furrer und Ming H.; allerdings basieren die Werke von Imfeld auch auf einem reichen persönlichen Erinnerungsschatz. Für andere Gebiete (in Auswahl): Britsch (Wallis); Galli (Tessin); Jaggi (Berner Oberland); Witzig (Deutschfreiburg, Wallis, Tessin).

      7 Appenzeller Volksfreund (zugleich amtliches Publikationsorgan). Systematisch durchgesehen wurden die beiden Eckjahrgänge 1946 und 1960. Die pfarrlichen Ankündigungen umfassen für das erste Jahr nur das Dorf Appenzell und Haslen, sowie teilweise Gonten. Die übrigen Pfarreien informierten damals noch durch Anschlag oder mündliche Mitteilung. Die Obwaldner Presse wurde ausgiebig von Imfeld benutzt, sodass ich hier auf weitere Recherchen verzichten konnte. Die in Frage kommenden diözesanen Amtsblätter sind: Diözesanblatt für das Bistum St. Gallen; Folia officiosa ab ordinariatu episcopali diocesis curiensis edita.

      8 Vgl. Diözesanblatt 2. Folge, 151–153 (7. 4. 1941), dort auch die Liste der Fragepunkte. Ferner Bischof, 123.

      9 In den appenzellischen Landpfarreien war dies häufig ein Einheimischer, nämlich Dr. Edmund Locher, bis 1943 Pfarrer in Appenzell, dann Domkustos und Professor in St. Gallen. Vgl. zur Person Stark, 113f.; IGfr 30 (1986/87), 177.

      10 Die Frageliste publiziert in: SAVk 31 (1931) 101–142. Vgl. dazu auch Inauen R., Hitz, 48. Der Rücklauf der Fragebogen war offenbar enttäuschend gering und generell blieb wenig davon erhalten (so fehlt etwa OW). Zur Erarbeitung des Grundlagenmaterials für den in Aussicht genommenen Atlas der schweizerischen Volkskunde wurde deshalb ein stark reduzierter zweiter Fragebogen (Enquete II) erstellt. Einschränkend ist zu bemerken, dass der Fragenkatalog selbstverständlich die damaligen Forschungsinteressen der Volkskunde widerspiegelt und damit der christlichen Religiosität wenig Platz einräumt. Die spezifisch «Religiöse Volkskunde» steckte damals noch in ihren Anfängen.

      11 Vgl. etwa Ebel; Deutsch (Zinzendorf); Hartmann.

      12 Hersche, bes. 446ff., 474ff., 722f., 893f.

      13 Allg. zu Ausserrhoden Schläpfer, für die Gemeinde Urnäsch Hürlemann.

      14 Vgl. für das «traditionelle» Uri aber noch das 1946 erschienene Werk von L. von Matt.

      15 Eine Hilfe war auch das von Imfeld verfasste Mundartwörterbuch. Für Appenzell gibt es das entsprechende Werk von Joe Manser. Dialektbegriffe habe ich in diesem Buch jedoch nur ausnahmsweise verwendet, nämlich dort, wo sie besonders aussagekräftig oder kaum mit einem einzigen anderen Wort übersetzbar waren.

      16 Vgl. die in der Bibliografie aufgeführten Werke. Für das Entlebuch bietet das Werk von Kaufmann über die Mischehen auch viele allgemeine Informationen zu dieser Landschaft.

      17 Dazu grundlegend Mathieu.

      18 Vgl. etwa Schmid zum Lugnez. Naheliegend wäre es (gerade von Graubünden und dem am Ostrand der Schweiz gelegenen Untersuchungsgebiet Appenzell aus) einen Blick über die Grenze, ins Vorarlberg und Tirol, zu werfen. Das musste hier unterbleiben, abgesehen von der summarischen Benutzung eines «Klassikers», an dem niemand vorbeikommt, der sich mit den hier behandelten Fragestellungen abgibt: Das dreibändige «Bergbauernbuch» von H. Wopfner zum Tirol. Ergänzend zu dieser Region noch Hubatschek; Jäger. Vergleichend kann ferner die einzige grössere Untersuchung aus Deutschland zur Lebenswelt ländlicher Katholiken um 1950 herangezogen werden, nämlich diejenige von Fellner zu Bayern. Vgl. darin besonders die Abschnitte zu Ebersberg, 101ff., und Berchtesgaden, 176ff. Ebersberg ist von der Zahl der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung mit AI und OW vergleichbar, ebenso Berchtesgaden, wo allerdings der Tourismus eine ganz grosse Rolle spielt. Der Autor konstatiert einleitend zu recht ein enormes Forschungsdefizit zum gewählten Thema. Ein nahe der Schweiz gelegenes Gebiet (Oberschwaben) behandelt Kuhn.

      19 Antonietti; Antonietti/Kalbermatten; Bellwald; Bellwald/Guzzi; Imhasly; Kuonen; Niederer; Pfaffen; Siegen Joh.; Siegen Jos.

      20 Zum schweizerischen und bernischen Protestantismus allg. Guggisberg; Vischer; Weiss. Der «Atlas der schweizerischen Volkskunde» (ASV) behandelt die hier im Vordergrund stehenden, mit der Konfession zusammenhängenden Probleme eher am Rande. Auch das von P. Hugger hg. dreibändige «Handbuch der schweizerischen Volkskultur», gewissermassen das Nachfolgewerk der Synthese von Weiss, gibt zwar insgesamt einen umfassenden Überblick zum Thema, ist aber stärker gegenwartsbezogen und widmet der religiösen Kultur bloss verhältnismässig wenig Platz (explizit nur in den beiden Beiträgen von Heim, 1487–1500, und Campiche, 1443–1470). Eine nützliche neuere Datensammlung zum Vergleich katholischer und protestantischer Mentalität, aber auch zu anderen hier behandelten Fragekreisen, ist hingegen der von B. Fritzsche hg. «Historische Strukturatlas der Schweiz».

      21 Für AI Steuble (die in der folgenden Darstellung gegebenen Daten sind in der Regel hier entnommen); für OW gibt Dillier nach Themenkreisen geordnet viele chronikalische Hinweise. Vgl. im Übrigen 10.5 und 10.6.

      22 Zu diesen Entwicklungen und der schweizerischen Kirchengeschichte im 20. Jahrhundert vgl. in erster Linie die im Literaturverzeichnis angeführten Arbeiten vom Altermatt. Ferner Conzemius; Vischer.

1 Allgemeine Strukturelemente in Appenzell und Obwalden

      Grundsätzlich sind die naturräumlichen, wirtschaftlichen, politischen und anderen Rahmenbedingungen beider Untersuchungsgebiete einander weitgehend ähnlich, bloss im Detail zeigen sich einige Unterschiede.1 Geografisch sind sie beide im schweizerischen