an der Nordabdachung der Alpen gelegen, in häufigen Niederschlägen aus, wohingegen das fast rundum von Gebirgen umgebene Obwalden trockener ist. Das Appenzellerland liegt etwas erhöht südlich des Bodensees, am Fuss des Alpsteins, einer weit nach Norden vorgeschobenen Gruppe des Alpengebirges. Es ist rundum vom Kanton St. Gallen umgeben und von einem einzigen grösseren Fluss, der Sitter, durchflossen. Obwalden ist als einer der drei Urkantone Teil der Zentralschweiz. Es hat Anteil am Vierwaldstättersee, in den die Sarner Aa mündet, die das auf rund 435 bis 470 Meter über Meer gelegene Haupttal mit dem gleichnamigen See und dem Hauptort Sarnen durchfliesst. Wesentlich höher gelegen sind nur die Gemeinde Lungern sowie das abgeschiedene, seitlich gelegene Melchtal. Noch höher, auf rund 1000 Meter über Meer liegt die Exklave Engelberg. Dieser ehemalige Klosterstaat gehört geografisch eigentlich zu Nidwalden,2 schloss sich aber nach dem Ende der weltlichen Herrschaft der Äbte 1815 aus politischen Gründen Obwalden an. Appenzell Innerrhoden ist durchschnittlich höher gelegen, von 740 Meter über Meer an aufwärts. Eine Ausnahme bildet einzig der «Äussere Landesteil», die Exklave Oberegg, der im Ausserrhoder Vorderland gelegene, katholisch gebliebene Teil des alten ungeteilten Landes. Dieser ist stärker nach St. Gallen und dem Rheintal hin orientiert und auch wirtschaftlich etwas anders strukturiert; er wird daher in dieser Untersuchung im Allgemeinen nicht berücksichtigt. Der Hauptort Appenzell liegt auf 785 Meter über Meer, die kleinen übrigen Ortschaften meist auf etwa 900 Meter über Meer.
1.2
Nur die beiden traditionellerweise «Flecken»3 genannten Hauptorte Sarnen und Appenzell weisen eine einigermassen entwickelte Infrastruktur mit vielen Läden und Handwerkern auf und erfüllen in beiden Kantonen die zentralörtlichen Funktionen. Im Umland, in Appenzell noch stärker als in Obwalden und geradezu exemplarisch, herrscht bäuerliche Streusiedlung mit arrondiertem Landbesitz («Heimat») vor.4 In beiden Kantonen wurden die Höfe im geschlossenen Erbrecht an einen Sohn weitergegeben.5 In Appenzell bilden Wohnund Ökonomiegebäude eine Einheit (Kreuzfirstbau). In Obwalden sind sie, mit im Einzelnen deutlich anderer Bauweise, getrennt. Während beide Hauptorte eine minimale Grösse von einigen tausend Einwohnern haben, sind die übrigen paar Dörfer in Obwalden kleiner, weisen dennoch alle wichtigen Geschäfte auf (Läden, Handwerker, sogar mehrfach). Die Appenzeller Ortschaften ausserhalb des Hauptorts hingegen würde man besser Weiler nennen: Sie bestanden noch um 1960, bis der Bauboom auch dort einsetzte, nur aus Kirche, Pfarrhaus, Schule, eventuell einer Post, einer oder zwei Wirtschaften, sowie einer Bäckerei und allenfalls einem Gemischtwarenladen. Die Bevölkerung Obwaldens betrug 1950 22 125, diejenige Innerrhodens (ohne Oberegg) 11 230 Einwohner. Diese Zahlenverhältnisse gelten mit geringen Schwankungen auch für die Jahrzehnte unmittelbar vorund nachher. Auswanderung fand immer statt, denn in beiden Kantonen existierten in unserem Untersuchungszeitraum bei beschränkten Ressourcen noch sehr kinderreiche Familien.6 Einwanderer aus anderen Kantonen gab es vor 1960 verhältnismässig wenige, am ehesten bei ganz spezialisierten Berufen ohne lokale Tradition. Die Anbindung an den Verkehr war sowohl in Obwalden wie in Innerrhoden relativ schlecht, was sich unter anderem darin zeigt, dass sie nur mit Schmalspurbahnen erschlossen wurden, wobei allerdings der Brünigbahn in Obwalden überregionale Bedeutung zukam. Der Strassenverkehr war nach dem Krieg noch ziemlich unbedeutend, und bei den Einheimischen konnten sich damals nur die dörfliche Oberschicht oder bestimmte darauf angewiesene Berufstätige ein Auto leisten.7 Allerdings reisten die Touristen vermehrt damit an, was die beiden Kantone veranlasste, in den späten 1950er–Jahren eine vorher nicht existierende Verkehrspolizei ins Leben zu rufen.8 Gleichzeitig wurden umfangreiche Strassenausbauprogramme (Asphaltierungen, Verbreiterungen usw.) in Angriff genommen und wenig später wurde auch begonnen, die landwirtschaftlichen Siedlungen mit Flurstrassen für den motorisierten Verkehr zu erschliessen.
1.3
Die naturräumlichen Gegebenheiten bestimmten massgeblich die wirtschaftliche Tätigkeit, insbesondere im ersten Sektor, der zwischen 1945 und 1955 noch eindeutig dominierte.9 In Innerrhoden waren gemäss der Volkszählung von 1950 noch 51 Prozent der männlichen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig,10 in Obwalden waren es 42 Prozent,11 also mehr als das Doppelte, beziehungsweise Dreifache des gesamtschweizerischen Durchschnitts.12 Diese Zahlen sind jedoch aus methodischen Gründen als blosse Richtwerte zu betrachten.13 Für den Getreidebau sind beide Gegenden nicht geeignet, nur in Obwalden gab es in der Ebene der Sarner Aa ein wenig Ackerbau. Auf staatlichen Befehl wurde zwar beiderorts im Rahmen des «Plans Wahlen» in der Notzeit des Zweiten Weltkriegs auf mehreren hundert Hektaren Getreidebau betrieben, aber gleich danach wieder aufgegeben. Einzig der im Krieg ebenfalls forcierte Anbau von Kartoffeln wurde vor allem in Obwalden für den Eigenbedarf noch eine Zeit lang weiter gepflegt. Grasbau und Milchwirtschaft herrschen bis heute vor und bilden neben der Kälbermast und der Aufzucht von Jungvieh das Haupteinkommen der Bauern in beiden Gegenden. Die Alpwirtschaft war beiderorts eine notwendige und wichtige, mit Liebe besorgte Ergänzung der Talbetriebe. Die Milch wurde zum kleineren Teil als Konsummilch weiterverkauft, vor allem aber wurden Käse und Butter daraus hergestellt. Das zweitwichtigste Nutztier, welches fast alle Bauern hielten, war das Schwein. Demgegenüber war die früher wichtige Ziegenhaltung schon damals stark zurückgegangen und reduzierte sich weiterhin. Auch die Schafhaltung war in unseren zwei Untersuchungsgebieten nie stark verbreitet. Pferde wurden beidenorts in der bäuerlichen Wirtschaft kaum eingesetzt, allenfalls dienten Kühe als Zugtiere. Hühner hingegen gehörten fast überall zu einem Hof. In Obwalden spielte in der Sarner Ebene der vor allem im Zusammenhang mit der früheren Umstellung auf die Graswirtschaft entstandene Feldobstbau noch eine grosse Rolle. «Wie ein Wald» sollen damals die Obstbäume gestanden haben.14 Die Ernte war nicht so sehr Tafelobst für den Markt, sondern wurde selber frisch verzehrt oder eingekellert, ausserdem zu einem grossen Teil zu Most verarbeitet, gedörrt, zu Birnenhonig eingekocht und die Abfälle schliesslich zu Schnaps veredelt. Ferner gehörte in Obwalden, ausgenommen in den höheren Lagen, ein Gemüsegarten fast obligatorisch zu einem Bauernhof und spielte wie das Obst eine grosse Rolle für die Selbstversorgung. Auch hier hatte der Zweite Weltkrieg impulsgebend gewirkt; auch Nichtbauern pflanzten damals Gemüse, um den mageren Speisezettel zu bereichern. In Appenzell hingegen gab es, abgesehen von dem tief gelegenen Gebiet um Haslen und vereinzelten sonstigen Apfelbäumen, keinen Obstbau, obschon er von Behörden und bäuerlichen Organisationen immer wieder propagiert wurde. Auch grössere Gemüsegärten fand man dort nach den Nöten der Kriegsjahre kaum mehr.15 Die Appenzeller bezogen Obst, Gemüse und Kartoffeln schon immer vorzugsweise aus dem St. Galler Rheintal;16 deren Konsum beschränkte sich bei den Bauernfamilien aber ohnehin auf ein Minimum. In Obwalden ging der Obstbau in den 1960er-Jahren massiv zurück. Gründe dafür waren die Mechanisierung (Mähmaschinen), der Arbeitskräftemangel, die Verwertungsprobleme und schliesslich die staatlich geförderten Rodungsaktionen.
Auf den zweiten Sektor wird später im Zusammenhang mit der Arbeitsethik und dem Nebenerwerb vor allem der Frauen noch einzugehen sein.17 Hier sei vorerst erwähnt, dass er, verglichen mit der übrigen Schweiz, in unseren beiden Untersuchungsgebieten eine geringe Rolle spielte. Selbstverständlich war das für den Bedarf der Bauern und der übrigen Bevölkerung notwendige Handwerk vorhanden, es konzentrierte sich aber vor allem in Appenzell auf den Hauptort. Insgesamt waren in der Nachkriegszeit die beiden Kantone vielmehr noch Musterbeispiele von weitgehend agrarisch strukturierten Regionen, besonders Innerrhoden. In Obwalden gab es immerhin schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einige bedeutendere Betriebe des metallund holzverarbeitenden Gewerbes (Parkettfabriken und Möbelschreinereien), dazu eine grosse Hutfabrik, die zusammen einige hundert Arbeiter und Arbeiterinnen (die Heimarbeit nicht mitgerechnet) beschäftigten. Ab 1957 kam noch die Kunststoffindustrie dazu, schon durch die von ihr hergestellten Produkte ein Symbol des Umbruchs. Bereits 1952 wollte ausserdem die Regierung Obwaldens den nichtlandwirtschaftlichen Sektor durch einen besonderen Delegierten für Wirtschaftsförderung stärker entwickeln. In Appenzell wurde 1955 eine entsprechende Kommission ins Leben gerufen.