Peter Hersche

Agrarische Religiosität


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die Männer und Frauen beschäftigten. Die Heimarbeit der Handstickerei, die zwar schon in der Zwischenkriegszeit stark zurückgegangen war, dominierte vorderhand noch. Ferner existierte im Dorf Appenzell ein stark bäuerlich inspiriertes Kunsthandwerk (Weissküferei, Haarflechterei, Drechslerei, Bauernmalerei, Herstellung von Antikmöbeln und Schellenriemen).18

      Im Dienstleistungssektor spielte der Tourismus in beiden Regionen schon länger eine gewisse Rolle. Dies obschon er von der herrschenden bäuerlichen Schicht nicht immer gern gesehen wurde, etwa wenn Touristen gedankenlos durch hohes Gras wanderten oder ihre Hunde frei laufen liessen.19 Auch die Geistlichkeit äusserte vielfach Vorbehalte, weil sie in der lockeren Kleidung der Fremden und ihren Wünschen nach Schwimmbädern und Tanzunterhaltungen ernste Gefahren für die Sittlichkeit sahen.20 Die Obwaldner Franz Josef Bucher und sein Schwager Josef Durrer waren industrielle Unternehmer, Bahnbauer, Hoteliers und Tourismuspioniere, wie sie sonst nur in den Städten und bei den Protestanten auftraten. Doch handelte es sich bei ihnen um Ausnahmeerscheinungen, wenn auch der Obwaldner im Allgemeinen immer als etwas regsamer als der benachbarte Nidwaldner geschildert wurde. Regsam war indes auch der Appenzeller, aber er betätigte sich doch in einem viel engeren Kreis, etwa durch den Verkauf von Stickerei in den berühmten Badeorten des In- und Auslandes. In Obwalden gab es in den höher gelegenen Ortschaften einige alte Kur- und Erholungshäuser. Erwähnt werden muss hier auch der religiöse Tourismus, der nach der Heiligsprechung von Bruder Klaus (1947) mit seiner Geburtsstätte und seiner Klause in Flüeli- Ranft und seinem Grab in Sachseln grössere Ausmasse annahm. Am wichtigsten war aber doch Engelberg, wo schon 1883 ein Kur- und Verkehrsverein gegründet wurde, und nach dem Bahnbau von 1898 das Dorf bereits um die Jahrhundertwende ein beliebter und mondäner Kurort und insbesondere einer der frühesten Plätze des sich danach stark entwickelnden Wintersports war.21 Diese massive Veränderung stand in einem gewissen Gegensatz zur Tradition des Klosterstaats und führte auch zu Konflikten, insbesondere weil die Touristen den strengen kirchlichen Moralvorstellungen nicht entsprachen. Andererseits profitierte das immer noch einflussreiche Kloster materiell vom Tourismus.22 In Appenzell hingegen waren die früher beliebten Molkenkuren schon vor dem Ende des 19. Jahrhunderts aus der Mode gekommen. Dasselbe Schicksal ereilte etwas später einige kleinere Bäder (Weissbad, Gontenbad, Jakobsbad). Nach 1945 herrschte vor allem Tagestourismus vor, war die Bergwelt des Alpsteins doch von den grösseren städtischen Siedlungen der Ostschweiz bis zum Bodensee aus relativ rasch erreichbar. Der im Laufe der 1950er-Jahre beginnende Bau von touristischen Infrastrukturanlagen (Skilift Sollegg, Ebenalpbahn, Campingplätze, Ferienhaussiedlungen usw.) markierte einen deutlichen Umbruch.

      Die übrigen Dienstleistungsberufe fielen in beiden Kantonen zahlenmässig kaum ins Gewicht: Akademiker, Lehrer, Beamte, kaufmännische Angestellte, Post- und Bahnpersonal und so weiter beschränkten sich auf das notwendige Minimum. Die Lehrerschaft bestand zu einem grossen Teil aus geistlichen Personen beiderlei Geschlechter, worauf noch zurückzukommen sein wird.23 Besonders in Innerrhoden wurde ausserdem der Beamtenapparat der Verwaltung noch ausgesprochen schmal gehalten.24

      1.4 Politik

      Damit sind die politischen Verhältnisse angesprochen, wobei der geschichtliche Hintergrund bis zum 20. Jahrhundert hier weitgehend vernachlässigt werden muss.25 Dass es sich bei beiden Untersuchungsgebieten rechtlich um Halbkantone handelt, ist zufällig und hat für das Folgende kaum Bedeutung. Unterwalden war schon im Mittelalter in Ob- und Nidwalden getrennt, wobei wichtig ist, dass diese Teilung hinsichtlich der Ämterbesetzung und der Finanzen effektiv eine Drittelung war, indem dem volkreicheren Obwalden zwei Drittel zukamen. Das heisst es trug zu den Staatsausgaben doppelt so viel bei, partizipierte aber auch entsprechend an den Erträgen. Diese waren früher hoch, weil sie vor allem aus den Gemeinen Herrschaften der Alten Eidgenossenschaft kamen, in die die Obwaldner doppelt so viele Landvögte wie die Nidwaldner bestellen konnten. In Appenzell ging die Teilung auf die konfessionellen Kämpfe zurück. 1597 einigten sich die Konfliktparteien auf eine friedliche Lösung: Die im Kern des Landes vorherrschenden Katholiken bildeten zusammen mit der Exklave Oberegg den Halbkanton Innerrhoden, der grössere, protestantische Teil im Westen, Norden und Nordosten nannte sich fortan Ausserrhoden. Wie wir noch sehen werden, hatte dies auch auf dem nichtreligiösen Feld einschneidende Folgen, insbesondere die, dass sich Ausserrhoden schon früh industrialisierte, während Innerrhoden fast rein agrarisch blieb.26 Auf der politischen Ebene änderte sich aber wenig. Appenzell und Obwalden waren nach dem Zweiten Weltkrieg noch sogenannte Landsgemeindekantone. Das bedeutete, dass die höchste Gewalt im Staat bei der jeweils im Frühjahr im Freien stattfindenden altertümlichen Versammlung der stimmfähigen Männer lag. Dort wurden mit offenem Handmehr die Behörden gewählt und über Sachfragen, ebenso wie über die Aufnahme ins Landrecht (Einbürgerungen) entschieden. Die laufenden und weniger wichtigen Geschäfte wurden im nur verhältnismässig selten zusammentretenden Grossen Rat, dem Parlament, debattiert und, soweit sie nicht in die Kompetenz der Landsgemeinde fielen, dort entschieden. Die Regierungen waren reine Vollzugsorgane.

      Obwalden war allerdings verfassungsrechtlich etwas «moderner», auch verliefen hier die politischen Kämpfe lebhafter als in Appenzell. Die Landsgemeinde hatte schon seit 1922 nur noch eingeschränkte Kompetenzen, insbesondere bei Gesetzesvorlagen nur noch beratende Funktion, die Abstimmung erfolgte geheim an der Urne. Immer wieder wurde die Abschaffung der Landsgemeinde vorgeschlagen, sie erfolgte dann endgültig 1998. Eine vorerst 1947 noch gescheiterte Totalrevision der Verfassung kam 1968 zustande; sie zeigte das Bemühen, mit der allgemeinen politischen Entwicklung Schritt zu halten. Neben der in allen mehrheitlich katholischen Kantonen führenden konservativen Partei gab es in Obwalden auch eine oppositionelle liberale, die Partei der «Fortschrittler», die im Schnitt immer etwa ein Viertel der Sitze im Grossen Rat innehatte und auch über ein eigenes Presseorgan verfügte.27 Die Gemeindeautonomie war sehr ausgeprägt. Viele wichtige, andernorts meist dem Staat und der Einwohnergemeinde übertragene Aufgaben wurden indes von den Bürgergemeinden28 und verschiedenen Korporationen übernommen. Diese waren ähnlich demokratisch strukturiert wie der Kanton und die Einwohnergemeinden und auf vielen Gebieten tätig, umso mehr als sie – anders als die Einwohnergemeinden – meist auch finanziell gut situiert waren. Mehr als nur ein geografischer Sonderfall war die Gemeinde Engelberg in Obwalden. Zwar war die weltliche Macht des als geistliche Institution weiter bestehenden Benediktinerstifts schon lange dahin, aber auf anderen Gebieten bestimmte das Kloster die Geschicke der Talschaft nach wie vor stark mit. So etwa in wirtschaftlicher Hinsicht durch den enormen, ihm verbliebenen Grundbesitz, der zum grössten Teil verpachtet wurde, ebenso wie die vielen zum Kloster gehörigen Wälder und die Alprechte, von denen es ebenfalls die weitaus grösste Besitzerin war. Das Stift hatte auch eine lokale Bank initiiert (der Schalter war zuerst im Kloster selbst) und betrieb zuerst ein eigenes Elektrizitätswerk. Es übte nach wie vor die Pfarrrechte aus und stellte die einzige höhere Bildungsanstalt im Ort. Eine gewisse Untertanenmentalität hielt sich infolgedessen bis in die Nachkriegszeit; für ältere Leute war der Abt auch damals noch der «Gnädige Herr».29

      Innerrhoden hingegen wies verfassungsrechtlich in der Nachkriegszeit zum Teil noch im Mittelalter verwurzelte archaische Züge auf. Die immer noch geltende, sehr kurz gehaltene Verfassung von 1872 hatte nur die allernotwendigsten Anpassungen ans Bundesrecht vollzogen. Die Existenz und die Stellung der Landsgemeinde als souveräne «höchste Gewalt» war zu keiner Zeit bestritten (während sie in Ausserrhoden schliesslich 1997 abgeschafft wurde). Eine europaweit beachtete Diskussion gab es bloss mit der Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Die Innerrhoder lehnten es mehrmals ab, bis das Schweizer Bundesgericht 1990 die zwangsweise Einführung befahl. In der Folge gab es für die nun an der Landsgemeinde zugelassenen Frauen papierene Stimmrechtsausweise. Vorher war für die Männer der einzige Ausweis der Teilnahmeberechtigung das «Seitengewehr» gewesen: der umgehängte Degen, Säbel oder das Bajonett als Zeichen des volljährigen wehrfähigen Bürgers. Bemerkenswert war ferner, dass Montesquieu damals Innerrhoden noch nicht erreicht hatte: Die Gewaltenteilung existierte nur hinsichtlich der Justiz, war aber sonst unvollständig, weil die Regierung mit vollem Stimmrecht auch im gesetzgebenden Grossen Rat sass. Dieser bestand im Übrigen nicht wie überall sonst aus gewählten