Mächte des Westblocks in der nächsten Zukunft nicht imstande wären, einem russischen Vormarsch irgendwie nennenswerte Erdstreitkräfte entgegenzustellen. Die Russen dürften von vornherein in der Lage sein, allein durch Deutschland mit über 100 Divisionen und wohl etwa 40 Panzerbrigaden zu operieren, ohne hiefür wesentlich frisch mobilisierte Kräfte einzusetzen.» Die Schweiz hätte laut dieser Studie Zeit, «rechtzeitig zu mobilisieren und unsere ersten Massnahmen zu treffen, da die Russen immerhin mehrere hundert Kilometer von unserer Grenze entfernt stehen». Und falls alle Stricke reissen würden: «Im letzten und schlimmsten Falle, nämlich wenn es den Russen gelingen sollte, nicht nur ganz Frankreich, sondern auch noch ganz Oberitalien zu besetzen, würde immer noch der Rückzug ins Reduit als letzte Möglichkeit bleiben.»45 Gerade hoffnungsvoll war diese Strategie nicht.
Schon während des Kriegs stritten sich die Schweizer Militärstrategen heftig, wie die Armee einzusetzen sei. Während die einen die Doktrin des Bewegungskriegs nach deutschem Vorbild vertraten, suchte die andere Seite die spezifischen Vorteile der Topografie mit einer defensiv ausgerichteten Infanteriearmee auszunützen. In diesem «Konzeptionsstreit», der insbesondere in den 1950er-Jahren heftig tobte, standen sich die «Statiker» um Alfred Ernst und die Zürcher Offiziersgruppe um Georg Züblin gegenüber. Diese vertrat das Nato-Konzept der «Mobile Defense», einer mobilen Verteidigung mit starken Panzerkräften, mechanisierten Divisionen mit hoher Feuerkraft und einer Luftwaffe mit 800 Flugzeugen, was der 1955 als Bundesrat gewählte EMD-Chef Paul Chaudet unterstützte. Auch die 1958 gegründete Landesverteidigungskommission schwenkte auf diesen Kurs ein; im EMD blieb das Konzept aber bis in die 1960er-Jahre hinein umstritten. Dieses Konzept hätte die Finanzkraft der Schweiz bei Weitem überschritten.
Die Zürcher Gruppe, die in der Tradition eines Generals Ulrich Wille stand, war überzeugt, dass ein Gegner nur mit ebenbürtigen Mitteln wirksam bekämpft werden könnte, weshalb die Schweiz gezwungen sei, den internationalen technischen Fortschritt nachzuvollziehen. Mit der Truppenordnung 61 (TO 61) setzte sich diese Gruppe durch. Die TO 61 sah eine hoch mechanisierte und technologisch auf den neuesten Stand gesetzte Armee vor, die mit jedem Gegner des Aggressors ein Bündnis eingehen konnte, also anschlussfähig an die Nato war.46 Zwar wehrte sich der bürgerliche Teil des Parlaments gegen den Vorwurf, man wollte eine «kleine Nato-Armee» schaffen, dennoch wurde im Ostblock die Truppenreform als Annäherung an die Nato und als Missachtung der Neutralität verstanden.47 Für die PdA kam die TO 61 einer «Totalliquidation der Neutralität» gleich.48 Die beschränkten Budgets verhinderten allerdings einen Ausbau nach Nato-Vorbild.49 Die Visionen der Zürcher Gruppe sollten in einem Debakel enden.
Die Statiker waren realistischer, insbesondere bezüglich der finanziellen Möglichkeiten. Ihr Konzept, basierend auf dem Milizsystem, sah einen defensiv, vorwiegend mit Infanterie geführten Abwehrkampf vor, der die Vorteile des Geländes ausnützte. Die Anhänger der «Mobile Defense» sprachen vom Reduit als einer «Mausefalle», während die vermeintlich rettende Funktion dieser Strategie im Volk breite Resonanz fand. Vorläufig setzten sich die Anhänger der «Mobile Defense» durch, was sich in einem Ausbau der Panzerkräfte in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre zeigte. Doch noch bis zum Ende des Jahrzehnts war die Schweizer Armee eine ausgesprochene Infanteriearmee. Zur Aufmunterung der Fusstruppen stellte Das Soldatenbuch von 1958 fest: «Alle Ärzte und Erzieher sagen, dass der Marsch die natürlichste und gesündeste Sportart sei.»50
Der Beitrag der Armee zur Verteidigung des Landes während des Kriegs war in der öffentlichen Wahrnehmung unbestritten, derjenige der Rüstungsgeschäfte, der Finanztransaktionen und Raubgoldgeschäfte zugunsten von Nazi-Deutschland unbekannt, weshalb das Prestige der Armee in den Jahren nach dem Krieg so gross war wie wohl nie mehr. Das Gemeinschaftserlebnis des Aktivdienstes zur Verteidigung von Neutralität und Unabhängigkeit war zudem für die beteiligten Wehrmänner in höchstem Mass identitätsstiftend. Es kam dazu, dass die – auch staatlich geförderte – Erinnerungskultur den vermeintlich alleinigen Beitrag der Armee zur Bewahrung der Unabhängigkeit während Jahrzehnten überhöhte. Der breiten Bevölkerung blieben die Mängel in der Armee weitgehend verborgen.
Abrüstungsinitiativen: Ein Bürgerlicher irritiert
Weil der Bundesrat nach dem Krieg Defizite in der Ausrüstung erkannt hatte, legte er ein massives Rüstungsprogramm für die Jahre 1951–1956 auf, das auch die Sozialdemokraten mittrugen. Umso irritierender, für viele landesverräterisch, musste es scheinen, dass nun ein bürgerlicher Journalist und Satiriker, ein ehemaliger Stadtschreiber von Lausanne, Mitglied der Freisinnigen Partei, auftrat und 1954 eine Initiative zur Beschränkung der Rüstung lancierte. Der Jurist Samuel Chevallier und sein Kollege L. Plomb verlangten im später als «Chevallier-Initiative» bezeichneten Volksbegehren (Volksinitiative für eine Rüstungspause) eine Reduktion der Armeeausgaben um 50 Prozent auf 500 Millionen Franken. Die eingesparten Mittel sollten zur Hälfte für soziale Aufgaben im Inland und für den Wiederaufbau der kriegszerstörten Nachbarländer eingesetzt werden. 84 500 Stimmberechtigte unterschrieben die als «oeuf de colombe» bezeichnete Initiative, wobei gut 70 Prozent der Unterschriften aus der Westschweiz stammten. Unterstützt wurde die Initiative von der PdA, Teilen der Gewerkschaften, einzelnen SP-Sektionen, nicht aber vom Parteivorstand der SPS.
Die Initiative erschreckte die bürgerlichen Politiker, machte sie doch deutlich, dass es selbst in ihrem Lager Armeekritiker gab. Sie wurde als Angriff auf die Armee und als Ausgeburt von Defätisten interpretiert. So zitierte die NZZ unter dem Titel «Anschläge auf die Wehrkraft» den Schweizerischen Unteroffiziersverband (SUOV). Dieser «erwartete von den verantwortlichen Behörden und den ihrer Verantwortung bewussten Volksvertretern in den eidgenössischen Räten, dass sie allen defaitistischen Versuchen zur Schwächung unserer Wehrkraft entgegentreten und der Ansicht zum Durchbruch verhelfen, dass die Verteidigung unserer schönen und freien Heimat auch entschieden selbst die grössten Opfer wert ist».51 Für das bürgerliche St. Galler Tagblatt ist «kaum je eine Initiative lanciert worden, die in einem solchen Ausmasse utopisch ist und ihr Ziel verfehlen würde, wenn sie eine Mehrheit finden sollte».52 Die NZZ holte, wie später noch oft, die Antikommunismus-Keule hervor. «Sie grenzt in der Tat vielmehr verdächtig nahe an Defaitismus gefährlichster Art, und es ist deshalb kein Zufall, dass sie von den Kommunisten, diesen erklärten Feinden unserer Demokratie und Freiheit, freudig begrüsst wird.»53 In mehreren Artikeln schoss die NZZ ein Sperrfeuer gegen die Initiative ab. Doch auch die Linke unterschied sich rhetorisch kaum von den bürgerlichen Gegnern. Das sozialdemokratische Volksrecht bezeichnete sie als «unsinnige Initiative», die für die Reputation der Schweiz ein Unglück wäre. Diese Zeitung ging sogar weiter als bürgerliche und spielte auch auf den Mann. Die Initiative sei «eine Aktion der äussersten Rechten; Chevallier war ein Bewunderer Mussolinis und bekennt sich heute noch in seinem Witzblatt Le Bon Jour als Verächter der Demokratie».54
Der Bundesrat beschäftigte sich an mehreren Sitzungen mit der Initiative, beschloss, dass sie trotz Formfehlern gültig sei, erklärte sie aber dennoch für ungültig, weil sie praktisch undurchführbar sei.
Das Parlament erklärte die Initiative im Dezember 1955 für ungültig: der Ständerat mit 29 zu 5 Stimmen, der Nationalrat äusserst knapp mit 83 zu 82 Stimmen. Migros-Gründer und LdU-Nationalrat Gottlieb Duttweiler war es nicht wohl bei diesem Entscheid. Er hatte «das Gefühl, dass mit dem Feuer gespielt werde. Wir dürfen im Volke nicht ein gefährliches Klima schaffen, indem wir die Initiative nicht unterbreiten. Lassen wir das Volk entscheiden; es ist nicht so unvernünftig».55
Weil sich abzeichnete, dass die Initiative nicht vors Volk käme, wurde schon vor der Parlamentsdebatte mit der Sammlung von Unterschriften für eine zweite Initiative («zur Begrenzung der Militärausgaben») begonnen, die ebenfalls die Militärausgaben auf 500 Millionen Franken beschränken wollte. Was darüber hinausging, war per Abstimmung dem Volk zu unterbreiten. Zudem solle der Bund ein Zehntel der Militärausgaben hälftig für soziale und kulturelle Zwecke im In- und Ausland verwenden. Dieses Volksbegehren kam in kurzer Zeit mit 68 400 Unterschriften zustande. Diesmal stellten die Gegner nicht nur ein prominent besetztes Gegenkomitee mit General Henri Guisan an der Spitze zusammen, sie fuhren grobes rhetorisches Geschütz auf: Sie stellten die Initiative verstärkt in den Kontext einer kommunistischen