entdeckte, ist klimatisch stark von jahreszeitlich wechselnden Winden bestimmt. In den Frühlingsund Sommermonaten dominiert der Westwind: wohltuend an heißen Sommertagen, doch nicht selten auch forsch und ungemütlich. Die Spezialität des Herbstes ist der Föhn. Er bläst aus dem Süden heran und rückt dabei die Berge heran und lässt sie messerscharf aufleuchten. An warmen Herbsttagen vibriert alles in einem überklaren, beinahe unwirklichen Licht. In den ersten Jahren meines Christwerdens faszinierte mich diese Lichterfahrung auch deswegen, weil sie mir das Bergereignis der Verklärung vor Augen stellte. Das Wahrnehmen sättigte sich mit biblisch inspirierter Imagination. Heute faszinieren mich stärker der warme Südwind selbst und seine merkwürdige Wirkmacht. Wenn er mich an einem dieser hellen Tage sanft berührt, kommt es mir so vor, als bringe er mir eine Botschaft von jenseits der Berge, deren Sinn ich nur erahnen kann.
Der Metaphorik des Windes wohnt ein kreatives Potenzial ein, das wunderbarerweise bis heute nicht aufgebraucht ist, obwohl die abendländische Geistesund Spiritualitätsgeschichte seit zweieinhalbtausend Jahren von seinem Honig zehrt. Unerschöpflich sind die Qualitäten der Luft und der Winde. Das eröffnet ein Spiel von Bezügen. Wo von Spiritualität gesprochen wird, steht jeweils ein Aspekt dieses metaphorischen Spektrums im Vordergrund. Nicht selten wird heute der energetische Bedeutungsaspekt betont. Spiritualität hat mit Energie zu tun, mit Kräften, die uns bewegen und bestimmen. In philosophischen Zusammenhängen wird meist stärker die Lichtmetaphorik und das inspirative Moment hervorgehoben. GEIST & LEBEN betont im Titel stärker den ersten Aspekt, den energetischen. Biblisch liegt die Rede GEIST & WAHRHEIT (Joh 4,24) ebenso nahe. Beide Aspekte, für die diese Leitworte stehen, sind gleichermaßen wichtig. Sie finden sich auch in der vorliegenden Ausgabe: Gottes Geist ist die vitalisierende Kraft göttlicher Gegenwart und ebenso der „Webmaster heilvoller Wahrheit“ (Kurt Erlemann).
Bestätigt sich aber, wenn man den Bildgehalt heutiger Rede von Spiritualität ins Auge fasst, nicht genau das, was in den letzten Jahren vielfach bemerkt und kritisiert wurde: dass es sich dabei um einen begrifflichen Container handelt, in den jeder und jede das hineinpacken kann, was ihm/ihr gerade in den Kram passt – oder vielleicht billig entsorgen möchte? Vor dem Hintergrund der Spiritualitätsgeschichte lassen sich in gegenwärtigen Spiritualitätskonzepten viele Reprisen entdecken. Das energetische und das weisheitliche Verständnis bilden darin zwei Hauptlinien. In bildhafter Sprache lassen sie sich besser zusammenhalten als in begrifflicher Sprache, in der es sich aufdrängt, scharf zwischen Geistigem und Körperlichem zu unterscheiden. Demgegenüber versteht die Bibel die Geist-Wind-Energie als verbindende Wirklichkeit. Sie ist materiell und immateriell zugleich – oder, als göttliche Leuchtkraft – jenseits dieser Unterscheidung. Was am heutigen Spiritualitätsbegriff beklagt wird, trifft damit, zumindest teilweise, bereits für die biblische Rede vom Geist zu. Sie dient als Gefäß für sehr Verschiedenes, gar für Gegensätzliches. Sie bezieht sich nicht allein auf Göttliches und Menschliches, sondern auch auf Widergöttliches und Unmenschliches. Dass damit eine Unbestimmheitszone eröffnet wird, mag beunruhigen. Doch gerade die Leerstellen sind das Erfolgsgeheimnis dafür, dass sich die Geistmetaphorik trotz intensivem Gebrauch bisher nicht verbraucht hat.
Das belegt auch das vorliegende Heft. Aufmerksame Leserinnen und Leser werden auf den folgenden Seiten nicht allein auf die Gender-Frage stoßen, die sich im Zusammenhang der göttlichen Geistkraft stellt, sondern ebenso beide Leitdimensionen der Geistmetaphorik entdecken: die energetische und die weisheitliche. Mit Blick auf Maria von Oignies, Christian Lehnert und Andreas Knapp wird die Kraft von Bildern und poetischen Bildworten vergegenwärtigt, im Ausgang an Johannes Cassian die Kraft der Leidenschaft. Auf der anderen Seite geht es um weisheitliche Denkformen im 20. Jahrhundert, für welche die Namen Simone Weil und Paul Ricœur stehen. Der Name Hugo Balls schließlich, steht für eine originelle Synthese, die im Rückgriff auf Dionysius Areopagita demonstriert, wie altehrwürdige spiritualitätstheologische Traditionsbestände sich in Krisensituationen plötzlich als Ressourcen widerständigen Denkens und Schaffens entpuppen.
N
Cornelius Roth | Fulda
geb. 1968, Priester, Professor für Liturgiewissenschaft und Spiritualität an der Theol. Fakultät Fulda
„Man muss drinnen und draußen stehen“
Christussehnsucht und Kirchenkritik bei Simone Weil
Eine Hinwendung der Kirche zu jenen, die am Rand stehen, an der Peripherie der Gesellschaft und der Kirche, hat Papst Franziskus seit seinem Amtsantritt häufig angemahnt. Er selbst überschreitet mit seinen Aussagen immer wieder die Grenzen der Kirche und geht auf Außenstehende zu. Zeit ihres Lebens verstand sich auch die französische Philosophin, Soziologin und Mystikerin Simone Weil (1909–1943)1 als jemand, der an der Schwelle der Kirche steht, „am Schnittpunkt des Christentums mit allem, was es nicht ist“, und zwar aus Liebe zu allem, was außerhalb von ihr liegt: „Immer bin ich genau an dieser Stelle geblieben, auf der Schwelle der Kirche, ohne mich zu rühren, unbeweglich, ἐν ὐπομονᾖ (ein wie viel schöneres Wort als patientia!); nur dass nunmehr mein Herz, wie ich hoffe für immer, in das Allerheiligste versetzt worden ist, das auf dem Altar ausgesetzt ist.“2
Es hat den Anschein, dass es bei ihr manchmal mehr ein Hin- und Herpendeln bzw. ein Überschreiten der Grenzen als das gläubige Ausharren an einer Schwelle ist. Denn in vielen Ausführungen zu ihrer Christusmystik überschreitet sie eindeutig die Schwelle zur Kirche hin und begibt sich in die Fußspuren großer Heiliger (v.a. Franz von Assisi und Johannes vom Kreuz). In anderen Gedanken wiederum steht sie offensichtlich ganz außerhalb der Kirche und des Christentums, betrachtet sie gleichsam von außen als Institution, die totalitäre Züge hat und nur de jure, aber nicht de facto katholisch ist, weil sie Menschen anderer Meinung verfolgt und v.a. keinen Sensus für die göttlichen Spuren außerhalb ihrer institutionellen Verfasstheit entwickelt hat. An Gustave Thibon kann sie deshalb schreiben: „Für den Augenblick wäre ich eher geneigt, für die Kirche zu sterben als in sie einzutreten – falls sie es nächstens nötig hätte, dass man für sie stirbt. Sterben, das verpflichtet zu nichts, wenn ich so sagen darf; es schließt keine Lüge ein.“3
Auch wenn man nicht der Versuchung erliegen sollte, bei Weil das oberflächliche Schema: „Gott/Christus ja – Christentum/Kirche nein“ anzuwenden, scheint sie in gewisser Weise immer wieder einen Keil zwischen Gott und Jesus Christus auf der einen und dem von der Macht korrumpierten Christentum und der Kirche auf der anderen Seite zu treiben. Sie liebt Christus über alles und begeht im Gedanken an das Kreuz, wie sie selber schreibt, die „Sünde des Neids“ (UG 69). Dem institutionalisierten Christentum hingegen steht sie skeptisch bis ablehnend gegenüber – es sei denn, man betrachtet die Kirche als Bewahrerin der Sakramente, in denen auch für Weil das göttliche Heil liegt.4 So wird sie mitunter sogar als Kirchenlehrerin und Heilige interpretiert, die das „Draußen (…) ins Herz der Kirche hereingeholt“ hat, v.a. wenn man annimmt, dass sie kurz vor dem Tod doch noch von ihrer Freundin Simone Deitz getauft wurde.
Im Folgenden soll zunächst die Gottesliebe bzw. Christussehnsucht Weils thematisiert werden, denn ihre eigenen mystischen Erfahrungen, die auch von liturgischen Erfahrungen geprägt waren, bilden den Hintergrund, vor dem dann in einem zweiten Teil die Kirchen- und Christentumskritik zur Sprache kommen kann. Hier zeigt sich bei ihr eine eigenartige Widersprüchlichkeit, die nicht ganz aufgelöst, aber doch für heutige Diskussionen fruchtbar gemacht werden kann.
Berührungen mit Christus
Obwohl Simone Weil bis zu ihren ersten Erfahrungen mit Christus nie irgendwelche Mystiker(innen) gelesen hatte, beschreibt sie ihre Gotteserfahrung in einer Sprache, die an die mystische Tradition der Kirche anknüpft.5 Näherhin sind es zunächst drei „Berührungen“ mit dem katholischen Glauben, drei im weitesten Sinn liturgische