Eine solche Verweltlichung und Politisierung reicht bis in die Eschatologie: „Wie sehr muss das Römische Reich das Christentum vergiftet haben, damit sie das Paradies wie den Hof eines Kaisers beschreiben?“20 Spätestens mit Konstantin habe die Kirche eine Macht gewonnen, die zur Folge hatte, dass sie ihre spirituelle Kraft – die sie in den ersten Jahrhunderten im Dialog mit der griechischen (v.a. platonischen) Philosophie noch hatte – mehr und mehr verlor.
Daneben kritisiert Weil v.a. das hebräische Denken, das für sie nationalistische Züge hat. Nur einige Stellen von Ijob, Jesaja, Daniel, Ezechiel und aus den Psalmen lässt sie als kompatibel mit der „wahren Religion der Liebe“ gelten. Das Grundproblem der Kirche liegt für Weil darin, dass „Israel und Rom dem Christentum ihren Stempel aufgedrückt [haben], Israel dadurch, dass das Alte Testament als heiliger Text übernommen wurde, Rom dadurch, dass es das Christentum zur Staatsreligion machte, was dem gleichkam, wovon Hitler träumte.“21 Damit haben beide zur Entwurzelung des Christentums beigetragen und die Kirche trägt heute durch die Mission zur Entwurzelung der Völker Afrikas, Asiens und Ozeaniens bei.
Damit verbunden ist ein zweiter beständiger Kritikpunkt Weils, den man mit der (fehlenden) Demut vor dem Geheimnis bezeichnen könnte. Diese ist in der Kirche immer dann nicht zu spüren, wenn man das Übernatürliche gleichsam in Gebote, Gesetze, Dogmen und Verbote pressen möchte. Einer zu engherzigen Theologie fehlt es für Weil am Respekt vor dem Universum, in dem Gott verborgen und gestaltlos zugegen ist. In diesem Sinn sprechen die Christ(inn)en (und zwar sowohl Katholiken als auch Protestanten) manchmal zu viel von den heiligen Dingen, wo sie diese besser im Schweigen anbeten sollten.
In diesem Zusammenhang ist auch auf die so gen. kontextuelle Theologie und die Diskussion um die pluralistische Religionstheologie hinzuweisen. Wo steht Weil in dieser Diskussion? Für eine inklusivistische Position spricht bei ihr, dass ihre persönliche mystische Beziehung und Verehrung für Christus größer war als die für Platon, Herodot, Dionysos, Buddha, Krishna, Osiris oder andere Offenbarer der göttlichen Wahrheit. Für einen Pluralismus bzw. Universalismus spricht hingegen, dass sie von ihrem philosophischen Denken her eindeutig die Position vertritt, dass Gott in allen Religionen und Kulturen präsent ist, ja sie bezeichnet Osiris und Krishna „vielleicht“ als Inkarnationen des Logos vor Christus.22
Auch wenn man Weil nicht in allen ihren Ausführungen hinsichtlich der Mystik folgen mag, verdient ihre Aussage, dass die Mysterien nicht „zu Gegenständen des Glaubens verkommen“23 dürfen, Zustimmung. Notwendig ist eine demütige, mystagogische Theologie, die sich von anderen Religionen und Kulturen berühren lässt, ohne ihr eigenes Proprium aufzugeben. Denn bei aller Offenheit für andere Religionen und Mythologien findet sich bei Weil immer auch eine klare Christozentrik: „Man sollte meinen, mit der Zeit wäre es so weit gekommen, dass nicht mehr Jesus, sondern die Kirche als der hienieden inkarnierte Gott galt.“24 Der Unterschied besteht für sie darin, „dass Christus vollkommen war, während die Kirche mit zahllosen Verbrechen besudelt ist“ (ebd.). Dem entspricht, dass nicht das Bild vom mystischen Leib Christi für sie entscheidend ist, sondern das paulinische vom in uns wohnenden Christus (Gal 2,20). Man kann auch ohne die „Freude, dem mystischen Leib anzugehören“, Christus treu sein bis in den Tod.
Weitherzigkeit hinsichtlich der Spendung der Sakramente wäre ein weiteres Motiv, das sich aus ihren Texten ergeben könnte. Die Kirche hat nach Weil nicht das Recht, Menschen, die aufgrund ihrer Vernunfteinsicht zu einer anderen Überzeugung in Glaubensfragen gekommen sind, die Sakramente zu verweigern, denn sie haben „vielleicht keine Sünde begangen“. Man darf „sie des Brotes des Lebens [nicht] berauben.“25 Andererseits schreibt sie, dass „das Amt der Kirche als kollektive Bewahrerin des Dogmas (…) unentbehrlich [ist]. Sie hat das Recht und die Pflicht, jeden, der sie in dem besonderen Bereich dieses Amtes ausdrücklich angreift, mit der Entziehung der Sakramente zu bestrafen.“26 Weil erkennt der Kirche also durchaus eine Schutzfunktion gegenüber falschen Lehren zu. Sie darf feststellen, dass manche Meinungen irrig sind. Aber sie darf niemanden zwingen, etwas zu glauben, was sie von ihrer Vernunfteinsicht nicht glauben und annehmen können. Es darf keine „Verpflichtung der Intelligenz“27 geben. Offen bleibt, wie sich die Kirche bei der Zulassung zu den Sakramenten gegenüber sündigen Menschen verhalten soll.
Trotz ihres tiefen Verständnisses für den Sinn des Sakramentalen zeigt Weil gelegentlich die Tendenz, den Sakramentenempfang synkretistisch zu spiritualisieren: „Alle, die die Nächstenliebe und die Hinnahme der Weltordnung, einschließlich des Unglücks im reinen Zustand besitzen, all diese, ob sie auch dem Anschein nach als Atheisten leben und sterben, sind gewiss gerettet (…) Sie sind neu geboren worden aus Wasser und Geist, auch wenn sie niemals getauft wurden; sie haben das Brot des Lebens gegessen, auch wenn sie niemals kommuniziert haben.“28 Nach ihr braucht der Mensch weder die reale Taufe noch die Kommunion. Er hat diese längst empfangen durch die Liebe und Sehnsucht nach dem Göttlichen und der Schönheit der Welt. Dennoch kann Weil nicht zur Anwältin einer liberaleren Praxis der Sakramentenspendung gemacht werden. Ihre Sicht geht über die rechtliche Frage der Zulassung hinaus und richtet sich auf den innersten Kern der Gottesbeziehung, der im Letzten unabhängig von kirchlichen Vorgaben ist.
Mystikerin innerhalb und außerhalb des Christentums
Die Widersprüchlichkeit in den Aussagen Weils in Bezug auf Christentum und Kirche bleibt auch nach dem Durchgang durch einige ihrer wichtigsten Schriften bestehen. Sie selbst bezeichnete sich als „Christin außerhalb der Kirche“29: „Ich habe immer als einzig mögliche Haltung die christliche Haltung angenommen. Ich bin sozusagen im christlichen Geist geboren, aufgewachsen und immer darin verblieben.“30 Dabei identifiziert sie sich besonders mit dem Katholizismus: „Wenn es eine religiöse Tradition gibt, die ich als mein Erbe ansehe, so ist es die katholische Tradition.“31 Insofern sie durchdrungen ist von der Liebe zum Gekreuzigten, insofern das Evangelium für sie die volle Wahrheit geheimnisvoll beschreibt und die Sakramente das Heil in Fülle enthalten, kann man Weil tatsächlich als Christin bezeichnen. Dies wird dadurch bestätigt, dass die Beschäftigung mit anderen Religionen und mystischen Traditionen des Ostens und der Antike letztlich in ihr die Liebe zu Christus verdoppelt haben.32
Dennoch wäre Weils „Christentum“ noch einmal näher zu bestimmen. Wenn es tatsächlich weniger im Katechismus und den Dogmen, sondern mehr in der Mystik und der Liturgie liegt, muss man fragen: Kann man diese beiden Seiten (anders formuliert: Amt und Charisma) so gegeneinander ausspielen? Muss an Weil nicht selbst die Frage gestellt werden, ob sie das Christentum, das immer kirchlich vermittelt ist oder eben nicht ist, überhaupt richtig verstanden hat? Umgekehrt hat sich die Kirche die Frage zu stellen, ob sie die Beschäftigung mit der christlichen Mystik und den mystischen Traditionen aller Zeiten nicht vertiefen müsste, um im Dialog mit anderen Religionen zukunftsfähig zu bleiben. Seit dem II. Vaticanum sind ermutigende Fortschritte gemacht worden, auch von lehramtlicher Seite (wenn man an die positiven Beurteilungen anderer Religionen der letzten drei Päpste denkt). In diesem Sinn ist ihr mystischuniversales „Christentum“ weiterhin inspirierend.
Weil bleibt eine Grenzgängerin zwischen dem Christentum und den mystischphilosophischen Traditionen anderer Völker und Zeiten. Sie steht auf ihre ganz eigene Weise an der „Peripherie“, am Rand, auf den wir nach den Worten von Papst Franziskus nicht nur in sozialer, sondern auch in religiöser und kirchlicher Hinsicht blicken sollen. Mit ihrer philosophischen Position bewegt sich Weil auf einer Schwelle, die es ihr erlaubt, den Blick von innen und von außen auf Kirche und Christentum zu lenken. Damit kann sie zu einer Horizonterweiterung beitragen und eine Art Anwältin einer „philosophischen Reinigung“ werden: „Die philosophische Reinigung der katholischen Religion hat nie stattgefunden. Um sie durchzuführen, muss man drinnen und draußen stehen.“33 Simone Weil stand mit ihrem Leben und Denken tatsächlich drinnen und draußen und kann damit heute Inspiration sein, um Brücken im interreligiösen Dialog zu schlagen und darüber hinaus den tiefen Schatz der eigenen mystischen Tradition neu zu entdecken.
1Zu ihrer Biographie vgl. S. Pétrement, La