ersten Dada-Abends betont er die öffentliche Dimension von Sprache: „Das Wort, das Wort, das Weh gerade an diesem Ort, das Wort, meine Herren, ist eine öffentliche Angelegenheit.“30 Dada ist zuerst einmal „der Bruch mit dieser Sprache, die Lautgedichte eine politische Aktion.“31 Denn „[b]ei der Sprache muss die Läuterung beginnen, die Imagination gereinigt werden.“32
In einer ersten Reaktion auf den Militarismus dient ihm die Sprache zur Produktion von inhaltlichem Nonsens. Anschließend geht er noch einen Schritt weiter und zerstört die semantische Ebene. Dies kündigt sich mit dem bruitistischen Krippenspiel an und findet schließlich Ausdruck in der genannten Aufführung von Verse ohne Worte am 23. Juni 1916 im Kostüm eines kubistischen Bischofs.33
Verse ohne Worte – oder Lautgedichte
„gadji beri bimba
glandridi lauli lonni cadori
gadjama bim beri glassala
glandridi glassala tuffm i zimbrabim
blassa galassala tuffm i zumbrabim (…)“.34
„Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden“35, schreibt Ball nach der Aufführung im Zürcher Cabaret Voltaire in sein Tagebuch, „(…) ‚Verse ohne Worte‘ oder Lautgedichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird. Die ersten dieser vier Verse habe ich heute Abend vorgelesen.“36 In seinem Tagebuch Die Flucht aus der Zeit beschreibt Ball die Inszenierung des Lautgedichts auf der Bühne und wie es ihm dabei ergangen ist.37 Er konstruiert sich für die Aufführung des Lautgedichts eigens ein obeliskenförmiges, blauglänzendes Kostüm aus Karton.38 Besondere Erwähnung findet in seiner Beschreibung der riesige, innen scharlachfarbene und außen golden beklebte Kragen aus Pappe, den er mit den Ellbogen flügelartig bewegen kann. Auf dem Kopf trägt er einen gestreiften Schamanenhut. Da sich Ball in seinem Kostüm nicht fortbewegen kann, wird er im verdunkelten Raum auf die Bühne getragen. Dort wendet er sich zuerst mit einigen „programmatischen Worten“39 an das Publikum. Auf drei Notenständern liegen die Manuskripte Gadj beri bimba, Zug der Elefanten und Wolken. Langsam und feierlich beginnt Ball das Lautgedicht zu sprechen. „Die Akzente wurden schwerer, der Ausdruck steigerte sich in der Verschärfung der Konsonanten. Ich merkte sehr bald, dass meine Ausdrucksmittel, wenn ich ernst bleiben wollte (und das wollte ich um jeden Preis) dem Pomp meiner Inszenierung nicht würden gewachsen sein (…). Ich hatte jetzt rechts am Notenständer ‚Labadas Gesang an die Wolken‘ und links die ‚Elefantenkarawane‘ absolviert und wandte mich wieder zur mittleren Staffelei, fleißig mit den Flügeln schlagend. Die schweren Vokalreihen und der schleppende Rhythmus der Elefanten hatten mir eben noch eine letzte Steigerung erlaubt. Wie sollte ich’s aber zu Ende führen? Da bemerkte ich, dass meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm, jenen Stil des Messgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes wehklagt. Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab (…) Einen Moment lang schien mir, als tauche in meiner kubistischen Maske ein bleiches, verstörtes Jungengesicht auf, jenes halb erschrockene, halb neugierige Gesicht eines zehnjährigen Knaben, der in den Totenmessen und Hochämtern seiner Heimatpfarrei zitternd und gierig am Munde des Priesters hängt. Da erlosch, wie ich es bestellt hatte, das elektrische Licht, und ich wurde vom Podium herab schweißbedeckt als ein magischer Bischof in die Versenkung getragen.“40
Wenige Monate später, am 8. Oktober 1916, während der Abendandacht im Tessiner Dorf Vira denkt Ball erneut über die Aufführung nach und schreibt dazu: „Mein Bischofskostüm und mein lamentabler Ausbruch bei der letzten Soiree beschäftigen mich. Der Voltairesche Rahmen, in dem das stattfand, war dafür wenig geeignet und mein Inneres nicht darauf vorbereitet. Das Memento mori der katholischen Kirche gewinnt in dieser Zeit eine neue Bedeutung. Der Tod ist die Antithese des irdischen Wirrwarrs und Plunders. Das steckt einem tiefer, als man weiß.“41
Dass Balls Reinigung der Sprache durch die Zerstörung der Semantik religiös durchdrungen ist, zeigt sich in der Darstellung als kubistischer Bischof und in der priesterlichen Lamentation.
Fotografie von Hugo Ball als kubistischem Bischof, möglicherweise aufgenommen von Sophie Täuber-Arp; zur Verfügung gestellt von der Hugo-Ball-Sammlung, Pirmasens.
Offenbarung Gottes in der Sprache
Ist die Semantik der alten verschmutzten Sprache nun zerstört, öffnet sich Ball in einer dritten Phase eine neue geläuterte Sprache, die sich zunächst in Stummheit äußert. Das Schweigen und die Stille entdeckt Hugo Ball, während rundum die Kanonen des Ersten Weltkriegs dröhnen und verwundete Soldaten schreien. Mit dieser akustischen Antithese zum Krieg wendet er sich einer spirituellen Innerlichkeit zu, dem Dichter entsprechend auf der sprachlichen Ebene. „Die Sprache Gottes bedarf nicht der menschlichen Sprache, um sich verständlich zu machen. Unsere vielgepriesene Seelenkunde reicht nicht hierhin. Eher noch die versunkene ächzende Stummheit der Fische. Die Sprache Gottes hat Zeit, viel Zeit, und Ruhe, viel Ruhe (…) Ihre Vokabeln sind über Laut und Schrift. Ihre Lettern zucken in jenen Kurven des Schicksals, die plötzlich mit einer Lichtflut durch unser Bewusstsein schneiden.“42 Die göttliche Sprache unterscheidet sich von der menschlichen wesentlich. Sie gleicht eher der „Stummheit der Fische“ und findet in einer anderen Zeitdimension statt. Trotz dieser Andersartigkeit kann sie unvermittelt ins Leben eindringen und das Bewusstsein erhellen. Dieses Einschneiden der göttlichen Sprache in das menschliche Bewusstsein hat nicht etwa Glückseligkeit zur Folge, sondern Leiden: „Die Sprache ist die Substanz im Menschenbereich, und zwar die Sprache Gottes (…) Das Göttliche Wort ist ein Ergreifen im Innersten. Eine Bewegung zu Gott hin, ein Erleiden Gottes ist die Folge. Wer am meisten erleidet, wird am meisten ergriffen sein. Je tiefer wir den Ruf vernehmen, desto tiefer leiden wir.“43 In diesem Erleiden findet Ball aus dem Schweigen zur Sprache zurück. Diese ist freilich nicht mehr dieselbe wie vor der Flucht nach Zürich, sondern die von ihm ersehnte geläuterte Sprache. Und diese Sprache führt ihn zuerst zum Gebet. „Mehr und mehr beginne ich zu begreifen, dass das Gebetbuch meine eigenste Sache in wenigen Sätzen enthält (…), dass man zur Kirche erst dann wahrhaft gehört, wenn man dieses Buch liest, als habe man es selbst geschrieben (…) Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und vielleicht vermag ihn kein Einzelner niemals zurückzulegen. Es ist gewiss so.“44 Aber er findet auch wieder zu einer Sprache als Dichter. „Das Zeichen des Christentums ist das Kreuz und sein Wesen der Gott-Mensch. Haben wir eine gekreuzigte Dichtung? Eine Dichtung, die aus dem göttlichen und dem menschlichen Leide zugleich geboren wird? Dichtung und Kreuz! Empfindet unsere Zeit hierbei nicht einen peinlichen Widerspruch?“45
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