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Geist und Leben 3/2015


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an dem die Frauen der Fischer mit brennenden Kerzen in den Händen in einer Prozession um die Boote zogen und altüberlieferte Gesänge anstimmten, die Weil beinahe das Herz zerrissen. „Niemals habe ich etwas so Ergreifendes gehört, außer dem Gesang der Wolgaschlepper. Dort hatte ich plötzlich die Gewissheit, dass das Christentum vorzüglich die Religion der Sklaven ist“ (UG 49). Eine zweite Erfahrung erzählt sie, die ihr 1937 in Assisi in der kleinen Kapelle in Santa Maria degli Angeli widerfahren ist, wo „etwas, das stärker war als ich selbst, mich zum ersten Mal in meinem Leben auf die Knie zu werfen“ zwang. Schließlich ist als spezifisch liturgische Erfahrung der Aufenthalt in Solesmes in den Kar- und Ostertagen 1938 zu nennen. Trotz bohrender Kopfschmerzen empfand sie in dem Kloster die „unerhörte[ ] Schönheit der Gesänge und Worte“ als eine „reine und vollkommene Freude“. Die schmerzende Anstrengung der Aufmerksamkeit führte sie zudem tief in die Passion Christi hinein und ermöglichte ihr, „die göttliche Liebe durch das Unglück hindurch zu lieben“ (UG 49).

      In Solesmes begegnete ihr auch ein junger Engländer, der sie auf ein Gedicht des englischen Dichters George Herbert aus dem 17. Jh. mit dem Titel Love aufmerksam machte. Im Zusammenhang mit diesem Text berichtet sie von einer mystischen Erfahrung im engeren Sinn: „Einmal, während ich es sprach, ist (…) Christus selbst herniedergestiegen und hat mich ergriffen“ (UG 50). Es war für Weil eine „wirkliche(n) Berührung, von Person zu Person, zwischen dem menschlichen Wesen und Gott (…) Im Übrigen waren an dieser meiner plötzlichen Übermächtigung durch Christus weder Sinne noch Einbildungskraft im geringsten beteiligt; ich empfand nur durch das Leiden hindurch die Gegenwart einer Liebe gleich jener, die man in dem Lächeln eines geliebten Antlitzes liest“ (UG 50f.). Später beschreibt Weil noch eine weitere tiefe spirituelle Erfahrung, und zwar im Zusammenhang mit dem von ihr so geliebten und regelmäßig auf Griechisch gebeteten Vater Unser: „Mitunter reißen schon die ersten Worte meinen Geist aus meinem Leibe und versetzen ihn an einen Ort außerhalb des Raumes, wo es weder eine Perspektive noch einen Blickpunkt gibt (…) Mitunter auch ist während dieses Sprechens oder zu anderen Augenblicken Christus in Person anwesend, jedoch mit einer unendlich viel wirklicheren, durchdringenderen, klareren und liebevolleren Gegenwart als jenes erste Mal, da er mich ergriffen hat“ (UG 54f).

      Die doppelte Liebe zur Schönheit der Schöpfung auf der einen sowie zu Kreuz und Leid auf der anderen Seite erklärt Weils starke Sympathie für Franziskus und Johannes vom Kreuz. Beide waren Poeten und Sänger der Schönheit und Liebe. Während aber Franziskus stärker für die Liebe zur Schönheit der Welt steht, ist Johannes vom Kreuz mit seiner Lehre der dunklen Nacht auch Gewährsmann für die Gotterfülltheit des Unglücks und Leids bis hinein in den Unglauben.

      Kritik an Kirche und Christentum