an dem die Frauen der Fischer mit brennenden Kerzen in den Händen in einer Prozession um die Boote zogen und altüberlieferte Gesänge anstimmten, die Weil beinahe das Herz zerrissen. „Niemals habe ich etwas so Ergreifendes gehört, außer dem Gesang der Wolgaschlepper. Dort hatte ich plötzlich die Gewissheit, dass das Christentum vorzüglich die Religion der Sklaven ist“ (UG 49). Eine zweite Erfahrung erzählt sie, die ihr 1937 in Assisi in der kleinen Kapelle in Santa Maria degli Angeli widerfahren ist, wo „etwas, das stärker war als ich selbst, mich zum ersten Mal in meinem Leben auf die Knie zu werfen“ zwang. Schließlich ist als spezifisch liturgische Erfahrung der Aufenthalt in Solesmes in den Kar- und Ostertagen 1938 zu nennen. Trotz bohrender Kopfschmerzen empfand sie in dem Kloster die „unerhörte[ ] Schönheit der Gesänge und Worte“ als eine „reine und vollkommene Freude“. Die schmerzende Anstrengung der Aufmerksamkeit führte sie zudem tief in die Passion Christi hinein und ermöglichte ihr, „die göttliche Liebe durch das Unglück hindurch zu lieben“ (UG 49).
In Solesmes begegnete ihr auch ein junger Engländer, der sie auf ein Gedicht des englischen Dichters George Herbert aus dem 17. Jh. mit dem Titel Love aufmerksam machte. Im Zusammenhang mit diesem Text berichtet sie von einer mystischen Erfahrung im engeren Sinn: „Einmal, während ich es sprach, ist (…) Christus selbst herniedergestiegen und hat mich ergriffen“ (UG 50). Es war für Weil eine „wirkliche(n) Berührung, von Person zu Person, zwischen dem menschlichen Wesen und Gott (…) Im Übrigen waren an dieser meiner plötzlichen Übermächtigung durch Christus weder Sinne noch Einbildungskraft im geringsten beteiligt; ich empfand nur durch das Leiden hindurch die Gegenwart einer Liebe gleich jener, die man in dem Lächeln eines geliebten Antlitzes liest“ (UG 50f.). Später beschreibt Weil noch eine weitere tiefe spirituelle Erfahrung, und zwar im Zusammenhang mit dem von ihr so geliebten und regelmäßig auf Griechisch gebeteten Vater Unser: „Mitunter reißen schon die ersten Worte meinen Geist aus meinem Leibe und versetzen ihn an einen Ort außerhalb des Raumes, wo es weder eine Perspektive noch einen Blickpunkt gibt (…) Mitunter auch ist während dieses Sprechens oder zu anderen Augenblicken Christus in Person anwesend, jedoch mit einer unendlich viel wirklicheren, durchdringenderen, klareren und liebevolleren Gegenwart als jenes erste Mal, da er mich ergriffen hat“ (UG 54f).
Bei aller Sympathie Weils für die Spiritualität Indiens und Chinas und deren gegenstandslosen Meditationspraktiken wird hier deutlich, dass sie selbst durchaus durch „Vehikel“ aus dem christlichen Traditionsraum wie die Liturgie, ein abendländisches Gedicht oder eben das Vater Unser zu ihren mystischen Erfahrungen geführt wurde, an deren Authentizität kaum ein(e) Weil-Forscher(in) zweifelt. Berühmt ist besonders der Prolog genannte Text, der in die Zeit zwischen der ersten mystischen Erfahrung in Solesmes und der Reflexion der weiteren personalen Christusbegegnungen in der Folgezeit (u.a. in Marseille) liegen muss. Ihrer Mutter gegenüber soll Weil diesen Prolog mit der Bemerkung übergeben haben, sie wünsche, dass dieser Text als erster erscheine, sollte von ihr jemals etwas veröffentlicht werden. Das zeigt die Bedeutung, die Weil selbst dieser Erfahrung zumaß. Im Stil der Liebesdialoge, die an das Hohelied und die Schriften der mittelalterlichen Frauenmystik erinnern, berichtet sie darin über ihre intime Beziehung zu Gott bzw. Jesus Christus.7
Kennzeichnend für Simone Weil ist – neben der Christozentrik –, dass sie diese Erfahrungen mit ihrer eigenen spezifischen Situation und ihrem Denken als „ungetaufte Christin“ verbindet. Die Sehnsucht nach der (nur geistig empfangenen) Kommunion und ihre Liebe zum gesamten Universum treten aus solchen Texten deutlich hervor. Gleichzeitig geht sie über die rein äußere Beschreibung ihres Erlebnisses hinaus und schaut auf die Berührung Gottes mit der Welt. Hier kommt ihr zutiefst sakramentales Denken ins Spiel. Sakramente sind für Weil „Augenblicke der Ewigkeit“, das Band der Übereinkunft zwischen Gott und Mensch, wirkliche Berührungen Gottes mit der Welt, die sich besonders in der Schönheit zeigen. Ja, es gibt bei ihr so etwas wie eine „reale Gegenwart Gottes in allem, was schön ist.“ Sie nennt es „Sakrament der Bewunderung“.8 Auch die Freude, welche die Seele als Zustimmung zur Schönheit der Welt empfindet, kann für sie als Sakrament bezeichnet werden. Franz von Assisi war in diesem Sinn für Weil ein zutiefst sakramentaler Mensch.
Wenn Weil von Sakramenten spricht, geht sie somit über die sieben in der katholischen Kirche bekannten Sakramente hinaus. Der Heilige Geist soll die ganze Schöpfung entflammen. „Warum“ – so fragt sie einmal – „gibt es eigentlich kein Sakrament, dessen Materie das Feuer ist?“9 Interessant ist auch die sakramentale Bedeutung, die sie dem vertrauten freundschaftlichen Glaubensgespräch zuschreibt. „Warum wird die Zusammenkunft von zwei oder drei Christen in Christi Namen nicht als Sakrament gesehen?“10 Ein solches vertrautes Gespräch „mit größtmöglicher Konzentration und Aufmerksamkeit geführt“ ist für sie „genau so viel wert, wie das Beten des Breviers.“11
Auch die Eucharistie spielt eine große Rolle in ihrem Denken. Obwohl Weil die Eucharistie nie leibhaftig empfangen hat (die Messe besuchte sie allerdings schon seit 1935 häufig), hat sie eine tiefe eucharistische Spiritualität entwickelt. Der Blick auf Jesus in der konsekrierten Hostie ist für sie wie ein von Gott gewährtes Zugeständnis, „denn der Mensch kann die Fülle seiner Aufmerksamkeit nur auf einen sinnlichen Gegenstand richten“.12 Es ist der Blick auf die absolute Reinheit, auf das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg nimmt. Gott hat gleichsam seine verborgene und unfassliche Gegenwart in ein kleines Stück Brot gelegt, weil der Mensch ansonsten keine Möglichkeit hätte, der absoluten Reinheit und Schönheit selbst ins Gesicht zu sehen. „Dieses Teilchen Materie befindet sich im Mittelpunkt der katholischen Religion. Dies ist ihr größtes Ärgernis, und eben darauf beruht ihre wunderbarste Kraft.“13
Das Kreuz Christi schließlich verbindet Weil mit einem „Sakrament des Unglücks“. Ob es die armen Fischersfrauen in Portugal, die physischen Kopfschmerzen während der Karliturgie in Solesmes oder die Erfahrungen als Arbeiterin in einer Fabrik sind – immer haben der Schmerz und das Unglück für sie eine quasisakramentale Qualität. Sie vergleicht die Gegenwart Christi im Kreuz und im Unglück auch gerne mit der Eucharistie: „Wie Gott durch die Konsekration der Eucharistie in der sinnlichen Wahrnehmung eines Stückes Brot gegenwärtig ist, so ist er auch durch den erlösenden Schmerz, durch das Kreuz im äußersten Unglück anwesend.“14 Deswegen ist für sie das Kreuz auch der bevorzugte Ort der Gottunmittelbarkeit und das Verlassensein von Gott, wie Jesus es am Kreuz durchlebt hat, kein Unglück, sondern Wohltat und Gnade. Tatsächlich fühlt sie sich in diesen Momenten ganz mit Christus eins, der am Kreuz der von allen (auch von seinem Vater) am tiefsten Verlassene war.15
Die doppelte Liebe zur Schönheit der Schöpfung auf der einen sowie zu Kreuz und Leid auf der anderen Seite erklärt Weils starke Sympathie für Franziskus und Johannes vom Kreuz. Beide waren Poeten und Sänger der Schönheit und Liebe. Während aber Franziskus stärker für die Liebe zur Schönheit der Welt steht, ist Johannes vom Kreuz mit seiner Lehre der dunklen Nacht auch Gewährsmann für die Gotterfülltheit des Unglücks und Leids bis hinein in den Unglauben.
Kritik an Kirche und Christentum
Manches von dem, was Simone Weil außerhalb der Kirche hielt, ist durch die Theologie des 20. Jhs. und durch das II. Vaticanum im Sinne Weils weiterentwickelt worden. Sie hätte sich mit Sicherheit darüber gefreut, dass das Pastoralkonzil anders als die Vorgängerkonzilien kein einziges anathema sit mehr ausgesprochen hat, galt doch der Gebrauch dieser beiden kleinen Wörter für sie als das größte Hindernis für ihren Eintritt in die Kirche.16 Auch die letztlich positive Beurteilung anderer Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, besonders aber die Anerkennung eines „Strahls der Wahrheit“ in anderen Religionen wäre ganz in ihrem Sinn.17 Hätte Weil die Erklärung des Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen lesen können, wäre ihr der Schritt über die Schwelle der Kirche vermutlich leichter gefallen.18
Andere ihrer Kritikpunkte und Anfragen sind hingegen ungebrochen aktuell. Da ist zum einen die Mahnung zur Entweltlichung: Für Weil war es das Grundübel des Christentums, dass es sich zu sehr auf die Macht des Römischen Reiches eingelassen und damit die dem