de facto bezüglich des Geltungsanspruchs von Argumenten immer einen gewissen Zwang aus. Nicht einmal in einer Seminarsitzung wird dieses Ideal erreicht.45 Im Ernstfall kann es also durchaus so etwas wie eine moralische Pflicht zur Anwendung von Gewalt als „Anti-Gewalt-Gewalt“, von „Strategie-Konterstrategie“ geben. Allerdings wären deren Grenzen streng einzuhalten, denn angewendet werden darf Gewalt nur, um soweit möglich die ideale Kommunikationsgemeinschaft herzustellen. Deren Regeln sind also nicht schlechthin außer Kraft.46 Apel fasst zusammen: „Alles, was … über die normative, moralische Rechtfertigung der Zwangsbefugnisse des Rechtsstaats gesagt wurde, gilt ja nur unter der Voraussetzung, dass der Rechtsstaat wirklich funktioniert (und zwar im Weltmaßstab funktioniert); und selbst dann gilt es nur in dem Teilbereich der Lebenswelt, dessen Regelungsbedarf sich verrechtlichen lässt. Somit bleibt in wesentlichen Lebensbereichen immer noch auch der von mir … thematisierte Problembestand der politischen bzw. politisch relevanten Verantwortungsethik. Er bleibt schon deshalb bestehen, weil, wie ich eingangs betonte, jeder von uns heute im Sinne einer postkonventionellen, planetaren Makroethik jenseits aller schon bestehenden Institutionen (und Sozialsysteme) mitverantwortlich ist für die Folgen unserer kollektiven Aktivitäten. In diesem Zusammenhang sind wir z. B. auch mitverantwortlich für die – möglichst durch Konferenzen und nicht durch Gewalt – herbeizuführende Institutionalisierung einer weltbürgerlichen Rechtsordnung im Sinne Kants.“47
Schicksal und Vorsehung
Die liberalen Abstraktionen eines allein sich selbst bestimmenden Subjekts oder einer idealen Kommunikationsgemeinschaft sind folgenreich. Sie neigen beide dazu, sich als schicksalslos, ohne Zufall, ohne Vorgegebenheit, ohne geschichtliche Bestimmung, ohne soziale, physische und psychische Bedingtheit zu begreifen. Der Liberalismus konnte sich deshalb als „Emanzipation aus dem Schicksal“ verstehen.48 Seine verschwiegene Option gehört dem Abschaffen des Kontingenten. Das geschichtlich Überkommene hat immer den Anschein des Kontingenten, deshalb muss es sich rechtfertigen vor dem selbst Gewollten und selbst Hergestellten. In einer Zeit, in der an der Abschaffung des Schicksals gearbeitet wird, springt es ins Auge, dass dann doch sowohl Lessing als auch Kant die Rede von der Vorsehung für unverzichtbar halten. Welche Wirklichkeit wollen sie mit diesem, seiner Herkunft nach theologischen Begriff bewahren?
Am Ende seiner Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ mündet Lessings Argumentation in ein Gebet: „Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur lass mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. – Lass mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen zurückzugehen! Es ist nicht wahr, dass die kürzeste Linie immer die gerade ist. Du hast auf deinen Wegen so viel mitzunehmen! So viel Schritte zu tun.“49 Festzuhalten ist, dass dieser Glaube an die Vorsehung „theistisch“ und „personal“ ist. In Lessings Sicht kann die Erziehung des Individuums zu seiner intellektuellen und sittlichen Selbständigkeit, wie auch damit zusammenhängend der Geschichtsprozess des Menschengeschlechts nicht der menschlichen Vernunft als einer autonomen und substantiell gleichbleibenden Vernunft allein zugeschrieben werden. Der sehr komplexe, widersprüchliche, weil konkrete Erziehungsprozess des Individuums und erst recht des Menschengeschlechts kann nicht von seinen vielfachen Bedingtheiten absehen und auf ein abstraktes Subjekt oder eine ideale Kommunikationsgemeinschaft allein zurückgeführt werden. Erziehung ist nach Lessing in ihrer geschichtlichen Entwicklung auf so etwas wie ein „Offenbarungswissen“ und damit auf göttliche Lenkung angewiesen. Im Alten und Neuen Testament sieht er weiterführende Durchgangsstadien auf dem Weg, den die Vorsehung führt. Selbstverständlich erreicht Lessing damit noch nicht zureichend den Sachverhalt, der in der Theologie als Providenz verstanden wird.
Aber erstaunlich häufig kommt auch Immanuel Kant in seinen kleineren Schriften auf die Vorsehung zu sprechen.50 Meistens geht er von der Zweckmäßigkeit der „Natur“ aus. In ihr findet sich aber eine Weisheit, die durch die Zwietracht der Menschen hindurch doch zu einer Eintracht fortschreitet,51 eine Weisheit, die die Spezies erhält, obgleich diese selber an ihrer eigenen Zerstörung arbeitet, eine Weisheit, die nicht eine des Menschen ist, sondern die sich gerade an der durch des Menschen eigene Schuld ohnmächtig gewordenen Idee stark erweist.52 „Von ihr (nämlich der Natur, H.P.S.), oder vielmehr (weil höchste Weisheit zur Vollendung dieses Zwecks erfordert wird) [nämlich einer vollkommenen völkerrechtlichen Verfassung, H.P.S.] von der Vorsehung allein, können wir einen Erfolg erwarten, der aufs Ganze und von da auf die Teile geht, da im Gegenteil die Menschen mit ihren Entwürfen nur von den Teilen ausgehen, wohl gar nur bei ihnen stehen bleiben und auf das Ganze, als ein solches, welches für sie zu groß ist, zwar ihre Ideen, aber nicht ihren Einfluss erstrecken können: vornehmlich da sie, in ihren Entwürfen einander widerwärtig, sich aus eigenem freien Vorsatz schwerlich dazu vereinigen würden.“53 Kant nimmt also an, dass in unserer praktischen Vernunft mehr als eine Idee der Vernunft, sondern eine größere Weisheit zum Tragen kommt. Der Mensch macht in der Notwendigkeit zu handeln die Erfahrung einer Weisheit, die weit über seine Ideale hinausreicht. Diese Weisheit berücksichtigt, anders als unsere Ideale, das Kontraproduktive dieser Ideale in ihrem Vorhaben mit. Im Gang der Natur (einschließlich der Vernunft des Menschen) nimmt Kant eine Weisheit an, die durch die Vielheit unserer Entwürfe, durch unsere Zwietracht, durch die Zerstörung an unseren eigenen Lebensbedingungen hindurchgreift. Er nennt sie Vorsehung. Vorsehung wird also im Gegensatz zu unseren abstrakten Idealen gesehen. Sie wird gerade dort erfahren, wo unsere Ideale sich in der faktischen Wirklichkeit als unzureichend erweisen. Festhalten möchte ich vor allem: Für Kant hat die Vorsehung eine Führungsaufgabe im Rahmen der praktischen Vernunft. Die Vorsehung ist keine apriorische Idee der Praktischen Vernunft selber. Sie übersteigt ihre Strukturen, Ideen und Ideale. Sie kommt also „von außen“. Sie bereichert diese durch ihre Kritik und trägt so dem empirischen Versagen der Praktischen Vernunft Rechnung.
Durch die Rede von der Vorsehung machen Kant und Lessing in der Zeit, in der die Vernunft sich anschickt, sich aus dem Schicksal zu emanzipieren, darauf aufmerksam, dass das sich selbst bestimmende Subjekt und die ideale Kommunikationsgemeinschaft auch einen Ort leer zu halten haben, den ihre Ideale nicht auszufüllen vermögen.
Von Lessing und Kant ermutigt möchte ich mit Odo Marquard die Frage stellen: „Trifft es wirklich zu, dass in der gegenwärtigen Welt … das Schicksal endgültig besiegt und zu Ende ist? Oder scheint es nur so? Wird die offizielle und manifeste Tendenz zur Machensallmacht des Menschen womöglich konterkariert durch eine latente und inoffizielle Tendenz: durch die Wiederermächtigung des Fatums?“54 Marquard verweist auf zwei Erfahrungen, in denen uns das Schicksal incognito schon eingeholt hat: Erstens die Unverfügbarkeit der Vorgaben. Nicht nur unsere Sterblichkeit bezeichnet unsere Endlichkeit, sondern auch die Tatsache, „dass die Menschen nie beim Anfang anfangen. Ihr Leben ist ein Interim: wo es aufhört, ist es zu Ende; aber wo es anfängt, ist niemals der Anfang. Denn die Wirklichkeit ist – ihnen zuvorkommend – stets schon da, und sie müssen anknüpfen. Kein Mensch ist der absolute Anfang: jeder lebt mit unverfügbaren Vorgaben.“55 Auch im Machen gehen wir selbstverständlich davon aus, dass wir anderes nicht zu machen brauchen, sondern es, so wie es gemacht ist, hinnehmen müssen. So gesehen gehört das „Fatum“, oder sagen wir das Faktum, sogar – wie es Apel ausgearbeitet hat – zu den Möglichkeitsbedingungen des Handelns. Es gibt einen Bedingungszusammenhang zwischen „Schicksal“ und Menschlichkeit.