Idee, die einer Weltgeschichte als Leitfaden dienen könnte: eine apriorische Idee für eine empirische Weltgeschichte, die eine gemeinsame Verfassung, ein Völkerrecht im Auge hätte. „Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muss als möglich, und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden.“36 Wie anders soll ein endliches vernünftiges Wesen zu einem Handeln nach einem allgemeinen Plan kommen? „Wenn man indessen annehmen darf: dass die Natur, selbst im Spiele der menschlichen Freiheit, nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, so könnte diese Idee doch wohl brauchbar werden; und, ob wir gleich zu kurzsichtig sind, den geheimen Mechanism ihrer Veranstaltung zu durchschauen, so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen, wenigstens im großen, als ein System darzustellen.“37 Sie wäre eine Rechtfertigung der menschlichen Natur oder – wie Kant auch sagt – der Vorsehung. „Eine solche Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung – ist kein unwichtiger Beweggrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen. Denn was hilft’s, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreich zu preisen, … die Geschichte des menschlichen Geschlechts (aber) – ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll.“38 Um in der Geschichte den Antagonismus von Geselligkeit und Ungeselligkeit zu überwinden und zu einer Eintracht zu führen, bedarf Kant der Kategorie „Vorsehung“.
Menschenrechte und staatliche Bürgerrechte
Zur Bilanz des Liberalismus gehören neben der Rechtsgleichheit der Bürger, dem offenen Markt, der Trennung von Staat und Religion vor allem die Formulierung der Menschenrechte und das Völkerrecht. Das dürfte unbestritten sein. Aber schon ein Jahr nach der Erklärung der Menschenrechte in der Französischen Revolution hat John Burke sich kritisch, und dies auf hohem Niveau, mit ihnen auseinandergesetzt. Burkes Kritik in seinen „Betrachtungen zur Französischen Revolution“39 zielte darauf, dass Rechte ohne einen sie exekutierenden Staat nichtig sind. Rechte sind nur soviel wert, als sie sich in Verfassungen niederschlagen und eingeklagt werden können. Sonst bleiben sie Abstraktionen. Auch der Mensch mit seinen Menschenrechten bleibt ein juristisches Abstractum, wenn von seinen institutionellen Zugehörigkeiten abgesehen wird. Diese Kritik wird von Hanna Arendt aufgenommen. In ihrem großen Frühwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“40 geht sie von der Erfahrung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Mögen im 18. und im 19. Jahrhundert die Menschenrechte gegen die wachsende Staatsmacht formuliert worden sein, um den Unterdrückten ein Minimum an Rechten zu wahren, im 20. Jahrhundert tritt ein neues Problem auf: Menschen werden staatenlos gemacht. Juden, Zigeuner, Exilanten sind „displaced persons“ und verlieren damit den Charakter von Rechtssubjekten. Man hatte, „wenn man von unveräußerlichen und unabdingbaren Menschenrechten sprach, gemeint, diese seien unabhängig von allen Regierungen und müssten von allen Regierungen in jedem Menschen respektiert werden. Nun stellte sich plötzlich heraus, dass in dem Augenblick, in dem Menschen sich nicht mehr des Schutzes einer Regierung erfreuen, keine Staatsbürgerrechte mehr genießen und daher auf ein Minimum an Recht verwiesen sind, das ihnen angeblich eingeboren ist, es niemand gab, der ihnen dieses Recht garantieren konnte, und keine staatliche oder zwischenstaatliche Autorität bereit war, es zu beschützen. Wenn andererseits wie im Falle der Minderheiten, sich wirklich eine internationale Körperschaft bereit fand, diesen fehlenden Regierungsschutz zu ersetzen, fand sie sich schneller diskreditiert, als sie überhaupt Zeit hatte, ihre Maßnahmen zu ergreifen und ihre Vorschläge durchzusetzen; nicht nur stieß sie auf den Widerstand der Regierungen, die für ihre Souveränität fürchteten, sie geriet gleicherweise in Konflikt mit den Beschützten selbst, die ebenfalls einen nichtnationalen Schutz nicht anerkannten und das tiefste Misstrauen gegen eine Protektion ihrer bloßen Menschenrechte (der ‚sprachlichen, religiösen und ethnischen‘) hegten; auch sie waren der Meinung, dass die Menschenrechte nur Teile ihrer nationalen Rechte und Forderungen seien und nur mit ihnen zusammen durchgesetzt werden können.“41
In einen weiteren Disput wurde der Liberalismus in den vergangenen 30 Jahren durch den Kommunitarismus verwickelt. Darin wurde er nochmals eindringlich auf dieselbe Schwachstelle hingewiesen: das aus seinen Zugehörigkeiten und Bedingtheiten herausgelöste Subjekt. Ausgangspunkt der kommunitaristischen Kritik am Liberalismus ist die Ethik. Kant hatte zwar Hobbes’ atomistisches Single in intersubjektive und reziproke Verhältnisse eingebunden und so ein universales Prinzip ethischen Handelns gewonnen. Immer noch bleiben aber die konkreten Handlungsbedingungen unerkannt, nämlich die geschichtlichen, kulturellen, sprachlichen Bedingungen, die Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften, Kulturen und Überlieferungen. Karl-Otto Apel spricht vom „Faktizitätsapriori“42. Wohl hat Kant das Apriori der idealen Kommunikationsgemeinschaft, das „Weltbürgertum“, herausgearbeitet, aber noch nicht die damit eröffneten und verstellten Möglichkeiten einer „post-konventionalen“ Situation, die Herausforderungen und blinden Flecken, von denen der Handelnde auszugehen hat. Dies gilt insbesondere in einer Situation, in einer Gesellschaft also, für die noch keine „Konventionen“ herausgearbeitet worden sind; in der man aber andererseits auch nicht Nichthandelnder bleiben kann: eine makroethische Situation, in der die Realisierung einer Rechtsordnung im Weltmaßstab immer noch fehlt. Sie aber würde eine entsprechende Moral überhaupt erst allgemein zumutbar erscheinen lassen und mit der Ausarbeitung der Anwendungsbedingungen einer solchen Rechtsordnung erst ein „Telos“ bekommen.43 Apel hat die Lernfähigkeit des Liberalismus nochmals als Frage aufgeworfen. Er justiert mit seiner Formulierung des doppelten Apriori, das Apriori der idealen Kommunikationsgemeinschaft einerseits und das Faktizitätsapriori andererseits, den Liberalismus mit seinem nur abstrakten, ungeschichtlichen Verständnis des Handelnden und bettet ihn ein in eine Gemeinschaft, in eine Geschichte, eine Kultur und Tradition. Damit ist ein unreflektierter globaler Geltungsanspruch des Individuums problematisiert.
Zum Völkerrecht
Durch die nahöstlichen Konflikte ist die Debatte um das Völkerrecht in das grelle Licht der Öffentlichkeit getreten und in eins damit die Probleme einer „post-konventionalen“ Makroethik. Das heißt: Für die in der Politik dringend anstehenden Probleme stehen noch keine allgemein anerkannten Lösungen zur Verfügung. Während die so genannten „Konservativen“ mit kruden militärischen Mitteln hantieren, baut der Liberalismus auf den fiktionalen Konsens internationaler Körperschaften. Er geht von einem allgemeinen Friedenswillen aus, der in Kompromissen seine Konkretion und Mächtigkeit findet. Deshalb ist das Faktum der Kriege und der Gewalt die stärkste Kränkung des Liberalismus. Die „konservativen“ Denkschulen in den USA suchen daraus die Lehre zu ziehen, dass nur ein „hegemonialer Internationalismus“ die Macht hat, Frieden zu schaffen und zu erhalten. Es liegt meines Erachtens auf der Hand, dass das ideale Handlungsprinzip „Handle so, als ob du Mitglied einer idealen Kommunikationsgemeinschaft wärest“ eine vorläufig politisch nicht einholbare Abstraktion ist.44 Dieses Handlungsprinzip hat ohne Zweifel ein unabdingbares Recht als normative Unterstellung jedes moralisch verantwortbaren Handelns, es reicht aber nicht aus, weil die Kommunikationssituationen zumeist asymmetrisch sind, die Handlungspartner nicht dieselbe Unterstellung machen und dieses Prinzip jedes strategische Handeln a priori ausschließt. Für ein Handeln nach dem Ideal der Kommunikationsgemeinschaft müssten also überhaupt erst die Voraussetzungen geschaffen werden. Bezüglich der Diskurse verhält es sich ähnlich. Die Kommunikationsbedingungen