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Geist und Leben 1/2015


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Reformation welt-, kirchen- und mentalitätsgeschichtliche Resonanz. Gegenüber den weitverbreiteten Stillmessen ihrer Zeit stellen die Reformatoren „von Kult auf Kommunikation“ um.4 Nicht durch kultisches Handeln, sondern durch die Verkündigung des Wortes soll die Gegenwart mit der Geschichte Jesu Christi verbunden werden.

      Im Licht von Joh 6 wird man im Blick auf diese Konzentration des gottesdienstlichen Lebens auf das Wort dreierlei betonen müssen. Erstens: Es geht den Reformatoren um das mündliche Wort der Verkündigung. Ohne ihre Auslegung bleibt die Schrift als geschriebenes Wort toter Buchstabe. Denn nur in der Predigt erfährt der Glaube die alten Worte als ihm gegenwärtig zugesprochen. Deshalb gilt für die Reformatoren: Wenn die biblischen Lesungen nicht ausgelegt werden, dann bleibt „Gottis wort geschwygen“ (WA 12,35). Es ist die gegenwärtige Verkündigung, die „den garstigen Graben der Geschichte“ überbrückt, indem sie die Hörer(innen) in das Wort Gottes verstrickt – oder anders ausgedrückt: indem sie die Vergangenheit Jesu und die Gegenwart der Hörer(innen) so zusammenspricht, dass sie in die Gegenwart Christi versetzt werden.

      Zweitens: Die Verkündigung zielt auf die Christusbegegnung. In, mit und unter den Worten des/der Predigenden, der/die jene Worte, die Christus einst zu seinen Jüngern sprach, auslegt, soll der/die Hörer(in) die Worte Christi selbst hören. Deshalb bittet und vertraut die evangelische Predigt darum und darauf, dass Christus selbst sich zu ihr bekennt: „Du hast recht geleret, denn ich hab durch dich geredt, und das wort ist mein.“ (WA 51,517)

      Drittens: Indem das Johannesevangelium am Ende der Brotrede festhält: „Das sagte Jesus in der Synagoge, als er in Kafarnaum lehrte“ (6,59), wird deutlich, wo die Verkündigung ihren Sitz im Leben hat: in der gottesdienstlichen Versammlung. Indem die Reformation den Glauben an die Predigt bindet, bindet sie ihn zugleich in den öffentlichen Leib der Gemeinde ein. In diesem Sinne ist die Rede von der Verinnerlichung der Frömmigkeit durch die Reformation nicht zutreffend. Die Gemeinde stützt und stärkt den Glauben. Der Glaube wird im Gottesdienst nicht nur unmittelbar durch die Verkündigung gestärkt, sondern auch mittelbar durch die auf das Wort hörende Gemeinde. Indem Menschen zum Gottesdienst kommen, bekunden sie einander wechselseitig, dass sie Gottes Wort suchen, weil sie von ihm her leben, und stärken damit wechselseitig ihren Glauben.

      Reformatorische Spiritualität ist keineswegs die verinnerlichte Frömmigkeit eines isolierten Individuums. Zwar gibt es im Protestantismus auch Formen intimer Frömmigkeit, v.a. das private Studium der Schrift, aber evangelische Frömmigkeit sucht vor allem die Christusbegegnung in der Verkündigung und d.h. in der Gemeinde.

      Wort und Abendmahl

      Wenn man bedenkt, dass das Abendmahl in Joh 6 gar nicht im Blick ist, dann verliert eine abendmahlskritische Deutung von Joh 6,63 ihre Basis. Wohl aber lässt sich mit Zwingli im Anschluss an diesen Vers die Gleichwertigkeit von Abendmahls- und Predigtgottesdienst begründen. Weil „die menschlich sel von dem wort, das us dem mund gottes kumt, aller meist gespyst und läbendig wirt“ (CR 90,129), stellt der Predigtgottesdienst gegenüber dem Abendmahlsgottesdienst kein defizitäres Geschehen dar. Denn in jenem kann sich ereignen, was auch der Sinn von diesem ist, nämlich das geistliche Essen des Leibes Christi.

      Während sich dieses geistliche Essen sowohl im Predigt- als auch im Abendmahlsgottesdienst ereignen kann, ist der Abendmahlsgottesdienst dadurch ausgezeichnet, das in ihm das geistliche Geschehen durch das sakramentale Essen bezeugt wird und so sämtliche Sinne des Menschen angesprochen werden. Deshalb hat Zwingli dem Gebot Jesu entsprechend an der Feier des Abendmahls nicht nur festgehalten, sondern mit der Einführung von vier Gemeindekommunionen im Jahr die Kommunionhäufigkeit sogar erhöht. Aber gerade weil im Abendmahl Sichtbares dargereicht wird, kann es den Menschen verführen, sein Vertrauen auf Kreatürliches zu setzen und so seinen Glauben zu verlieren. Deshalb wollte Zwingli bei jeder Abendmahlsfeier Joh 6 als Evangelium vorgetragen wissen. Die Lesung hat bei ihm die Funktion, die in anderen Liturgien das Sursum corda hat: Wir sollen unsere Herzen zum Himmel erheben und auf Christus ausrichten, der das Brot des Lebens ist, das vom Himmel kommt.

      Grenzen und Aufbrüche evangelischer Spiritualität

      Im Anschluss an Joh 6 hat der Protestantismus zudem eine Hierarchisierung der biblischen Schriften vorgenommen und sich in Theologie und Frömmigkeit vor allem am Johannesevangelium und den Briefen des Paulus orientiert. Luther zog das Johannesevangelium als „das eynige zartte recht hewbt Euangelion“ den Synoptikern vor, weil es „gar wenig werck von Christo, aber gar viel seyner predigt“ beschreibt. Ausdrücklich bezog er sich dabei auf den Vers Joh 6,63: „Denn die werck hulffen myr nichts, aber seyne wort die geben das leben, wie er selbs sagt.“ (WA.DB 6,10)

      Als Folge dieser Ausblendung des Lebens Jesu hat man in evangelischer Theologie und Frömmigkeit oftmals das Kreuz vom Leben Jesu gelöst – und damit dazu beigetragen, dass heute die Kreuzestheologie vielen Menschen kaum mehr etwas sagt. Um das Kreuz zu begreifen, muss man es als Konsequenz des Lebens Jesu verstehen. Weil Jesus sich den gesellschaftlich Ausgegrenzten (den Zöllnern und Prostituierten gleichermaßen) zuwendet, erfährt er die Feindschaft derer, die die Macht im Lande haben. Indem der Sohn Gottes Gemeinschaft mit den Menschen sucht und diese dort aufsucht, wo sie ihr Leben unter der Macht der Sünde führen, nimmt er das Risiko auf sich, von diesen Menschen verstoßen und gekreuzigt zu werden. Jesus Christus aber bleibt seiner Sendung zu den Menschen bis zum äußersten, bis zum Tod am Kreuz, treu. Um dem menschgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus zu begegnen und ihn zu verstehen, brauchen wir neben den neutestamentlichen Briefen auch die Evangelien – und neben Johannes auch die Synoptiker und selbstverständlich auch das Alte Testament. Mit ihrer Konzentration auf Johannes und Paulus, aber auch das Wort vom Kreuz, steht evangelische Frömmigkeit in der Gefahr, der Fülle des Lebens Christi nicht gewahr zu werden.

      Wollt ihr auch gehen?

      In